9punkt - Die Debattenrundschau

Paradoxe Intervention

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2020. Die Debatten über Rassismus in verschiedenen Aspekten bestimmen nach wie vor die Medien: taz und SZ feiern die Stürzung von Denkmälern ehemaliger Sklavenhalter. Laut Zeit online sind die Parteien fast schon einig, dass sie den Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz streichen wollen und suchen nach Formulierungen, um den Begriff zu vermeiden. Der Soziologe Armin Pfahl-Traughber wendet sich in hpd.de gegen eine kulturelle Aufladung des Antirassismus wie etwa in dem Begriff des "antimuslimischen Rassismus". Die Berliner Zeitung versteht J.K. Rowlings Problem mit dem "verflüssigten Frauenbegriff".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.06.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Widersprüchlich reagiert Klaus Hillenbrand in der taz auf die Frage, ob Denkmäler für ehemalige Sklavenhalter oder Kriegsverbrecher geschleift werden sollten. Einerseits sagt er: "Allein die Tatsache, dass Denkmäler ein gestriges Geschichtsbild vermitteln, kann kein Grund für ihre Zerstörung sein. Alle diese Monumente zu schleifen würde bedeuten, Geschichte zu entsorgen, sobald diese uns nicht mehr passt." Dennoch findet er, dass manche Statuen fallen sollten - "in Auftrag gegeben nicht von einer Obrigkeit, sondern im Rahmen eines demokratischen Verfahrens".  "Geschichte in ihren unvermeidlichen Blindheiten und Verirrungen grundsätzlich zu planieren, verhindert jedoch auch einen klaren Sinn für das, wovon sich eine Gesellschaft abzusetzen versucht", kommentiert Gregor Dotzauer im Tagesspiegel.

Die taz bringt ein kleines Dossier zum Thema. Aus London schreibt Daniel Zylbersztajn: "In Bristol wird nun diskutiert, was mit dem Ort passiert, an dem die Statue des Sklavenhändlers Colston stand. Inzwischen wurde sie vom Boden des Hafenbeckens geborgen. Offiziell, um nicht den Schiffsverkehr zu gefährden. Die Statue befinde sich nun einen sicheren Ort und lande wahrscheinlich im Museum, teilte die Stadt mit." Und in Belgien, dessen König Leopold II. besonders barbarisch wütete, verlangt laut François Misser die "Kampagne 'Réparons l'Histoire' (Reparieren wir die Geschichte), sämtliche Leopold-II.-Denkmäler .. zu entfernen. An der Universität Mons hat die kongolesischstämmige Studentin Marie-Fidèle Dusingize als Sprecherin der Studierenden afrikanischer Herkunft 2.500 Unterschriften dafür gesammelt, dass die Leopold-II.-Büste der Universität in einem Schrank verschwindet - mit Erfolg".

Im SZ-Feuilleton-Aufmacher feiert Alexander Menden den Sturz der Colston-Statue und anderer Denkmäler als "große symbolische Geste" mit Potenzial. Den Kritikern entgegnet er: "Ein Hauptargument britischer Kritiker der Denkmalentfernungen lautet, es handele sich um Geschichtsverfälschung, ja Zensur, manche ziehen Vergleiche mit den Bücherverbrennungen der Nazis. Man brauche die Statuen, um sich die eigene Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Dem hält etwa der Komiker Benjamin Partridge sarkastisch entgegen: 'Die Leute, die die Entfernung der Colston-Statue kritisieren, haben Recht - das Entfernen von Statuen löscht die Geschichte aus. Deshalb ist auch Hitler völlig in Vergessenheit geraten.'"

2010 gab es erstmals einen Vorstoß der Linkspartei, den Begriff der "Rasse" aus Artikel 3 des Grundgesetzes zu streichen, nun ziehen die anderen Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der AfD nach, meldet Lenz Jacobson auf Zeit Online. Strittig ist die Frage, was man stattdessen schreiben soll: "Die FDP plädiert für 'ethnische Herkunft', die Linkspartei bleibt bei ihrem Vorschlag von vor zehn Jahren. Der SPD-Innenpolitikerin Vogt ist das zu eng, sie will lieber von 'rassistischen Gründen' sprechen.  Ähnlich argumentiert auch Experte Cremer, der knapp 'rassistische' Diskriminierung per Grundgesetz verbieten lassen will. Schließlich dürfe der Schutz für Betroffene von rassistischer Diskriminierung nach dem Grundgesetz auch nicht verschlechtert werden. Das wäre insbesondere der Fall, wenn der Begriff 'Rasse' einfach nur gestrichen würde."

"Der symbolische Kniefall neueren Datums ist keine Demutsgeste, sondern eine Chiffre des Protests", schreibt Sieglinde Geisel in dlf kultur über den ursprünglich von dem Footballstar Colin Kaepernick erfundenen Kniefall während des Abspielens der amerikanischen Hymne: "Kaepernick kniete nicht vor der Nation. Er kniete vor den Werten, die von dieser Nation verletzt wurden. Er benutzte den Kniefall damit als paradoxe Intervention, ganz nach dem Motto der Bergpredigt: 'Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.' Das Paradox entwaffnet den Gegner buchstäblich: Man kann nicht gegen jemanden kämpfen, der sich niederkniet."

