9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Vertrautheitslücke

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.06.2020. In der NZZ erklärt Hans Ulrich Gumbrecht, warum man den Begriff "systemischer Rassismus" in den USA wörtlich verstehen muss.  Die Coronakrise hat nationales Versagen gezeigt, das aber nicht national bekämpft werden kann, schreibt der schwedische Autor Johan Norberg in der Welt. SZ und Tagesspiegel berichten über kulturpolitische Auswirkungen der Coronakrise und das neue Hilfsprogramm der Regierung. Bei voxeurop.eu erzählt die nordirisch-protestantische Autorin Jan Carson über ihre immer größere Sympathie für Dublin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.06.2020 finden Sie hier

Politik

"Uns weißen Amerikanern den eigenen Rassismus vor Augen zu halten, wie es viele europäische Medien dieser Tage mit Herablassung empfehlen und praktizieren, ist … allzu wohlfeil", schreibt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ. Stattdessen müsse der "unsichtbare, systemische" Rassismus analysiert werden, der paradoxerweise mit der Abschaffung der Sklaverei einsetzte: Der 1865 eingeführte dreizehnte Zusatz ("Amendment") zur amerikanischen Verfassung "schaffte - im zweifellos gutgemeinten Wortlaut - 'Sklaverei oder unfreiwillige Knechtschaft ab', um sie 'als Strafe für Verbrechen' wieder einzuführen. Tatsächlich ging bald schon von einer Wirtschaft, die Millionen unbezahlter Arbeitskräfte verloren hatte, der Druck aus, möglichst viele ehemalige Sklaven durch harte Urteile für minimale Übertretungen zu unbezahlten Arbeitern ohne politische Rechte zu machen. 'Convict leasing' (zu Deutsch 'Häftlingsvermietung') war der Begriff, unter dem sich die amerikanischen Gefängnisse zum ersten Mal mit schwarzen Männern füllten. Die auf diesen Beginn zurückweisenden Statistiken unserer Gegenwart sind drastisch."

Das "klägliche Versagen" vieler US-Polizisten liegt auch an dem Mangel an Ausbildung, schreibt der Ökonom und Professor für Afrika- und Afrikanische-Diaspora-Studien Jeffrey Sommers im Tagesspiegel: "Verallgemeinert sind die meisten Polizisten in städtischen Gebieten weiß und haben kaum oder gar keine Erfahrung im Umgang mit den Bevölkerungsgruppen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Diese Vertrautheitslücke wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass jeder fünfte Polizist ein ehemaliger Soldat ist und zuvor an gewaltsamen Befriedungsbemühungen in Afghanistan oder im Irak beteiligt war. Diese Ex-Soldaten sind darauf präpariert, die von ihnen beaufsichtigte städtische Bevölkerung als Bedrohung für ihre Sicherheit zu betrachten - bestenfalls."

Während der Coronakrise ist der Ruf nach lokaler Produktion und Zentralisierung lauter geworden. In der Welt warnt der schwedische Schriftsteller Johan Norberg allerdings vor Nationalismus: "Jetzt ist internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung von Protektionismus wichtiger denn je. Womöglich will jetzt jedes Land seine eigene Beatmungsgerät-Industrie, aber zur Herstellung werden 500 einzelne Komponenten gebraucht. Werden wir in jedem Land 500 Fabriken hochziehen, um jede einzelne davon zu produzieren? In diesem Fall werden sie sicher so teuer und minderwertig sein, dass wir ebenso die eisernen Lungen aus der Sowjetzeit nutzen könnten." Nur von China abhängig zu sein, sei allerdings auch gefährlich. Norberg plädiert deshalb für "mehr Vielfalt und Flexibilität. Mehr Lieferanten, nicht weniger."

