9punkt - Die Debattenrundschau

Das ganze System ist schief

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2020. In der Zeit erklärt der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung Felix Klein, warum er überhaupt keinen Anlass sieht, sich bei Achille Mbembe zu entschuldigen. Das Urteil des BVG gegen die Auslandsaktivitäten des BND, das dem BND auch im Ausland Beachtung der Grundrechte vorschreibt, wird begrüßt und kritisiert. In der NZZ erzählt die  Historikerin Ekaterina Makhotina, wie sich die Erinnerungskultur in Russland verändert. Le Monde inspiziert Michel Onfrays neue rechtsextreme Zeitschrift. Die taz versucht Entschwörung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.05.2020 finden Sie hier

Ideen

Achille Mbembe hat eine Entschuldigung vom Antisemitismusbeauftragten Felix Klein gefordert (unser Resümee). Aber der sieht das im Gespräch mit Adam Soboczynski von der Zeit überhaupt nicht ein: "Ich habe einen Themenkomplex angeschnitten, über den in den vergangenen Jahren zu wenig gesprochen wurde, und zwar auch international zu wenig. Nämlich die Frage, wie es um das Verhältnis der postcolonial studies zum Antisemitismus bestellt ist. Ganz offensichtlich kollidieren manche dieser Theorien mit unserer Erinnerungskultur, die ich als Errungenschaft ansehe. Es mag sein, dass man in anderen Ländern dafür weniger sensibilisiert ist, aber etwas aus deutscher Sicht Falsches wird doch nicht dadurch richtig, dass es von außen kommt."

Im Interview mit der SZ empfiehlt der Philosoph Alain de Botton im Umgang mit Krisen einen fröhlichen Pessimismus: "Meine Freunde fragen mich oft: Was wird noch passieren, werden wir im September von einer zweiten Infektionswelle heimgesucht? Ich sage dann: Lasst uns vom schlimmsten Fall ausgehen. Wir müssen uns vorstellen, wie wir mit einer Situation umgehen, wenn uns etwas wirklich Schreckliches widerfährt. Dann sind wir vorbereitet, wenn es wirklich dazu kommt. ... Das ist die Haltung, die wir einnehmen müssen: eine Art fröhlichen Pessimismus, gepaart mit Galgenhumor und Galgenhoffnung."

Der vollkommen durchgeknallte, einst als respektabel angesehene Philosoph Michel Onfray gründet eine Zeitschrift namens Front populaire, unter deren Autoren er ein Who's Who der extremen Rechten in Frankreich versammelt, darunter sogar Alain de Benoist, den einflussreichen Erfinder der "Neuen Rechten", berichten Lucie Soullier und Abel Mestre in Le Monde: "Fast zwanzig Jahre nachdem er eine Université populaire in Caen betrieb, um gegen die Ideen Jean-Marie Le Pens einzustehen, erhält Michel Onfray heute sogar die Salbung von dessen Erbin Marine Le Pen, die ihn in einem Tweet für 'eine positive Initiative, die mich sehr erfreut' beglückwünscht. Eine Hommage unter vielen anderen, verteidigt sich der Philosoph, der auf Distanz zu Figuren der Partei achtet."
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Überwachung

Ausländische Journalisten haben vorm Bundesverfassungsgericht gegen die anlasslose Massenüberwachung durch den BND im Ausland geklagt - und das Gericht gab ihnen in einem historischen Urteil recht, das Christian Rath für die taz erläutert: "Die Bundesregierung hielt die Klage der internationalen Journalisten für unzulässig. Die Grundrechte des Grundgesetzes gälten nur auf deutschem Boden, so ihre Argumentation. Dem hat das Bundesverfassungsgericht nun in voller Deutlichkeit widersprochen. Die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte bleibe auch dann bestehen, wenn sie im Ausland agiert." Mehr bei Netzpolitik.

Auf Zeit online ist Kai Biermann hochzufrieden mit dem Urteil: Das Bundesverfassungsgericht habe vor allem kritisiert, dass die Überwachung im Ausland zu unbestimmt und unbegrenzt sei. "Der Wunsch, alles über alle wissen zu wollen, ist damit untersagt. Es braucht zumindest einige Hinweise, bevor gesucht werden darf. Völlig ohne Anlass darf keine Überwachung sein, auch nicht die von Ausländern im Ausland. Außerdem muss sie 'auf begrenzte und differenzierte schwerwiegende Zwecke' begrenzt sein und zwar sogar 'substanziell'. Nicht jede Bedrohung rechtfertigt, Menschen auszuspionieren. Damit verbunden war auch eine Vorgabe an die Bundesregierung, genauer zu sagen, was sie eigentlich wissen will: 'Der Gesetzgeber muss die Überwachungszwecke hinreichend präzise und normenklar festlegen', heißt es im Urteil. Viele der geforderten Einschränkungen sind wegweisend, nicht nur für den BND selbst, sondern auch für die demokratische Kontrolle seiner Arbeit. Die Richter bestätigten, was Geheimdienstkontrolleure seit vielen Jahren beklagen: Die Überwachung der Überwacher ist ungenügend. Das Urteil kommt damit einer Revolution gleich."

