9punkt - Die Debattenrundschau

Bei ungehinderter Ausbreitung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2020. Aktualisiert: Neues zu Mbembe und BDS. Die Achille-Mbembe-Debatte in SZ und FR. Sonja Zekri möchte den Holocaust in der SZ aus Sicht der postcolonial studies neu betrachten. Claus Leggewie findet Mbembes Äußerungen in der FR misslich, aber sie sollten nicht vom Kampf gegen den eigentlichen Gegner ablenken. In der NZZ stellt sich Giorgio Agamben schon mal auf den Scheiterhaufen und erwartet, dass gleich jemand mit einer Lunte kommt: alles wegen Corona. Und da ist schon die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann, die in Zeit online gegen zu frühe Lockerungen plädiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.05.2020 finden Sie hier

Ideen

Nachgereicht um 10.45 Uhr: Seit der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, die Einladung Achille Mbembes zur Eröffnung der Ruhrtriennale kritisiert hat, tobt ein Streit darüber, ob Mbembes Haltung zu Israel postkolonialistisch oder schlicht antisemitisch ist, weil er den BDS unterstützt. Mbembe sieht sich verleumdet und zensiert. Er selbst hat allerdings 2018 mit dafür gesorgt, dass die israelische Psychologin Shifra Sagy von einer Konferenz in Stellenbosch, Südafrika ausgebootet wurde, weil sie Israelin ist, wie Sagy im Interview mit der Welt erzählt: "Unser Projekt, das wir in Südafrika vorstellen wollten, heißt 'Empathie gegenüber dem Anderen'. Ich bin 74, habe ein Zentrum für Konfliktforschung gegründet und arbeite seit sehr vielen Jahren zusammen mit palästinensischen Kollegen für Frieden und Versöhnung. Eine Voraussetzung dafür ist, den Anderen und seine Sichtweise zu akzeptieren. Wenn die BDS-Leute sich tatsächlich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, wie sie behaupten, sind wir das falsche Ziel. Ich kämpfe den gleichen Kampf."

Mbembe hatte zusammen mit Sarah Nuttall angekündigt, die Konferenz in Stellenbosch zu boykottieren, falls Sagy dort auftreten würde, wie man in dieser gemeinsamen Erklärung von Mbembe und Nuttall lesen kann: "We let the organisers know this morning that we would have no option but to withdraw from the conference if a satisfactory agreement was not found between the Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) movement and the Organising Committee."

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Die Debatte um Achille Mbembe zeigt SZ-Redakteurin Sonja Zekri vor allem eins: Deutschland ist in seiner Betrachtungsweise des Holocaust in einer Zeit vor den Postkolonialismusstudien stecken geblieben. Heute sympathisiere der israelische Premier Netanjahu mit Rechten wie Victor Orban, weshalb Zekri eine proisraelische Einstellung für AfD-nah zu halten scheint. Aber vor allem sollte man vielleicht nicht mehr die "Singularität des Holocaust" betonen, da dies dazu führe, argumentiert Zekri mit Alaida Assmann, "die Schoah zu isolieren und als Erinnerung abzukapseln. Das macht sie letztlich steril. Die letzten Zeitzeugen sterben. Syrer, Iraker, Eritreer aber bringen andere Traumata mit. Wer ihre Empathie für den Holocaust wecken will, muss ihre Gewalterfahrungen ernstnehmen und in Beziehung zur Schoah setzen, sonst wird man sie verlieren."

"Achille Mbembe hat tatsächlich in unklarer Begrifflichkeit und unscharfer Moralisierung eine missliche, ja verheerende Opferkonkurrenz provoziert, und seine Verteidigerinnen haben darüber großzügig hinweggesehen, weil sie ihn als Opfer einer Hexenjagd, ja rassistischen Verfolgung sehen wollten", meint dagegen Claus Leggewie in der FR. Doch sollten sich alle Seiten mäßigen und nicht in einem Streit über Opferhierarchien versinken, der den eigentlichen Gegner aus dem Blick verliere: Wo sich eine "Logik der Extermination wieder abzeichnet - und das ist bei den völkischen Nationalisten heute der Fall -, kann man nach genauer Prüfung von einer Vorläuferschaft des Holocaust im Kolonialismus und seinen Nachwirkungen in heutigen Kontexten sprechen. Und am Ende in eine Gegnerschaft zum heutigen weißen Suprematismus einmünden, der bei aller Streitlust im linken und liberalen Lager, wo man gerne den Narzissmus der kleinsten Differenz feiert, doch den zweifelsfreien Hauptgegner darstellen sollte."

