9punkt - Die Debattenrundschau

600 Real Nothilfe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2020. In der SZ erzählt Katharina Funke, wie Jair Bolsonaro für Brasilien die Weltmeisterschaft der bestätigten Corona-Fälle erringt. Der Streit um Achille Mbembe geht weiter. Perlentaucher Thierry Chervel sieht ihn als Historikerstreit mit umgekehrten Vorzeichen. Im Deutschlandfunk polemisiert Stephan Detjen scharf gegen den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Und in der FAZ fragt Patrick Bahners, wer eigentlich die 700 afrikanischen Intellektuellen sind, die einen Aufruf für Mbembe unterzeichneten. Le Monde schildert die Angst Macrons vor einem neuen Populisten, die von einer prophetischen Serie bereits bebildert wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.05.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

In Amerika sind innerhalb von drei Monaten annähernd 100.000 Menschen am Coronavirus gestorben. Am Samstag brachte die die New York Times eine Titelseite, in der die Geschichten von tausend der Verstorbenen herausgegriffen wurden (mehr hier). Auch online hat die Zeitung eine bildliche Darstellung gefunden, um die Toten zu individualisieren. In einer unendlich lang herunterzuscrollenden Seite werden einzelne Biografien herausgegriffen:

Ausriss aus nytimes.com


Im Interview mit Zeit online kritisiert der Sozialpsychologe Harald Welzer die starke Fokussierung der Medien auf die Handvoll Demonstranten, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße ging. Der eigentliche Trend war doch ein ganz anderer, so Welzer: "Gesellschaft und Regierung sind seit Anfang März partnerschaftlich vorgegangen, ein Vorgang wechselseitigen Lernens, den man sich nur in aufgeklärten Gesellschaften vorstellen kann: Fantastisch! Diese einsichtsfähige und verzichtsbereite Haltung der weit überwiegenden Mehrheitsbevölkerung ist viel zu wenig gewürdigt worden. Darin sehe ich einen unguten Paternalismus. Dabei hätte die proaktive Haltung der Bürgerinnen und Bürger wirklich alle Aufmerksamkeit verdient, als eine beachtliche Ressource der Demokratie."

Dass so viele Menschen an Verschwörungstheorien glauben, hat auch damit zu tun, dass sie nicht verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, meint der Autor und Internetaktivist Cory Doctorow im Interview mit Zeit online: "Ich finde, wer an Verschwörungen glaubt, ist nicht per se verloren. Viele sind bloß im letzten Moment der Wahrheitssuche falsch abgebogen. Und leider können sie sich heutzutage nicht immer auf die Institutionen verlassen, die ihnen dabei helfen sollen, zwischen guter und schlechter Recherche zu unterscheiden."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Perlentaucher Thierry Chervel sieht die Mbembe-Debatte als einen Historikerstreit mit umgekehrten Vorzeichen. Nun seien es Linke, die den Holocaust relativieren, eine Tendenz, die Chervel vor allem bei den Verteidigern Mbembes auffällt: "Der Blick aus dem Süden soll Israel in ein neues Licht stellen und auf eine paradoxe Art die dunkelsten Momente der eigenen Geschichte relativieren: Es gab nicht nur den Holocaust, es gab den Kolonialismus, und Israel ist eine Kolonialmacht. Es entsteht hier ein neues, nicht wirklich klar benanntes Kontinuum, in dem sich die Verantwortung von den Deutschen auf den 'Westen' und die 'Weißen' verlagert."

Sehr scharf polemisiert im Deutschlandfunk Stephan Detjen, Chefkorrespondent im Hauptstadtstudio des Senders, gegen die Position eines Antisemitismusbeauftragten in der Bundesregierung: "Die Bundesregierung macht damit eine intellektuelle Abschottung Deutschlands zum politischen Programm. Als diskursiver Schrankenwärter setzt sich der Antisemitismusbeauftragte ein und versucht, ein in Deutschland gewachsenes Geschichtsbild gegen Irritationen von außen zu immunisieren. Politische Staatsraison wird so zur Zivilreligion und der Antisemitismusbeauftragte ihr Hohepriester."

Zornig und ausführlich antwortet Alan Posener in starke-meinungen.de auf Detjens Kommentar und besonders auf Detjens Behauptung, Mbembe solle aus dem "deutschen Diskrusraum" ausgeschlossen werden: "Mbembe wurde von höchsten Regierungsstellen und Institutionen hofiert, mit Preisen und Ehrungen überhäuft. Offensichtlich hatte sich niemand die Mühe gemacht, sein Werk zu lesen. Oder man war heimlich mit den antisemitischen Passagen einverstanden und freute sich, dass ein 'afrikanischer Wissenschaftler' das sagte, weil man sich im Zweifelsfall darauf zurückziehen könne, es sei rassistisch, einem Schwarzen Antisemitismus vorzuwerfen."

