9punkt - Die Debattenrundschau

Ein deutsches Narrativ

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2020. Nach den großen Demos gegen Rassismus geht die Debatte weiter: Es ist der Satz "I can't breathe", der den Protesten ihre Sprengkraft verlieh, schreibt der Guardian-Kolumnist Ben Okri. In Zeit online sagt Nora Bossong gar gleich eine Revolution an, und zwar eine französische. In den amerikanischen Medien ist ein Konflikt zwischen engagierter und distanzierter Berichterstattung entstanden, schreibt der New-York-Times-Kolumnist Ben Smith nach heftigem Streit in seiner Zeitung. Die Mbembe-Debatte scheitert daran, dass Deutsche nur ihre Sicht auf den Holocaust zulassen wollen, fürchtet der Dekolonisierungsforscher Ralf Michaelis in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.06.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Dass die Proteste nach dem Tod George Floyds so global und einschneidend wurden, hat auch mit dem Satz "I can't breathe" zu tun, der in Coronazeiten besonders symbolisch sei und der die Not Diskriminierter besonders einfühlbar mache, schreibt Ben Okri im Guardian: "Vielleicht können wir uns am besten einfühlen, wenn wir uns auf diesen Zustand einlassen können. 'Ich kann nicht atmen' setzt Rassismus plötzlich mit dem Entzug von Luft gleich, was er schon immer war. Früher sahen wir Rassismus, wenn wir alles sahen, als eine Minderung der Humanität eines Menschen. Aber das war immer zu vage. 'Ich kann nicht atmen' geht über die Aussage hinaus, dass Sie mich der Freiheit, der Menschlichkeit, des Respekts berauben. Es besagt: 'Ihr beraubt mich meines Rechts auf Luft zum Atmen.'"

Viel Hoffnung knüpft Christian Jakob in der taz an die europäischen  und amerikanischen Proteste gegen Rassismus am letzten Wochenende: "Minderheiten lassen sich immer weniger damit abspeisen, außen vor gelassen zu werden, wo Macht und Ressourcen sind. Ihnen hilft dabei ein demografischer Faktor: In Westeuropa und Nordamerika steigt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und damit auch der von Nichtweißen - völlig normal und nicht revidierbar in einer zusammenwachsenden Welt. Nicht nur in den USA gibt dies vielen Menschen Hoffnung, Antirassismus aus einer Position zunehmender Stärke verhandeln zu können."

Die Grünen Robert Habeck und Aminata Touré rufen ebenfalls in der taz auf, "den Rassismus zu verlernen": "Ein starkes Zeichen dafür wäre, den Begriff 'Rasse' aus dem Grundgesetz zu streichen. Er manifestiert eine Unterteilung von Menschen in Kategorien, die dem Anspruch und Geist unseres Grundgesetzes, 'Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich', widersprechen. Es gibt eben keine 'Rassen'. Es gibt Menschen."

Im Zeit-Blog Freitext erinnert Nora Bossong daran, dass die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood schon vor anderthalb Jahren bei einer Benefiz-Gala in Los Angeles eine Revolution prophezeite - Revolution wie französische Revolution, nicht wie die amerikanische: "Die Revolution in Frankreich war Endpunkt des sich zunehmend auflösenden Feudalsystems Europas, eine Auflösung, die in Frankreich durch die absolutistische Monarchie zugleich kompensiert wie beschleunigt wurde. So baute die Revolution auf den Trümmern der alten Strukturen, von denen viele sich über den Umsturz hinaus erhielten. Dazu aber haben die heutigen USA, die längst ein Ancien Régime geworden sind mit einer nach Erbprivilegien gegliederten Gesellschaft, viel mehr Ähnlichkeiten als zur vorrevolutionären Gesellschaft ihrer Vorfahren."

Wer die Militanz kritisiert, die viele Proteste gegen den Rassismus kennzeichneten, will sich einfach nicht mit dem eigentlichen Problem auseinandersetzen, meint auf Zeit online der afroamerikanische Journalist Mychal Denzel Smith. Tatsächlich zeigten diese Formen des Protests nur, "wie verzweifelt Protestierende ihre Situation einschätzen" und dass sie der Regierung die Macht entreißen wollen. Deshalb die Forderung nach Kürzungen der Gelder für die Polizei: "Die Protestierenden in den USA wollen durch ihre Forderung nach Kürzungen der Polizeietats nun auch erreichen, dass landesweit endlich wirkliche Verbrechensprävention betrieben wird. Das bedeutet: Öffentlich finanzierte Programme und Dienstleistungen sollten bestimmte Verbrechensarten schlicht überflüssig oder unattraktiv machen. Erst im Zuge der Corona-Pandemie zum Beispiel wurde in den USA eine funktionierende Gesundheitsvorsorge als eine essenzielle Aufgabe erkannt, die Menschen vom finanziellen Druck befreit, Krankheitskosten selbst tragen zu müssen und womöglich zum Begehen von Verbrechen beiträgt."