In der NZZ prangert Giorgio Agamben die Medizin in der Coronakrise als "neue Religion" an, die Philosophen wie ihn, die ihr widersprächen, bald auf den Scheiterhaufen bringen könnte: "Ich weiß nicht, ob die Scheiterhaufen wieder lodern werden und Bücher auf den Index kommen, doch sicher wird das Denken derer, die weiterhin nach der Wahrheit suchen und die vorherrschende Lüge verwerfen - wie es bereits vor unseren Augen geschieht -, ausgeschlossen und beschuldigt werden, Falschmeldungen zu verbreiten (Meldungen, nicht Gedanken, denn die Meldung ist wichtiger als die Realität!). Wie in allen realen oder vorgetäuschten Notsituationen werden wir wiederum erleben, wie unwissende Menschen Philosophen verleumden und wie Schurken versuchen, von dem Unglück zu profitieren, das sie selbst verursacht haben."

Es gibt keinen Gegensatz zwischen Geisteswissenschaften, Künsten und neuen Technologien, erklärt der Philosoph Tobias Rees in der NZZ. Voraussgesetzt, man sei nicht total strukturkonservativ. Auch auf sein Drängen hin gebe es heute "Philosophie- und Kunstteams bei Element AI, Facebook und Google wie auch in den AI-Labors am Massachusetts Institute of Technology und den Universitäten von Berkeley und Stanford. ... Was wir heute brauchen, ist ein innovatives Modell für einen Lehrbetrieb, der eine neue Art von Fachleuten hervorbringt. Wir brauchen Arbeitskräfte, die anders denken, die technische und naturwissenschaftliche Sachgebiete - von KI über Mikrobiom-Forschungen und synthetische Biologie bis zum Geo-Engineering und vielen anderen Disziplinen - als philosophische und künstlerische Praktiken verstehen, die den Menschen immer neu definieren. Wir brauchen eine Art neue Bauhaus-Bewegung, aber eine, die weit über die Architektur hinausgeht."
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Europa

Deutschland hat sich für eine dezentrale Corona-App entschieden und viele Länder Europas folgen. Das heißt auch, dass Google und Apple sich durchgesetzt haben, die stets im Bündnis mit Datenschutzorganisationen zentrale Lösungen ablehnten - dezentrale Apps dürften auch von Land zu Land einen leichteren Datenaustausch ermöglichen. Ein Reporterteam von Politico berichtet, dass die Regierungen mit dieser Entscheidung nicht unbedingt glücklich sind: "Die Entscheidung in Deutschland wurde eher aus Pragmatismus als aus Überzeugung getroffen - und aus der Erkenntnis, dass Berlin bei der Entwicklung der App eng mit Apple und Google zusammenarbeiten musste, wenn die Ingenieure ernsthafte Pannen in ihrem späteren digitalen Werkzeug vermeiden wollten. Dies geht aus Gesprächen mit fast einem halben Dutzend deutscher Regierungs- und Industrievertreter hervor, die mit Politico unter der Bedingung der Anonymität sprachen. 'Wir müssen eine Diskussion darüber führen, dass Silicon Valley zunehmend Aufgaben eines Nationalstaates übernimmt', sagte ein Regierungsbeamter. 'Aber das müssen wir nicht inmitten einer Pandemie führen.'
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Medien

Es ist immer wieder erstaunlich, wo die öffentlich-rechtlichen Sender sparen, wenn sie sparen müssen. Beim NDR, der in den kommenden fünf Jahren 300 Millionen Euro einsparen muss, sind es genau die Inhalte, für die die Sender da sind, wenn man dem Bericht René Martens' in der taz glaubt. Vom "Bücherjournal" war gestern die Rede (unser Resümee). Aber es sind auch andere Informationssendungen betroffen: "Die Redaktionen müssen jetzt mit viel weniger Geld sehr viel mehr machen: ihr Onlineangebot verbessern und die lineare Sendung am Leben enthalten. (Das Medienmagazin) 'Zapp' etwa muss dabei mit einem Drittel weniger auskommen. Das Auslandsmagazin 'Weltbilder' büßt nach taz-Informationen sogar mehr als die Hälfte des Jahresetats ein, der bisher im mittleren sechsstelligen Bereich liegt. Das ist ohnehin mickrig; die durchschnittlichen Produktionskosten eines einzigen 'Tatorts' reichen für drei Jahre 'Weltbilder'." Das Jahresbudget des NDR ist nicht so einfach zu finden - hier eine Seite des Senders Zahlen und Daten. Was sie Abschaffung des "Bücherjournals" angeht, so hat Intendant Joachim Kunth laut Börsenblatt tröstende Worte gefunden.

