9punkt - Die Debattenrundschau

Tendenz zur Säuberung des öffentlichen Raums

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2020. In der SZ erklärt Armin Nassehi, wie es Systeme ins Stottern bringt, wenn Kultur und Sprache permanent verhandelt werden. Natürlich war Kant ein Rassist, meint Floris Biskamp im Tagesspiegel, deswegen müsse sein Denkmal noch lange nicht gestürzt werden. Wie weiß die Vernunft ist, wird auch in der taz weiter diskutiert.  Die New York Times fragt, ob es eine Überkunft zwischen Donald Trump und Mark Zuckerberg gibt. In der NZZ lernt Giorgio Agamben, in der Bank zu beten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.06.2020 finden Sie hier

Ideen

In identitätspolitischen Debatten sehr hilfreich findet der Soziologe Armin Nassehi die etwas in Vergessenheit geratene Kulturtheorie des Amerikaners Talcott Parsons (mehr hier), demzufolge Kultur und Sprache latente Muster bleiben müssten, wenn soziale Systeme funktionieren sollen, wie Nassehi in der SZ erklärt: "Wir könnten nicht miteinander sprechen, wenn wir die Bedeutung sprachlicher Symbole permanent sprachlich einholen müssten. Es könnte keine Bedeutung geben, müsste Bedeutung vollständig reflexiv sein. Uns als Menschen wechselseitig zu achten, setzt geradezu voraus, uns unseres Menschseins nicht permanent gegenseitig versichern zu müssen. Wer dem anderen sagen muss, dass er oder sie eine Person mit Menschenwürde ist, könnte auch das Gegenteil sagen. Deshalb, so Parsons, ist das Latenthalten so wichtig. Kultur schützt sich selbst durch Invisibilisierung ihrer Bedingungen."

In der NZZ denkt Giorgio Agamben ausführlich über Walter Benjamins Schrift zu "Kapitalismus als Religion" nach: "Der Kapitalismus ist also eine Religion, in welcher der Glaube - der Kredit - an die Stelle Gottes getreten ist. Anders ausgedrückt: Da die reine Form des Kredits das Geld ist, ist der Kapitalismus eine Religion, deren Gott das Geld ist. Das bedeutet: Die Bank, die nichts anderes ist als eine Maschine zur Vergabe und Verwaltung von Kredit, hat die Stelle der Kirche eingenommen, und indem sie über den Kredit verfügt, manipuliert und regelt sie den Glauben, den unsere Zeit noch in sich trägt - das knappe, unsichere Vertrauen."
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Geschichte

Eine "Orgie der Gewalt, bei der sadistische Reflexe ausgelebt werden", sieht FAZ-Autor Arnold Bartetzko im Denkmalsturz von Bristol, mit dem der Sklavenhändler Edward Colston vom Sockel gerissen wurde. Aber Bartetzko weiß auch, dass ein Denkmalsturz in Umbruchszeiten auch ein wichtiges Mittel sei, um einen Machtwechsel in Szene zu setzen. Was wird noch kommen?, fragt er sich: "Über eine Beseitigung von Goethe- oder Schiller-Standbildern dürfte vorerst zwar niemand reden. Wenn aber die Tendenz zur Säuberung des öffentlichen Raums von allen Geschichtszeugnissen, die heute Anstoß erregen oder von jemandem als beleidigend empfunden werden könnten, anhält, steht ein großer Teil des Denkmalbestands auf dem Spiel. Besser ist es, gerade die belastenden Denkmäler als Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Geschichte zu nutzen - und zwar nicht in Museen, sondern gerade im öffentlichen Raum, vor vollem Publikum. Das einfachste Mittel dazu bietet eine kommentierende Inschrift, die eine historische Einordnung vornimmt und damit Distanz zum Ausdruck bringt."

Natürlich war Immanuel Kant ein Rassist, schreibt der Soziologe Floris Biskamp im Tagesspiegel. Er habe in seiner Anthropologie die Menschheit in vier Rassen eingeteilt, ihnen verschiedenen Eigenschaften zugeschrieben und diese Theorie aktiv etwa gegen Herder vertreten. Seine Vernunft verstand er als weiße Vernunft. Aber soll man ihn deshalb vom Sockel stoßen? "Das kommt ganz darauf an, was man darunter versteht. Wenn damit gemeint ist, ihn aus dem Kanon zu entfernen, dann sollte man diese Bilderstürmerei unterlassen. Wer so mit der philosophischen Tradition umgeht, wird weder über Philosophie noch über Rassismus viel lernen können. Wenn 'vom Sockel stoßen' aber heißt aufzuhören, Kant als einen über jeden Zweifel erhabenen Heiligen zu verehren, dann sollte man den Bildersturm besser heute als morgen vollziehen - und wenn man dabei ist, könnte man auch darüber nachdenken, ob man überhaupt irgendwen in solcher Weise auf Sockel stellen muss."

Die New York Times meldet, dass die Statue, die Theodore Rossevelt flankiert von zwei indianischen Amerikanern vor dem New Yorker Museum of Natural History zeigt, abgenommen wird.