Zumindest bei der deutschen Polizei kann Ahmad Mansour im Tagesspiegel keinen Systemfehler erkennen: "In den vergangenen Jahren ist unsere Polizei deutlich 'multikultureller' geworden. Immer mehr Menschen im Polizeidienst haben einen Migrationshintergrund. Unterschiedlichkeit, auf Neudeutsch Diversity, ist auch im Polizeidienst ein wichtiges Thema. Es tut der Polizeiarbeit gut, wenn Menschen mit den verschiedensten Erfahrungen gemeinsam am gleichen Ziel arbeiten: der inneren Sicherheit." Und: "Zu der Debatte gehört auch die andere Seite der Wahrheit: Fast 20 deutsche Polizistinnen und Polizisten werden Tag für Tag im Dienst verletzt. Langgediente Polizeibeamte berichten von einer erschreckenden Respektlosigkeit, die ihnen im Alltag begegne und die immer schlimmer werde. Polizisten werden beschimpft, beleidigt und bei der Ausübung ihres Dienstes gefilmt. Drohungen sind an der Tagesordnung, selbst gegen die Familien der Beamten."

Die Schriftstellerin Katharina Funke verabschiedet sich von der SZ mit einem letzten Brief aus Brasilien. Dort wird die Situation immer absurder, schreibt sie: "Das Gesundheitsministerium informiert nicht mehr über den Verlauf der Epidemie. Die bisher verfügbaren Zahlen erfahren eine Bearbeitung, initiiert durch die Bundesregierung. Denn die beschuldigt die Gouverneure und Präfekten, die Daten aufgeblasen zu haben. Wenn man aber verfolgt, was Experten wie der Mikrobiologe Átila Iamarino sagen, weiß man, dass das Gegenteil passiert. Aufgrund mangelnder Tests korrespondieren vielerorts die Zahlen der Toten und Infizierten nicht mit der Realität."
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Ideen

Der Fehler in der Mbembe-Debatte liegt für den in der FAZ schreibenden Rechtsprofessor und Dekolonialisierungsforscher Ralf Michaels darin, dass die Deutschen ihre Sicht auf den Holocaust angeblich universalisieren wollen: "Die Kritik setzt an bei der speziellen Verantwortung der Deutschen für den Holocaust und postuliert eine daraus folgende spezifische deutsche Sicht, ein deutsches Narrativ, eine deutsche Identität und eine deutsche Verantwortung. Sie ignoriert den partikularen Ursprung dieser Sicht und macht daraus einen Universalismus. Diesen schreibt sie dann allen vor, also auch denen, die an der speziellen deutschen Erfahrung und Verantwortung nicht teilhaben."
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Medien

In der Redaktion der New York Times entstand Aufruhr, weil auf der Medienseite ein Artikel des Senator Tom Cotton erschien, der eine militärisch harte Antwort auf Ausschreitungen bei Protesten forderte (unser Resümee). Inzwischen  hat der Medienredakteur gekündigt (mehr hier). Hier drückt sich ein Konflikt in vielen News Rooms aus, schreibt der Medienkolumnist der New York Times, Ben Smith. Eine Linie, die strikte Neutralität der Redaktionen fordere, sei nicht mehr durchzuhalten, es entsteht eher ein antirassistischer Ton in der Berichterstattung, der etwa von dem Washington-Post-Journalisten Wesley Lowery verkörpert werde:  "Der Konflikt führte in den letzten Tagen zu öffentlichen Protesten bei der Times und zum Rücktritt des Chefs der Meinungsseiten am Sonntag. Im Philadelphia Inquirer trat der Chefredakteur am Samstag nach der Schlagzeile 'Gebäude zählen auch' und dem nachfolgenden Ärger in der Belegschaft zurück... Und in der Washington Post führte der Konflikt zu einer schleichenden Zerrüttung, nachdem Lowery die Zeitung zu Beginn des Jahres verließ und damit auf Drohungen des Chefredakteurs Martin Baron reagierte, der ihm Kündigung wegen seiner Tweets über Hautfarbe, Journalismus und anderer Themen androhte."
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Europa