Wenigstens in der Berliner Zeitung nimmt Petra Kohse J.K. Rowling vor den Anfeindungen wegen ihrer Meinung zum biologischen Geschlecht  (Unser Resümee) vorsichtig in Schutz: "Es ist schwer, sich der persönlichen Aufrichtigkeit des Essays zu entziehen. Es ist leicht, als Cis-Frau selbst Beispiele zu finden, in denen man sich mit den eigenen biologischen Erfahrungen in einem so verflüssigten Frauenbegriff nicht mehr repräsentiert und auch weniger geschützt sieht. Aber den Laden zu schließen, ist ebensowenig eine Option. Das ist auch nicht Rowlings Appell. Dass die Zuschreibungen in Bewegung sind, ist unhintergehbar. Eine weltberühmte Schriftstellerin meldet Bedenken an und gestattet sich Rückfragen. Die Debatte ist aus der Nische ins Zentrum der Gesellschaft getreten."
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Internet

Fake News sind gefährlich, schreibt Tobias Gostomzyk, Professor für Medien-, Internet- und Datenschutzrecht in der Welt. Von einer staatlichen Regulierung hält er trotzdem nichts: Der Gesetzgeber sollte "seine Aktivitäten auf besonders schützenswerte Rechtsgüter wie Leib und Leben beschränken und auch hier nur punktuell eingreifen, wenn ein sehr hohes Risiko besteht. Denn sonst wäre das Risiko von Kollateralschäden zu groß. Und selbst bei einer solch begrenzten Intervention sind aus rechtlichen Gründen Verfahren vorzusehen, die dem Betroffenen erlauben, einer Kennzeichnung oder gar Löschung zu widersprechen. Denn die Meinungsfreiheit ist und bleibt ein hohes Gut. Selbst wenn mit Falschmeldungen individuelle und gesellschaftliche Zumutungen verbunden sind, verbietet sich dennoch eine staatlich veranlasste Wahrheitspolizei."
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Medien

Eine ziemlich krasse These entwickelt Philipp Oehmke in Spiegel online zur Affäre um einen Meinungsredakteur der New York Times, der nach dem Ärger über den Gastartikel eines Trump-Anhängers gegangen ist (unser Resümee). Die Idee eines neutralen Journalismus, der andere Standpunkte zulasse, sei im Trump-Zeitalter obsolet, so Oehmke. Und mehr noch: "Das Scheitern der sogenannten Mainstream-Medien an Donald Trump und seinen Anhängern liegt genau darin begründet. Donald Trump konnte überhaupt nur gewählt werden, weil die New York Times oder der Nachrichtensender CNN mit ihrem Anspruch auf journalistische Fairness den abstrusesten Faktenverdrehungen immer wieder Raum gegeben haben."

In der NZZ schreibt Sarah Pines: "Ausmerzen, wegmachen, statt die Konfrontation und den Austausch zu suchen. Aber die Demokratie, sie braucht doch die Öffentlichkeit, die Debatte, den Konflikt? Pustekuchen!, schreit die innere Stimme beim Anblick der von Hashtags und selbstgerechten Anklagen dominierten Medien in einem Amerika, das seine Geschichte lieber ins Wasser wirft, statt sich mit ihr auseinanderzusetzen und zu sagen: Ja, so war es halt."
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Stichwörter: New York Times, Trump, Donald, Cnn

Kulturpolitik

Die Kuppel des Berliner Stadtschlosses wird seit kurzem von einer Inschrift umkränzt, die besagt, dass die gesamte Menschheit vor Jesus in die Knie gehen möge (unser Resümee). Dies ist eine gewissermaßen progressive Aussage gegen den "Cäsarenwahn" absoluter Könige, meint der Kunsthistoriker Peter Stephan in der FAZ: "Denkt man die Aussage des Textes zu Ende, so lautet ihr Fazit, dass die preußischen Untertanen nicht vor dem König, sondern gemeinsam mit dem König vor Gott knien. Kein Herrscher und kein Staat darf sich zum Heilsbringer aufschwingen oder sich als Mittelpunkt der Welt betrachten." So distanziere sich Friedrich Wilhelm "sowohl von Potentaten wie Ludwig XIV., die sich als Mittler zwischen Gott und den Menschen feiern ließen, als auch von Tyrannen und Autokraten wie Robespierre und Napoleon".
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Ideen

Der Soziologe Armin Pfahl-Traughber wendet sich in hpd.de gegen eine kulturelle Aufladung des Antirassismus - wie etwa im Begriff "antimuslimischer Rassismus", in dem bestimmte religiöse oder kulturelle Traditionen einen Schutzstatus erhalten: "Diese Denkweise läuft darauf hinaus, die Berufung auf Menschenrechte selbst unter Rassismusverdacht zu stellen. Und so erklären sich auch die Gleichsetzungen, die bezogen auf Frauenrechtlerinnen und Religionskritiker mit Muslimenfeinden und Rechtsextremisten vorgenommen werden. Die Folge davon ist, dass gegenüber den gemeinten Gruppen und Kulturen menschenrechtliche Probleme nicht mehr angesprochen werden können. Denn die kritisierten Erscheinungsformen gelten als den Kollektiven eigene Wertvorstellungen."


Überhaupt zu fragen, ob es in Deutschland Rassismus gibt, findet Jagoda Marinic in der SZ etwa mit Blick auf die NSU-Morde "ungehörig". Sie fordert eine "vielstimmige Debatte über Rassismus, die den hier lebenden Minderheiten gerecht wird": "Die deutsche Debatte braucht dringend Thesen wie die des Historikers und Philosophen Achille Mbembe, der mit seinen kapitalismuskritischen Ansätzen die Möglichkeit eröffnet, globale Allianzen gegen die Unterdrückung zu bilden. Immer mehr Menschen werden, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Opfer rassistischer Unterdrückung, nicht zuletzt, weil die Verschiebung menschlicher Arbeitskraft in einer globalisierten Welt Menschenleben dehumanisiert. Die Gastarbeiter der Nachkriegszeit sind ein Beispiel hierfür, so wie heute die Ausbeutung osteuropäischer Arbeiter in den Schlachthöfen."
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