Durch die Coronakrise entstand ein "Machtvakuum" in vielen Maghreb-Staaten, von dem der IS profitieren könnte, warnt Beat Stauffer in der NZZ: "Um die Corona-Pandemie einzudämmen, haben die Behörden in diesen Ländern strenge Ausgangssperren erlassen. Diese haben Wirkung gezeigt, gleichzeitig aber die Bevölkerung schwer getroffen. Millionen von Menschen wurden faktisch in ihren Wohnungen eingesperrt, verloren aber dadurch auch ihr Einkommen. Die staatliche Nothilfe, wenn überhaupt vorhanden, konnte den Einkommensausfall nicht ausgleichen. Faktisch ist es dadurch zu einer Verelendung der ärmsten Bevölkerungsschichten in all diesen Staaten gekommen. Das oft brutale Vorgehen von Polizei und Militär, um die Ausgangssperre zu erzwingen, hat die Ablehnung gegenüber dem Staat zusätzlich verschärft."
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Gesellschaft

Als neulich die Meldungen über Corona-Infektionen in deutschen Schlachthöfen kamen, redeten alle über die Menschen. Aber niemand redet über die Tiere, schreibt Edo Reents in einem zornigen FAZ-Feuilletonaufmacher: "Man muss indes kein Vegetarier sein, um eine Vorstellung davon zu haben, wie es in Schlachthöfen zugeht, auch kein Tierschützer, dem so leicht das Attribut des Fanatischen beigegeben wird. Die Frage ist, ob, wenn man mal einen durchschnittlich profitablen Schlachthof von innen oder eine Dokumentation gesehen hat, dann noch etwas anderes in Frage kommt als Fanatismus - was dort mit Tieren gemacht wird, ist so empörend, dass man nur noch militant oder ignorant werden kann; die meisten entscheiden sich für Letzteres und verdrängen das Unrecht."
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Stichwörter: Tierschutz, Schlachthöfe, Corona

Kulturpolitik

Dass der in Schleswig-Holstein lebende freie Regisseur und Schauspieler Uwe Dag Berlin aufgrund der komplizierten Bestimmungen während der Coronakrise kaum staatliche Unterstützung erhält, ist die eine Sache. Dass er allerdings von der Künstlersozialkasse als freier Schauspieler nicht akzeptiert wird, war Christine Dössel neu, die sich mit ihm für die SZ unterhalten hat: "Dahinter steckt die Auffassung, dass freischaffende Schauspieler, wenn sie in einem Stück oder Film mitspielen, 'weisungsgebunden' sind, also den Vorgaben eines Vertrags und eines Regisseurs unterliegen. Wenn ich als Gast an die Berliner Volksbühne komme, habe ich einen Vertrag mit diesem Theater, bin abhängig und für diese Zeit auch sozialversichert. (…) Sobald man aber sozialversichert ist, hat man kein Anrecht auf KSK-Mitgliedschaft. Ich war da immer nur drin, wenn ich hauptsächlich als Regisseur gearbeitet habe. Für Regisseure gilt diese Weisungsgebundenheit nicht. Oder man tingelt als Schauspieler mit einem Solo durch die Lande."

Derweil ist für die Kulturwirtschaft ein Hilfsprogramm von einer Milliarde Euro beschlossen worden, meldet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel und erklärt die nicht weniger komplizierten Vergaberegeln: "In vier Sparten können kulturelle Einrichtungen Hilfe beantragen. 250 Millionen Euro sind dabei für 'pandemiebedingte Investitionen' vorgesehen. Das betrifft Privattheater und Kinos, Musikclubs wie Literaturhäuser oder auch Messen - überall dort müssen Innenräume Belüftungssysteme bekommen, neue Bestuhlung und Ticketing-Systeme, um die Abstandregeln umsetzen zu können. Denn diese müssen nach wie vor eingehalten werden. Strikte Hygiene ist teuer, geht es doch bei all den Vorkehrungen auch darum, die Pandemie weiter einzudämmen und es nicht zu einer zweiten Welle kommen zu lassen. In der zweiten Sparte, mit 450 Millionen Euro der größte Topf, soll künstlerische Arbeit wieder ermöglicht werden für die 'vielen kleineren und mittleren Kulturstätten und -projekte, die vor allem privatwirtschaftlich finanziert sind', wie es in der amtlichen Mitteilung heißt."

