9punkt - Die Debattenrundschau

Reinen Tisch machen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2020. 8. Mai. Die vielen Beiträge zum 75. Jahrestags des Kriegsendes machen vor allem eines deutlich: Es gibt kein gemeinsames Gedenken. In der FAZ wenden sich die Außenminister der Ukraine und der baltischen Staaten gegen die neuen Geschichtsversionen aus Russland. In der FR bezeichnet Artur Becker die Niederschlagung des Warschauer Aufstands als "zweite Völkervernichtung". In der NZZ denkt Heinrich August Winkler über Instrumentalisierungen der Geschichte nach. Außerdem: Stefanie Carp, die Leiterin der Ruhrtriennale bringt in der Nachtkritik eine leidenschaftliche Verteidigung Achille Mbembes - und fordert ein neues Nachdenken über Israel im Licht des Postkolonialismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.05.2020 finden Sie hier

Geschichte

Dmytro Kuleba, Außenminister der Ukraine, sowie Linas Linkevičius, Edgars Rinkevičs und Urmas Reinsalu, die Außenminister der blatischen Staaten, veröffentlichen in der FAZ einen gemeinsamen Text zum 8. Mai und wehren sich gegen die Geschichtslügen Wladimir Putins: "Das brutale Sowjetregime nutzte den Sieg im Krieg für viele Jahre als Rechtfertigung für seine Politik. Es eignete sich so die Taten von Millionen alliierter Soldaten und auch Soldaten der Roten Armee an, die selbst multinational war. Sowohl die sowjetischen als auch die russischen Bemühungen, das Leid und die Rolle anderer Nationen bei der Beendigung des Krieges zu verkleinern, sind inakzeptabel."

Der polnische Schriftsteller Artur Becker benutzt im Gespräch mit Christian Thomas in der FR drastische Begriffe:  "Es verbietet sich, das Wort Holocaust zu übertragen, aber gegenüber den Polen wurde eine zweite Völkervernichtung versucht." Becker beklagt in dem leider etwas chaotischen Gespräch das deutsche Unwissen über den Krieg gegen Polen und über den Warschauer Aufstand.

Erst seit 2017 gedenkt man in Israel - am 9. Mai - offiziell des Sieges über Nazi-Deutschland, denn aus jüdisch-israelischer Sicht war das relevante historische Ereignis nicht der Krieg, sondern die Shoah, eine Debatte über den Zusammenhang zwischen Krieg und Shoah blieb lange aus und die Opferrolle stand im Vordergrund, schreiben Shimon Stein und Moshe Zimmermann im Tagesspiegel. Seither galt: "Staatlichkeit, Nationalismus, Militär als Garanten des Überlebens des Volkes. Während die Europäer nach 1945 auf die Überwindung des Nationalismus setzten und das Projekt EU lancierten. (…) Dabei geht es um mehr als nur eine Gefühlslage, es geht um Politik. Israel blickt auch deshalb mit tiefer Skepsis auf die EU, weil diese transnational eingestellt ist. Man ist voller Schadenfreude, wenn das 'Experiment EU' ins Wanken gerät - wie schon beim Brexit, der Flüchtlingsproblematik und momentan im Umgang mit dem Virus."

Im SZ-Gespräch mit Detlef Esslinger erklärt der Journalist Wolf Schneider, einst Unteroffizier der Wehrmacht, weshalb er die Rede Weizsäckers "kurios" fand: "Ich selber fühlte mich durchaus nicht 'befreit', sondern einer unberechenbaren fremden Herrschaft unterworfen - wie vermutlich die meisten Deutschen. Ein Volk, das in seiner Mehrheit so was wünschte, ist noch nicht erfunden. Mein Kronzeuge ist Marcel Reich-Ranicki, der 2005 sagte, dass die Deutschen den Tag als Zusammenbruch erlebt haben."

Im großen NZZ-Interview mit Hansjörg Müller spricht der Historiker Heinrich August Winkler über die Folgen des ostdeutschen Antifaschismus bis in die Gegenwart hinein, die "neue deutsche Arroganz", die Verletzung der Grundlagen des Rechtsstaates in Ungarn und Polen und die Verharmlosung des Nationalsozialismus durch die 68er: "Die Judenvernichtung spielte in den Debatten der Achtundsechziger so gut wie keine Rolle. Sie belebten die alte, kommunistische oder vulgärmarxistische Faschismustheorie wieder, die den Nationalsozialismus lediglich als eine Erscheinungsform des Faschismus begreift und diesen wiederum vor allem als ein Regime zur Sicherung der spätkapitalistischen Gesellschaft. Die Bundesrepublik galt als spätkapitalistisch, und vieles, was dort geschah, wurde mindestens als faschistoid, wenn nicht gleich als modernisierte Neuauflage faschistischer Praktiken denunziert. Im Grunde wurde der Nationalsozialismus dadurch verharmlost."