In Russland wurden gleich zwei Gesetze erlassen, die "falsche Informationen" über die Coronakrise und das segensreiche Wirken des Putin-Regimes unter Strafe stellen, berichtet der Menschenrechtsaktivist Damir Gajnutdinow bei litprom.de: "In den zwei Monaten seit Ausbruch der Pandemie in Russland sind fünfzig Ordnungswidrigkeitsverfahren und mehr als ein Dutzend Strafverfahren wegen der Verbreitung von Falschinformationen eröffnet worden. Das Coronavirus ist das einzige Thema, das Polizei und Sicherheitsdienste jetzt interessiert. Sämtliche Kräfte der Ermittler und Staatsanwaltschaften wurden mobilisiert, um die Verbreitung von Informationen und Meinungen zu verhindern, die den offiziellen Behauptungen widersprechen, wonach der Höhepunkt der Epidemie überschritten ist, die Regierung effektiv handelt und Russland - entgegen anderslautender Erklärungen westlicher Verleumder - die Epidemie weltweit am besten bewältigt."
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Politik

In der NZZ erzählt der chinesische Autor und Dissident Liao Yiwu, wie die chinesischen Behörden die ersten Informationen über den Coronavirus unterdrückten. So wurde etwa Dr. Ai Fen, die Chefin der Notaufnahme am Wuhaner Zentralkrankenhaus, scharf verwarnt, als sie erste Informationen über das Virus veröffentlichte. Doch als sie später, als die Leute in der Notaufnahme schon tot umfielen, der Zeitschrift People ein Interview gab, war die Information nicht mehr aufzuhalten: "Es war vollkommen verrückt. Oder wie Professor Xu Zhangrun von der Tsinghua-Universität es sagte: Die Menschen waren so zornig, dass sie keine Angst mehr hatten. Zig Millionen Internet-User verbreiteten quasi mit Lichtgeschwindigkeit den Artikel, und zwar nicht nur auf Chinesisch, sondern innerhalb weniger Stunden ... in weiteren vierzig Sprachen. Außerdem in klassischem Chinesisch, in Orakelknochen-Symbolen, in Siegelschrift, in den Zeichen der Westlichen Xia-Dynastie, in Blindenschrift, auf Kantonesisch, im Sichuan-Dialekt, in Gras-Schrift, in allen möglichen Kalligrafie-Varianten, in der Kalligrafie von Mao Zedong, mittels Bar-Codes, Emojis und allen möglichen und unmöglichen Symbolen. Die Internetzensur des Parteiimperiums zappelte und versagte, das war das einzige Mal in dieser furchtbaren Pandemie, dass wir laut herauslachen konnten. Das chinesische Volk, die Menschen in China hatten auf einmal dieselbe Freiheit wie das Virus, es war eine einzigartige Überschwemmung von Redefreiheit."

Auf Zeit online denkt der Historiker Andreas Eckert darüber nach, welche Auswirkungen Corona in Afrika haben wird. Schon jetzt sei der eh fragile Arbeitsmarkt zusammengebrochen. Zwei Appelle von Achille Mbembe und von Wole Soyinka an die afrikanischen Herrscher, in der Krise zusammenzuarbeiten, sind verhallt, bedauert er: "Beide erinnern an die afrikanischen Reichtümer an Ressourcen. Beide rufen dazu auf, die Probleme nicht nationalstaatlich zu lösen, sondern für die Verbesserung der Infrastrukturen der Gesundheitssysteme oder der Mobilität auf die Zusammenarbeit der Staaten des Kontinents zu setzen. Darin sind sie durchaus vergleichbar mit den Stimmen, die in der Krise den Europäern die Chancen des Zusammenhaltens vor Augen führen. Aber die Appelle der Intellektuellen sind verpufft. Einige der autoritären Regierungen habe die Chance stattdessen genutzt, hart gegen Oppositionelle durchzugreifen. Der nigerianische Präsident hat auf Soyinka in einer Zeitung geantwortet, er verlasse sich in der Corona-Krise lieber auf Experten als auf Literaten."
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Kulturmarkt

Ab 1. Juli sollen die Mehrwertsteuersaätze von 7 auf 5 und von 19 auf 16 Prozent sinken. Die Maßnahme gilt bis 31. Dezember. Für die Buchbranche ist das allerdings eine höchst knifflige Aufgabe, unter anderem wegen der Buchpreisbindung, kommentiert das Börsenblatt. "Das offensichtliche Dilemma: Viel Aufwand, mutmaßlich keine verkaufsfördernde Wirkung einer Preissenkung um 20 oder 40 Cent, aber ein drohender politischer Schaden, wenn die ganze Buchbranche gut erkennbar den Mehrwertsteuer-Bonus für sich vereinnahmt. Der Freundeskreis der Preisbindung würde wohl nicht wachsen."
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