Auch der Spiegel muss im Zeichen der Coronakrise 20 Millionen Euro einsparen, meldet Gregory Lipinski bei Meedia.
Archiv: Medien

Wissenschaft

Kann man tatsächlich sagen, dass die Corona-Maßnahmen übertrieben waren? Martin Hellwig, ehemals Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, setzt sich in der FAZ mit dem Argument auseinander, dass der Staat übervorsichtig und all zu repressiv agiert habe: "Nur wegen einer Krankheit, an der in Deutschland noch keine zehntausend Menschen gestorben sind? Es wird doch auch kein Aufhebens davon gemacht, dass Jahr für Jahr dreitausend Menschen im Straßenverkehr sterben oder vor zwei Jahren fünfundzwanzigtausend an Grippe starben! Jedoch liegen die Zahlen der Verkehrstoten und der Grippetoten Jahr für Jahr in derselben Größenordnung. Die Größenordnung der Zahlen für Covid-19-Tote bei ungehinderter Ausbreitung kennen wir nicht."

Im Interview mit Zeit online erklärt die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann, Physikerin und Spezialistin für neuronale Netzwerke, warum sie die Lockerungen der Corona-Maßnahmen in Deutschland für verfrüht hält: Sinnvoller wäre es gewesen, die Zahlen noch weiter zu drücken, bis dahin, wo eine Nachverfolgung der Ansteckungsverläufe in Einzelfällen möglich wäre, wie es in diesem Positionspapier einer Reihe von Wissenschaftlern gefordert wurde, sagt sie. Auch neue Beschränkungen erst ab 50 Neuinfektionen innerhalb von einer Woche zu erlassen, findet sie unzureichend: "Man sollte den Fokus auf solche Neuinfektionen legen, die unerwartet auftreten, die sich also nicht auf eine bekannte Infektionskette zurückführen lassen. Eigentlich sind nur solche Ansteckungen wichtig, um zu bewerten, wie gut die Epidemie unter Kontrolle ist. Infektionen von Menschen, die schon in Quarantäne sind, wenn sie Symptome entwickeln, braucht man nicht auf die 50 anzurechnen. Diese Menschen sind für das Infektionsgeschehen fast irrelevant, weil sie mit großer Sicherheit keine weiteren Personen anstecken. Das betrifft zum Beispiel früh erkannte Ausbrüche in Betrieben, aber auch in Seniorenheimen. Relevanter sind die Fälle, die neu auftauchen, ohne dass wir wissen, woher sie kommen. Basierend auf der Anzahl dieser verdeckten Neuinfektionen hätte man eine Obergrenze definieren sollen, die niedriger als 50 liegen sollte."
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Gesellschaft

Über Verschwörungstheorien wird inzwischen geredet, als seien sie selbst ein Virus. Die Psychologin Cornelia Betsch antwortet im Spiegel-online-Gespräch mit Nina Weber auf die Frage, wie man im Gespräch mit Anhängern solche Theorien argumentieren solle. "Ein wichtiger Punkt: Hört jemand anderes zu, der vielleicht nicht an die Verschwörungstheorie glaubt und den man noch schützen könnte? Für diese Zuhörer kann es wichtig sein, die Techniken aufzudecken, mit denen etwa die Wissenschaft geleugnet wird - also etwa der Bezug auf falsche Experten oder das Ignorieren, dass es einen wissenschaftlichen Konsens gibt. Das ist jedoch in Bezug auf das Coronavirus sehr schwer, denn es gibt wenig gesichertes Wissen und es ändert sich wahnsinnig schnell."
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Religion

Der ehemalige Fernsehreporter und Autor mehrerer Bücher über Islam in Deutschland Joachim Wagner plädiert in der Welt für das Prinzip "Gesprächskontakte ja, Kooperation nein" im Blick auf Islamverbände, die von ausländischen Staaten oder islamistischen Organisationen gesteuert werden: "Zumindest theoretisch besteht ein Konsens darüber, dass keine Verbände Kooperationspartner des Staates sein dürfen, deren Positionen nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sind. Was diese Position für die Praxis bedeutet, ist indes umstritten."
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