Außerdem: In der Welt formuliert Aleida Assmann fünf Thesen zum 8. Mai - unter anderem schlägt sie vor, im Sinne der "transnationalen europäischen Erinnerung" auch den 9. Mai zu feiern, den Tag, an dem im Jahr 1950 die EWG gegründet wurde. Die Deutsche Welle bringt einen nicht sehr tiefschürfenden Text von Herfried Münkler zum Thema. In der Berliner Zeitung berichtet Ingeborg Ruthe über eine Initiative, ein Denkmal für den Stadtkommandanten Nikolai Bersarin zu errichten. Und im Perlentaucher denkt Richard Herzinger über die Aktualität des Faschismusbegriffs nach.
Archiv: Geschichte

Politik

Bei der Bekämpfung der Coronakrise gibt es keinen anderen Weg als den der internationalen Zusammenarbeit, schreibt der in Harvard lehrende ukrainisch-amerikanische Historiker Serhii Plokhy im Guardian. Er fühlt sich durch die Krise an Tschernobyl und die zunächst sehr schlechte Kommunikation der sowjetischen Regierung erinnert. Ähnlich agierte zunächst China, gestützt von der Weltgesundheitsorganisation. Und doch. Trotz aller Kritik an der WHO, so Plokhy, "lohnt es sich, daran zu erinnern, dass die Internationale Atomenergiebehörde, die seinerzeit zu Recht kritisiert wurde, weil sie die sowjetische Vertuschung von Tschernobyl zuließ, schließlich zu dem Instrument wurde, mit dem Moskau über die Geschehnisse reinen Tisch machte. Sie führte die internationalen Bemühungen an, die sowjetische Atomindustrie für die Welt zu öffnen, und half bei der Einführung von Sicherheitsstandards hinter dem Eisernen Vorhang. "
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Im Interview mit Frederik Bombusch und Petra Kohse (Berliner Zeitung) erklärt Klaus Lederer, wie in Berlin jetzt den privaten Theatern, Clubs und Varietés geholfen werden soll: "In der kommenden Woche können private Häuser, die mehr als zehn Beschäftigte haben, bei der Investitionsbank Berlin Anträge einreichen. Ziel ist, dann bis Ende des Monats die Ausgabe der Mittel hinbekommen zu haben. Wir stellen zunächst 30 Millionen Euro für drei Monate bereit. Das ist eine ordentliche Summe angesichts der Tatsache, dass es nirgendwo sonst in der Bundesrepublik so eine Art von Programm gibt. Das Geld soll Liquidität erhalten, also helfen, laufende Kosten zu decken. Es dient nicht dem Zweck, sämtliche Einnahmeausfälle auszugleichen."
Archiv: Kulturpolitik

Internet

Facebook richtet ein "Oversight-Board" ein, eine Art höchstes Gremium zur Überwachung der Community-Richtlinien, das sehr prominent besetzt ist und mit einem Budget von 130 Millionen Dollar ausgestattet wird. Das Gremium soll das letzte Wort bei Entscheidungen über Streichungen von Beiträgen haben. Der prominenteste Name im Board ist der von Alan Rusbriger, schreibt Alexander Fanta in Netzpolitik: Der ehemalige Chefredakteur des Guardian "betont, er habe sich nach reiflicher Überlegung entschieden, Teil des Boards zu werden. Dieses stelle eine bessere Alternative zu staatlichen Eingriffen dar. 'Staatliche Regulierung der Meinungsfreiheit ist fast immer problematisch', schreibt der Ex-Chefredakteur, der einem College an der Universität Oxford vorsteht. 'Die derzeitigen Regime in Ungarn, Russland, Polen, Pakistan, Brasilien oder der Türkei - um nur einige zu nennen - würden Facebook liebend gerne 'regulieren'. Wir können ahnen, was dabei verloren gehen würde.'" Fanta ist skeptisch: "Gremien wie Facebooks neues Verfassungsgericht, wie transparent es auch sein mag, fehlen die demokratische Legitimation, die echte Gerichte von Rechtsstaaten haben."

Die New York Times veröffentlicht heute eine aus Spendengeldern finanzierte ganzseitige Anzeige, in der mehr als hundert Ärzte, darunter Christian Drosten, in einem offenen Brief die Social-Media-Konzerne auffordern, Falschmeldungen strikter zu bekämpfen, berichtet Max Muth in der SZ: "Konkret fordern die Mediziner in ihrem Brief zwei Dinge: Facebook soll Menschen, denen in dem Netzwerk Fehlinformationen angezeigt wurden, konkrete Richtigstellungen von Faktencheckern zu den gesehenen Behauptungen anzeigen. Aktuell blendet Facebook nur allgemeine Hinweise ein, wo es verlässliche Informationen zum Coronavirus gibt - und das auch nur denjenigen Menschen, die auf Inhalte mit falschen Inhalten geklickt haben."
Archiv: Internet