In der Welt ist Wolfgang Büscher dagegen entsetzt: Kein Geheimdienst auf der Welt werde so stark kontrolliert wie der BND. Aber wie soll er nach diesem Urteil noch mit anderen Geheimdiensten zusammenarbeiten können, fragt Büscher: "Wenn nun der BND dieses Spiel nicht mehr auf Augenhöhe mitspielen kann, wenn es so kommen sollte, dass die geforderten neuen rechtlichen Bindungen die Auslandsaufklärung so verändern, dass er nicht mehr so liefern kann wie bisher, wenn er in den Augen seiner internationalen Partner zu einem Dienst zweiter Klasse herabsinken sollte - dann wäre das nicht bloß bitter für die Geheimdienstler, was zu verschmerzen wäre. Leider wäre es aber schlimmer. Ein Dienst zweiter Klasse hieße auch nationale Sicherheit zweiter Klasse. Wollen wir das?"

Und auch der Londoner Terrorismusexperte Peter Neumann "sieht etwa in Kriegsgebieten 'eine absurd hohe Hürde' darin, Grundrechte auch für Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft im Ausland gelten zu lassen", informiert Zeit online in einem kurzen Bericht. "'Ich weiß nicht, wie man das umsetzen soll', sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der deutsche Auslandsgeheimdienst werde so noch abhängiger von Partnerdiensten in den USA und Großbritannien."
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Geschichte

Die stark militaristisch geprägte Erinnerungskultur in Russland ändert sich, seit die Menschen Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, etwa aus der Zeit der Leningrader Blockade, ins Netz stellen, erzählt in der NZZ die Osteuropahistorikerin Ekaterina Makhotina. "In den vergangenen Jahren sind in Russland verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativgruppen entstanden, die in Online-Archiven Ich-Dokumente sammeln, ordnen und öffentlich zugänglich machen. Dazu gehören zum Beispiel das Forschungszentrum Prozhito ('Erlebt'), die Datenbank der Kriegstoten der Gesellschaft Memorial, die Datenbanken 'Unsterbliches Regiment' und 'Unsterbliche Baracke' (der Gulag-Opfer). Diese Archivquellen sind die Grundlage vieler neuer Erinnerungsformen in Russland, wie etwa der Aktion 'Letzte Adresse' und 'Rückkehr der Namen' in Erinnerung an Opfer des Stalinismus oder 'Leningrader Namen' für die Opfer der Blockade."
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Europa

Wladimir Putin versucht sich gerade mit einer neuen Verfassung weitere 16 Jahre im Amt zu geben. Aber auch Europa "erwartet noch eine schöne Überraschung", meint Michail Chodorkowskij in der SZ. "Unter zig irrwitzigen Änderungen der russischen Verfassung, die kaum davon ablenken können, dass es hier um den Erhalt der Macht Putins geht, hat sich ein kleiner Absatz darüber eingeschlichen, dass internationale Verträge nicht stets als bindend erachtet werden. ... Einfach ausgedrückt: Wir unterschreiben ein Abkommen und vereinbaren Regeln, nach denen Streitfälle gelöst werden. Aber einhalten werden wir sie nur, wenn unser Verfassungsgericht, das vollständig vom Präsidenten abhängig ist, das gutheißt."

Jeden Abend beklatschen die Briten ihr NHS, und wer nicht mitmacht, wird von wohlmeinenden Nachbarn unter Druck gesetzt, berichtet Gina Thomas in der FAZ. Dabei ist das System gar nicht so toll: "Großbritannien wies vor der Corona-Krise die höchste vermeidbare Sterblichkeit in Westeuropa auf. In den letzten Jahren traten wiederholt Beispiele eklatanter Inkompetenz zutage, am gravierendsten 2013 durch einen Untersuchungsbericht über haarsträubende Zustände an einem Krankenhaus im mittelenglischen Stafford, der die 'Kultur des NHS' verantwortlich machte für das Versagen. Dennoch halten die Briten an der Legende fest, dass die ganze Welt sie um den kostenlosen und für alle zugänglichen NHS beneide."
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Gesellschaft