700 afrikanische Intellektuelle haben Mbembe in einem offenen Brief unterstützt, der auf der Plattform avaaz.org veröffentlicht ist, allerdings ohne die Namen der Unterzeichner, eine Merkwürdigkeit, die Patrick Bahners in der FAZ erstaunt: "Medien können bei der Pressestelle der Organisation die Einsicht beantragen. Diese Zeitung hat die Liste erhalten, gemäß den Regeln von Avaaz.org unter der Bedingung, die Namen nicht zu veröffentlichen. Wir dürfen keinen einzigen Namen nennen."

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy spricht mit Astrid Kaminski in der taz über seine Philosophie der Berührung in Corona-Zeiten, aber auch über sich selbst, inzwischen achtzigjährig und mit dem transplantierten Herz eines anderen lebend. Dass er mit Giorgio Agambens Wüten gegen die Beschränkungen nicht einverstanden ist, versteht sich da. Agamben argumentiere nicht objektiv: "Im Gegenteil. Jede Intervention des Staates, ganz gleich, um welche Geste es sich handelt, interpretiert er als Übergriff. Ich glaube, das ist eine absolut überzogene Projektion. Ich kenne ihn ja gut persönlich, auch seine Phobie vor einer Beherrschung durch moderne Technologien. Ein großer Heideggerianer in diesem Punkt. Als es darum ging, mir das Herz austauschen zu lassen, warnte er mich: Nein, mach das nicht! Das sind nichts als Dummheiten der modernen Medizin! Aber ich weiß, dass er nicht recht hatte. Ich wäre gestorben, wenn ich den Eingriff nicht unternommen hätte."

Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho unterhält sich mit Saskia Trebing in Monopol über die Kulturgeschichte er Hygiene-Idee - und er fordert, dass die gesundheitliche und politische Dimension des Begriffs klar reflektiert werden: "Schon lange vor Corona gab es die Bilder, wie Menschen, die mit Booten auf Lampedusa ankamen, von medizinischem Personal in Schutzausrüstung empfangen wurden und zuerst auf Krankheiten untersucht wurden. Das war auch schon auf Ellis Island bei den Migranten aus Europa so. Und natürlich hat das seine Berechtigung. Gleichzeitig muss man aber aufpassen, dass keine symbolische Übertragung passiert und diese Menschen als potenzielle Feinde wahrgenommen werden, weil sie Erreger mitbringen könnten."

Weiteres: In der NZZ erklärt Hoo Nam Seelman, wie man in Asien und vor allem in Korea starke Emotionen wie Hass kulturell einzuhegen pflegt.
Archiv: Ideen

Politik

In ihrem jüngsten Brief aus Brasilien an die SZ erzählt die Schriftstellerin Katharina Funke, dass Jair Bolsonaro allen Warnungen von Ärzten und Wissenschaftlern zum Trotz die Behandlung von Covid-19 mit Chloroquin empfiehlt. Inzwischen ist Brasilien auf dem Weg, "die Weltmeisterschaft der bestätigten Corona-Fälle zu gewinnen". Und es wird immer noch schlimmer: "Letzten Freitag verbrachte das ganze Land die Nacht damit, das Video eines Ministertreffens anzusehen. Die Justiz hatte es mit dem Hinweis, es sei von öffentlichem Interesse, freigegeben. Eine der zahlreichen Grausamkeiten, die das Video enthüllt, ist die Bestätigung, dass Präsident Jair Bolsonaro die Bevölkerung für einen möglichen Bürgerkrieg zwischen seinen Anhängern (der extremen Rechten) und seinen Gegnern (der Linken) bewaffnet. 'Ich will, dass alle Waffen haben', sagt er da ganz offen."

Richtig ist aber auch, dass in anderen Ländern Lateinamerikas die Infektionsraten trotz Lockdownmaßnahmen ebenfalls hochschnellen. Der Grund dafür ist, schreibt Christoph Gurk in der SZ, dass viele es sich gar nicht leisten können, sich an die Maßnahmen zu halten: "Weil sie als fliegende Händler arbeiten oder am Straßenrand Grillfleisch verkaufen. Weil sie schwarz auf dem Bau schuften oder Wohnungen putzen. Sie haben keinen Arbeitsvertrag, keine Absicherung, keine Lohnfortzahlung." In Peru leben laut Uno fast 70 Prozent der Menschen ohne Arbeitsvertrag, "in Ecuador sind die Zahlen ähnlich hoch, ebenso in Mexiko, Kolumbien, Argentinien oder eben auch in Brasilien. Fast die Hälfte der Erwerbstätigen verfügt hier nur über eine informelle Beschäftigung. 600 Real Nothilfe hat die Regierung versprochen, umgerechnet 100 Euro, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Ähnliches passiert auch in anderen Ländern der Region."