Ideen

Stefanie Carp, die Leiterin der Ruhrtriennale, wo Achille Mbembe die Eröffnungsrede halten sollte (unsere Resümees) veröffentlicht auf Nachtkritik eine sehr persönliche und ausführliche Verteidigung Mbembes. Begeistert ist sie vor allem von seiner Argumentation, dass der heutige Kapitalismus den Kolonialismus gewissermaßen als Grundstruktur verinnerlicht habe und und dass ihm die Praxis des im Kolonialismus erprobten Ausgrenzens eingeschrieben sei. Israels Grenzmauer zu Gaza wird so zum Sinnbild eines globalen Unrechts. Carp kritisiert dann die Artikel der Mbembe-Kritiker, allerdings ohne sie namhaft zu machen. Am Ende plädiert sie dafür, dass auch der Westen im Licht der kolonialen Erfahrungen in südlichen Ländern sein Verhältnis zu Israel neu definiert: "Wir Deutschen nehmen Israel als Staat der Opfer wahr, der gegründet wurde, um den von uns Verfolgten Schutz zu gewähren. Für Menschen aus dem globalen Süden ist Israel ein Staat des Westens. Dürfen wir Menschen mit kolonialen Erfahrungen und Wahrnehmungen aus anderen Teilen der Welt Antisemitismus vorwerfen, wenn sie Israels Regierung kritisieren? Dürfen wir dann Künstler*innen und Intellektuelle aus arabischen Ländern insgesamt nicht mehr nach Deutschland einladen?" Carp protestiert auch gegen die Vorgabe des Landes NRW, BDS-Anhänger zu meiden: "Ich staune, dass ich Naomi Klein nicht nur nicht einladen, sondern noch nicht einmal zitieren darf."

Marko Martin liest für libmod.de das Buch "Das Reich des kleineren Übels - Über die liberale Gesellschaft" des französischen Philosophen Jean-Claude Michèa, der sich gewissermaßen nur zähneknirschend zum Liberalismus bekennt, weil er nach langem Suchen keine besseren Alternativen fand. In einigen Punkten sei das Buch ein Augenöffner, denn "dies ist ja ein realistisches Menetekel: Wenn die liberale Demokratie die Churchillsche Weisheit vergisst, dass sie 'die schlechteste Regierungsform ist - abgesehen von allen anderen Formen', dann erstarrt sie in Selbstgerechtigkeit und läuft Gefahr, 'nach und nach sämtliche Merkmale ihres Erzfeindes' - der totalitären Ideologie - 'zu übernehmen und sich künftig als schöne neue Welt verehren zu lassen.' Um Michéas These zusammenzufassen: das Unbehagen an ihr ist das konstitutive Merkmal einer liberalen Ordnung. Freilich neigt sie dazu, auf dieses Reflexionsniveau allzu selbstgerecht zu verweisen." Zum Trost las Martin dann noch Judith Shklars Essay "Der Liberalismus der Furcht".
Archiv: Ideen

Kulturmarkt

Die Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen (GVU) hat Insolvenz angemeldet, berichtet der Buchreport: "Anfang 2013 war der Börsenverein eine Partnerschaft mit der GVU eingegangen. Der Auftrag: Die GVU sollte im Sinne der Rechteinhaber illegale Kopien von E-Books im Internet aufspüren, strafrechtlich gegen die Betreiber entsprechender Websites vorgehen und generell für die Belange der Branche trommeln. Mehrfach stand die Kooperation jedoch auf der Kippe, weil man sich zwar auf inhaltlicher Ebene einig war, es jedoch an der Finanzierung haperte. Das entsprechende Budget sollten die Verlage bereitstellen, die sich allerdings mit Beitragszahlungen schwertaten."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Urheberrecht

Überwachung

Die Corona-App ist nicht die "Rettung", aber hilfreich, sagt der Infektionsforscher Dirk Brockmann im Zeit-Online-Gespräch. Er gibt aber zu bedenken: "Was passiert, wenn Menschen die Nachricht bekommen, dass sie mit jemandem Kontakt hatten, der sich infiziert hat? Haben sie dann Anspruch auf einen Test? Gehen sie ohne Test in Quarantäne? Bei wem müssen sie sich melden? Und noch ein Aspekt macht mir Sorgen: Wenn ich so eine Push-Nachricht bekomme, dann frage ich mich doch, welcher meiner Kontakte sich infiziert hat. In so einem Fall hätte ich auch gern Psychologinnen und Psychologen an Bord, die überlegen, was passiert, wenn ganz viele Menschen Push-Nachrichten bekommen und darüber nachdenken, wer sie gerade angesteckt haben könnte, und denen vielleicht die Schuld geben."
Archiv: Überwachung
Stichwörter: Corona-App, Corona