Die taz macht eine zwölfseitige "Entschwörungs-taz", womit sie laut Editorial auch auf Kritik von Lesern reagiert, die die Berichterstattung der taz allzu regierungsfromm finden. Die Auslandskorrespondenten berichten über die Verschwörungstheorien der Autokraten. Zum Beispiel Russland: "Angesichts der hohen Infiziertenzahlen halten sich russische Politiker mit Virus-Äußerungen derzeit eher zurück. Für Unruhe sorgte kürzlich jedoch die Sendung 'besogon TV' (Dämonenvertreibung), die Filmregisseur Nikita Michalkow für Russlands wichtigsten Nachrichtensender Rossija24 dreht. Er zählt zu den Getreuen des Kremlchefs Wladimir Putin. Der Regisseur berichtete über den US-Milliardär Bill Gates, der beabsichtige, alle Erdenbewohner impfen zu lassen. Nur aus diesem Grund sei das Virus auch erfunden worden..."

Jan Philipp Reemtsma macht im Gespräch mit Katharina Schipkowski eine verbreitete narzisstische Störung für die Popularität der Verschwörungstheorien verantwortlich: "Die allgemeine Unsicherheit trifft auf einen Typ von Menschen, die sowieso leicht aus dem Tritt geraten. Konstitutionell Labile kompensieren, indem sie narzisstisch übersteuern, sie regredieren. Was bei Vierjährigen ganz bezaubernd ist, nämlich sich die Welt mit Unsicherheit und Narzissmus zu erschließen, ist bei Erwachsenen grässlich und gefährlich. Trump funktioniert so." Und die Demokratieforscherin Hedwig Richter spricht im Interview mit Jan Feddersen über Verschwörungstheorien und Biopolitik.

In einem Brief aus Indien für die SZ ist V. Ramaswamy ziemlich am Ende nach all den schlechten Nachrichten, aber vor allem angesichts der krassen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die die Coronakrise in Indien offengelegt hat: "Alles ist zum Vorschein gekommen: Indiens Apartheid auf der Grundlage von Kaste und Klasse; die unmenschlichen Lebensbedingungen der informellen Arbeiter in den Städten; die erschütternde wirtschaftliche Ungleichheit ... Kann Indien nach dem Ende der Pandemie so weitermachen wie bisher? Was wird aus all diesem Gift werden?"
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Politik

Amerika war nie eine Demokratie: "Das System wurde so gebaut, dass es keine Demokratie sein kann", sagt der Schriftsteller Paul Auster in einem Gespräch mit Klaus Brinkbäumer in der Zeit, in dem er seiner Verzweiflung über "Nummer 45" (Donald Trump) und die amerikanische Politik Ausdruck gibt. Auster spielt mit seinem Satz auf das amerikanische Wahlsystem an, das die bevölkerungsarmen Staaten drastisch bevorzugt und dafür sorge, "dass die Minderheit die Mehrheit regiert. Al Gore und Hillary Clinton verloren Wahlen, die sie nach absoluter Stimmenzahl gewonnen hatten. So kann ein Land nicht regiert werden. Und auch nicht mit einem Senat, in dem zwei Senatoren aus Wyoming - 580.000 Einwohner - genauso viel Macht haben wie zwei Senatoren aus Kalifornien, wo fast 40 Millionen Menschen leben. Das ganze System ist schief, es wirft uns permanent zurück."

Hiesige Antirassisten glauben, "PoC" wie die Türken und die Araber seien vor allem vom europäischen Kolonialismus malträtiert worden, dabei sind sie historisch mehr voneinander traumatisiert, was sie zur Zeit in aufwändigen Fernsehserien über die Groß- beziehungsweise Bösartigkeit (je nach Drehort) des Osmanischen Reichs ausagieren. Darüber berichtet Ali Sonay in geschichtedergegenwart.ch. Ein Beispiel ist die in Dubai gedrehte Serie "Königreiche des Feuers", wo es um die Eroberung Ägyptens durch die Osmanen geht: "Die düstere Darstellung der osmanischen Herrschaft ist .. eine unverhohlene Retourkutsche an die türkischen Serien, die derzeit das osmanische Reich in rosigen Farben zeichnen. Diese Serien sind mithin Teil politischer Propaganda, denn mit einer 'Wiederbelebung' der osmanischen Geschichte und Mythologie versucht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den türkischen Führungsanspruch über die muslimische Welt zu behaupten. Arabischen Mächten ist diese Politik ein Dorn im Auge."
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