Ilya Khrzhanovsky, Regisseur des berühmt-berüchtigten "Dau"-Projekts soll, finanziert von russischen Oligarchen, ein Gedenkprojekt in Babyn Jar realisieren (unser Resümee) und plant eine performative Geisterbahnfahrt, in der die Besucher ethische Entscheidungen treffen sollen. Allerdings sorgt das Projekt jetzt für eine Menge Streit, berichtet Gerhard Gnauck in der FAZ: "Der niederländische Historiker Karel C. Berkhoff, Leiter einer Arbeitsgruppe, die die Grundlage für die Gedenkstätte ausarbeitete, nahm aufgrund 'ethischer' Bedenken seinen Abschied. Der Wiener Kurator Dieter Bogner sprach von einem drohenden 'Holocaust-Disney-Park' und gab auf, ebenso die Kiewer Geschäftsführerin Jana Barinowa; sie befürchtet, dass hier 'Memorialisierung und Marketing vertauscht werden' sollen. In einem offenen Brief forderten sechzig Intellektuelle die Entlassung Khrzhanovskys."
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Medien

Die Klage der in der AG Media organisierten deutschen Presseverlage gegen Google, die das deutsche Leistungsschutzrecht erzwingen sollte, ist von den Verlagen nun nach Jahren furchtloser Auseinandersetzung zurückgezogen worden, meldet unter anderem Zeit online: "Für den Zeitraum der Klage zwischen 2013 und 2016 hatten die Verlage Schadensersatz von bis zu einer Milliarde Euro gefordert. Die VG Media hatte ursprünglich durch das Verfahren auch herausfinden wollen, welche Umsätze Google in Deutschland generiert, um daraus Schadensersatzansprüche berechnen zu können." Man hofft jetzt auf das europäische Leistungsschutzrecht.
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Internet

Schulen sind während der Coronakrise teilweise von kommerziellen, etwa von Microsoft entwickelten Lernplattformen erobert worden, anders seht es an den Unis aus, wo Open Source dominiert, berichtet Christian Füller in der taz. Aber "obwohl sie an den Unis derzeit kaum Konkurrenz haben, fürchten die Open-Source-Anbieter einen Angriff von Microsoft und dem Videoriesen Zoom. Es bestehe 'die Gefahr, dass die deutschen Bildungseinrichtungen in Abhängigkeit von rein marktwirtschaftlich agierenden Softwarekonzernen geraten', heißt es in einer Erklärung der Vereine hinter (den Lernplattformen) Moodle, Ilias und Stud.IP. 'Die Open-Source-Bildungsplattformen stellen eine kritische Infrastruktur dar, ohne die der Lehrbetrieb an den deutschen Hochschulen nicht aufrechtzuerhalten wäre.'"
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Europa

Das Internet hat doch auch sein Gutes. Sehen konnte man das gerade in Weißrussland nach den großen und verordneten Siegesparaden zum 9. Mai, schreibt Iryna Vidanava bei voxeurop.eu: "Noch immer kann das autoritäre Regime die Bürger dazu zwingen, bei Paraden anwesend zu sein und zu marschieren, aber es hat die Kontrolle über die Informationskanäle verloren. Ganz in der sowjetischen Tradition versuchte der Staat zunächst, die Nachrichten über das Virus im Keim zu ersticken. Aber die Menschen begannen damit, ihre Erfahrungen online zu stellen, und so verbreiteten sich Berichte wie ein Lauffeuer über die sozialen Netzwerke, Messengerdienste und online-Portale." Der weißrussische Autokrat Lukaschenko hat gerade die Regierung aufgelöst und will sich trotz Corona am 9. August wiederwählen lassen, meldet die taz.

Ebenfalls bei voxeurop.eu schreibt die nordirische protestantische Autorin Jan Carson, dass sie sich angesichts der britischen Regierung so langsam aber sicher doch eher zu Dublin hingezogen fühlt, auch schon weil sie als Nordirin den irischen Pass haben darf: "Die Tatsache, dass mein irischer Pass meinen Status als EU-Bürgerin dauerhaft garantiert, hat mein Denken auch beeinflusst. Die in meinen Augen ruhige, klare politische Führung durch Varadkar und Präsident Michael D. Higgins haben mein Dilemma nur verstärkt. Wenn morgen ein Referendum über die Grenze anstünde, hätte ich riesige Bedenken, für eine langfristige Mitgliedschaft Nordirlands im UK zu stimmen. Umfragen in der letzten Zeit deuten an, dass ich damit nicht allein bin."

Weiteres: In der FAZ antwortet Gesine Schwan auf den ehemaligen Verfassungsrichter Dieter Grimm, der ebenda das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die EZB begrüßte (Unser Resümee).
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