Im FAZ-Interview mit Sandra Kegel erläutert der Politologe Jan Vogler, welchen Folgen die Pest von 1348 für Europa hatte, die ungefähr ein Drittel der damaligen Bevölkerung tötete. Sie stärkte die Menschen gegenüber traditionellen Eliten, ist das Ergebnis seiner Studie: "In Gegenden, die massiv von der Pest betroffen waren, kollabierte schlicht das ganze System. Zwar gab es in verschiedenen Teilen Europas seitens der Aristokratie verzweifelte Versuche, etwa durch königliche Erlasse die Leibeigenschaft zu bewahren und die Löhne auf dem vormals niedrigen Niveau zu halten. Aber das Gesetz von Angebot und Nachfrage war so stark, dass ein regelrechter Wettbewerb um Arbeiter zwischen Landesherren und Angehörigen des niederen Adels ausbrach, der am Ende das System zusammenbrechen ließ."
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Europa

Vom Glauben an eine nachhaltige, entschleunigte Welt nach der Corona-Pandemie will die Kulturwissenschaftlerin Zsuzsa Breier in der NZZ nichts wissen: "Gefährdet sind Wirtschaft und Wachstum. Gefährdet ist die Versorgungssicherheit mancher Regionen, die Stabilität vieler Gesellschaften; gefährdet sind soziale Leistungen, die in diesem Umfang erst durch soziale Marktwirtschaft und Globalisierung ermöglicht wurden; gefährdet sind die Erfolge der Armutsbekämpfung. Dass Afrika als Folge der Pandemie eine humanitäre Katastrophe droht, gehört längst zu den möglichen Szenarien."
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Internet

Für die New York Times hat Ben Smith zu jenem ominösen Gipfeltreffen recherchiert, zu dem sich Donald Trump, Jared Kushner und Peter Thiel mit Mark Zuckerberg im Oktober 2019 getroffen hatten und das seitdem in Washington als eines der "ungelösten Rästel amerikanischer Macht" gilt. Gab es einen Handel bei diesem ? Wie andere Tech-Giganten steckte auch Facebook in einer politischen Zwickmühle: Die Demokraten hassen und misstrauen dem Netzwerk, weil es rechte Desinformation verbreitete und der Wahl Donald Trumps den Weg ebnete; die Republikaner hassen und misstrauen Facebook, weil es von kalifonischen Liberalen geführt wird und einige rechte Beiträge löschte. Aber Facebook ist dieser Falle in den vergangenen dreieinhalb Jahren entkommen, indem es sich schneller und ernsthafter als seine Konkurrenten darum kümmerte, die Konservativen zu besänftigen."
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Medien

In der taz wird weiter über die Müll-Kolumne gestritten (hier unser Resümee, hier ein Bericht in der SZ). Heute stellt sich die zuständige Redakteurin Saskia Hödl hinter ihre Autorin und attackiert jenen Teil der Redakteurin, der BPoC die Solidarität verweigere: "Es ist erstaunlich, dass diese Kolleg:innen annehmen, sie selbst seien objektiv und identitätslos. Als wären sie nicht geboren in eine Familie mit einer Geschichte, mit Erfahrungen, mit Geld oder ohne, vielleicht im Osten oder im Westen. Als würden sie die Welt nicht aus einer weißen Perspektive betrachten - als Frau, als Mann, als Person. Als könnte man sie nicht genauso einzeln auffächern in die jeweilige Sprecherposition, die für alles, was sie sagen, maßgeblich ist. Es ist eben das Private politisch, und im Grunde ist alles Identitätspolitik. Manchen erscheint es dennoch ganz hilfreich, BPoC immer wieder eine Opferhaltung zu attestieren, während sie selbst auf ihrem über die Jahre sorgfältig gemäuerten Podestchen die "neutralen" Beobachter:innen mimen." Unter anderen ZeitOnline meldet, dass jetzt Innenminister Horst Seehofer sogar Strafanzeige gegen die Kolumnistin erstatten möchte.

Klaus Helge Donath verabschiedet in der taz die russische Tageszeitung Wedomosti, die kaum noch unabhängigen Journalismus betreibt, seit der neue Chefredakteur Andrei Schmarow im März eingesetzt wurde: "Fünf stellvertretende Chefredakteure verließen daraufhin das Blatt nach langjähriger Mitarbeit. Bereits im März hatten zehn Journalisten die Arbeit bei dem Blatt quittiert. Mit einer Auflage von rund 75.000 zählte die Tageszeitung nicht zu den größten Zeitungen in Russland. Doch Wedomosti hatte Einfluss. Auf den zwei täglichen Meinungsseiten versammelte es eine Vielstimmigkeit, deren nachdenkliche Analysen mehr waren als bloße Regimekritik. Auch Philosophen, Historiker und Vertreter aus der Wissenschaft nutzten das Medium."

Immer häufiger setzen Regierungen Spionagesoftware, die angeblich der Verfolgung von Terrorismus dienen gegen Bürgerrechtler und Journalisten ein. Etwa gegen Omar Radi, einen Kritiker des marokkanischen Königshauses, wie Kai Biermann auf ZeitOnline berichtet: "Nach Recherchen von Amnesty International wurde Radi zeitweilig rund um die Uhr überwacht, jede seiner Äußerungen, jede seiner Bewegungen ausspioniert. Ein heute von Amnesty veröffentlichter Bericht zeigt, dass Radis Mobiltelefon mindestens zwischen Januar 2019 und Januar 2020 mehrfach mit einer Spionagesoftware namens Pegasus angegriffen wurde, die die israelische Firma NSO weltweit an Polizeien und Geheimdienste verkauft."
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