Die Terrortruppe "Islamischer Staat" verzeichnet im Irak und Syrien trotz ihres Verlusts ihrer Territorien wieder Erfolge und macht mit Selbstmordattentaten auf sich aufmerksam. Das suggeriert laut Matthias von Hein in der Deutschen Welle ein Bericht für die "Operation Inherent Resolve" (OIR), wie der US-Militäreinsatz gegen den IS genannt wird. "Die Dschihadisten haben im Moment zwei Verbündete: Zum einen das Coronavirus, zum anderen die Konflikte in der Region. Erst im März hatte der IS seine Anhänger aufgefordert, die Angriffe zu verstärken. Regierungen weltweit seien durch den Kampf gegen Covid-19 abgelenkt. Die Corona-Pandemie habe die Operation Inherent Resolve 'deutlich beeinträchtigt', heißt es auch in dem OIR-Bericht. Die vor allem aus kurdischen Kämpfern bestehenden Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) etwa haben ihre Militäroperationen eingestellt. Im Irak sind die Trainingsprogramme für die Streitkräfte auf Eis gelegt. An denen ist auch die deutsche Bundeswehr beteiligt."
Archiv: Politik

Europa

Die "Macronie" hat Angst, dass in der Coronakrise, die die Autorität des Präsidenten nicht gestärkt hat, ein bisher noch in der zweiten Reihe stehender Populist hochkommen könnte, schreibt Solenn de Royer in Le Monde. Ein Vorbild liefert die von Le Monde hochgelobte politische Canal-Plus-Serie "Baron noir", die genau so eine Geschichte erzählt. In Frage käme da etwa der Charismatiker François Ruffin, der den etwas abgehalfterten Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon ablösen könnte. "Einige Berater des Präsidenten sind um so besorgter, als die von Erik Benzekri geschriebene und im Palais de l'Elysée gedrehte Serie eine Präsidentin imaginiert, die auf einer zentralen Achse agiert ('La France unie'), eine Macron ähnliche Positionierung. Der Präsident selbst fürchtet, dass etwa ein François Ruffin eine Brücke zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten schlägt, sagt ein Chefstratege des Staatschefs im Vertrauen. Für ihn wäre er ein potenzieller Christophe Mercier (so heißt die Figur des Populisten in der Serie, d.Red.) Übrigens setzt sich Ruffin wie Mercier in Szene und lässt sich daheim in seiner Küche filmen."

Wir haben verlernt, mit dem Tod zu leben, meint die französische Philosophin Cynthia Fleury im Interview mit der NZZ. "Das zeigt sich jetzt sehr deutlich: Das Virus hat eine tiefe Letalität, 98 Prozent der Leute werden nach einer Ansteckung wieder gesund, und wir stellen 100 Prozent der Gesellschaft unter Quarantäne." Sie befürchtet, dass "die Strategie, die dem biologischen Leben und der körperlichen Gesundheit den absoluten Vorrang eingeräumt hat, auf den anderen Lebensebenen noch sehr viel zerstörerischere Auswirkungen haben wird." Ob das auch die Franzosen so sehen, die den Staat gerade verklagen "wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung, Gefährdung des Lebens oder unterlassener Hilfeleistung", wie Fleury auch erzählt?
Archiv: Europa

Wissenschaft

Dass Menschen bei der Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) immer die Oberhand behalten und also "in the loop" bleiben, ist keineswegs ausgemacht, schreibt Stefan Krempl bei heise.de unter Bezug auf die Forscherin Louise Amoore, die dargelegt habe wie die Beziehungen KI-Anwendern "geprägt würden durch ihre Kollaboration mit Algorithmen. Die Einwände der Datenforscherin beziehen sich keineswegs nur auf Operations- oder Killer-Roboter, sondern auch auf automatisierte Entscheidungssysteme wie Predictive Policing, Scoring bis hin zum chinesischen 'Sozialkreditwesen' oder die in den USA im Justizwesen eingesetzte Technik Correctional Offender Management Profiling for Alternative Sanctions (Compas), die Rückfallwahrscheinlichkeiten von Kriminellen abschätzt. Der Mensch und seine Überlebenschancen werden ihr zufolge generell immer stärker von Algorithmen abhängig."
Archiv: Wissenschaft