9punkt - Die Debattenrundschau

Sadismus am toten Objekt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2020. Im Guardian stellt Jonathan Freedland klar, dass Israel weder für den Klimawandel noch für amerikanischen Rassismus verantwortlich ist. In der Welt betont Aleida Assmann, dass sie nicht die Singularität des Holocaust infrage stellen, aber die Fixierung darauf. Die FR sieht mit der Identitätspolitik ein Regime der Affekte aufziehen. Die taz debattiert über die Polizei: Schikaniert sie Menschen mit dunklerer Hautfarbe? Oder hilft sie einem gegen die Nazi-Meute?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.06.2020 finden Sie hier

Europa

In einem inzwischen berüchtigten Tweet hat die Schauspielerin Maxine Peake den Tod von George Floyd als eine Folge israelischer Militärtechnik erklärt. Weil die Labour-Politikerin Rebecca Long-Bailey diesen Tweet unterstützte, wurde sie vom neuen Parteichef Keir Starmer als Schattenministerin gefeuert. Gut so, meint Jonathan Freedland im Guardian und erinnert daran, dass eine Labour-Ministerin auch schon mal Israel für den Klimawandel verantwortlich gemacht hat: "Egal welcher Horror sich in der Welt zuträgt, die unsichtbare Hand des einzigen Landes mit jüdischer Mehrheit muss dahinter stecken. Für lange Zeit war mein Lieblingsbeispiel eines solchen Denkens ein Stadtrat aus Washinton DC, der 2018 die heftigen Schneefälle des Tages den Rothschilds anlastete. Peake übertrifft ihn. Wer auf die USA blickt, mit ihren vierhundert Jahren rassistischer Unterdrückung und weißer Vorherrschaft, mit ihren Jahrzehnten von Polizeibrutalität, und auf den Gedanken kommt, dass die amerikanische Polizei nicht ganz allein Floyds Tod bewerkstelligen könnte, sondern die Hilfe vom weitentfernten Israel bräuchte, der verlässt die rationale Analyse und schwimmt im Fahrwasser der Verschwörungstheorie."
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Ideen

In der FR ist Christian Thomas der Furor, mit dem Denkmäler gestürzt werden, nicht geheuer. Ihm graut vor einem "Regime der Affekte", das mit der Identitätspolitik einziehe und bei dem das Argument durch die allergische Reaktion ersetzt werde: "Abgesehen davon, dass es, wie Berichte aus der Reformation oder der Französischen Revolution nahelegen, auch um so etwas wie Sadismus am toten Objekt geht, wird im Denkmalsturz nicht die Differenzierung verfolgt, sondern die Generalisierung exekutiert. Generell, so das undifferenziert-ignorante Urteil, handele es sich bei Kolumbus um einen Kolonialisten. Wobei noch unheimlicher als diese Zuschreibung ist, dass in den letzten Tagen nicht etwa ein so entsetzlicher Schlächter wie der Eroberer Mittelamerikas, Hernan Cortéz, ins Visier von Attentätern geraten ist - dafür aber Immanuel Kant. Weil man Kant kennt, weil man Kants Werk zu beherrschen glaubt?"

Kant stürzen? Niemals!, ruft Micha Brumlik in der taz und erinnert daran, wie streng der Königsberger Aufklärer mit der Unterdrückung fremder Völker ins Gericht ging: "Kurzum: Immanuel Kant hatte zwar rassistische Vorurteile, glaubte aber nicht daran, dass 'Rasseeigenschaften' angeboren und unveränderlich seien. Er war zudem ein Gegner von Leibeigenschaft wie Sklaverei und schon früh einer der schärfsten Kritiker der kolonialen Expansion europäischer Staaten."

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann antwortet in der Welt Thomas Schmid, der ihr vorgeworfen hatte, den Holocaust zu relativieren, ihm seine Singularität abzusprechen und einen Schlusstrich ziehen zu wollen (unser Resümee). Perfide findet sie das: "Die Singularität des Holocaust ist das eine, die Feststellung einer Fixierung auf diese Singularität ist etwas anderes... Im nationalen Gedächtnis der Deutschen hat durch Fixierung auf den Holocaust manches noch keinen Platz gefunden, was wirklich skandalös ist. Damit meine ich nicht die Kolonialgeschichte, die durch Mbembe Eingang in die Debatte gefunden hat, und die noch an Bedeutung gewinnen wird. Ich meine auch nicht den Gulag, den Schmid ganz am Ende seines Artikels als eines der 'beiden großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts' noch schnell in die Singularität des Holocaust mitaufnimmt. (Und da kann ich ihm nur zustimmen!) Ich meine noch ein weiteres Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, das bisher noch kaum im Bewusstsein der Gesellschaft angekommen ist: die Erinnerung an die Millionen und Abermillionen Opfer der deutschen Besatzung und des rassistischen Vernichtungskrieges in ganz Europa. Deshalb habe ich mit zwei Historikern gerade einen Antrag an den deutschen Bundestag gestellt, der die Regierung auffordert, in der Mitte Berlins 75 Jahre nach Kriegsende ein Dokumentationszentrum zu errichten, das diese Opfer würdigt."
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Geschichte

Seit längerem wird darüber diskutiert, wie Deutschland der polnischen Opfer an einem gesonderten Ort des Zweiten Weltkriegs gedenken kann. In der FAZ plädiert der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel gegen das von Aleida Assmann oben angesprochene Dokumentationszentrum (mehr hier), auch gegen den Kompromissvorschlag aus Denkmal und Lernort: "Die Spezifik des polnischen Opfers und der mit Preußen-Deutschland tiefgreifend verflochtenen Geschichte lässt es sinnvoll erscheinen, für Polen einen eigenen Ort des Gedenkens und Erinnerns zu schaffen. Aber was ist das dafür geeignete Mittel? Das Denkmal gilt, gerade unter Geschichtsdidaktikern, oft als unzeitgemäß. Keine andere Vermittlungsform verfügt jedoch über eine so starke zeichensetzende Kraft wie das Denkmal. Es verweist auf die Vergangenheit und hat zugleich eine Zukunftsbedeutung."
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Politik

Der Schriftsteller Gert Heidenreich gibt in der FR die Hoffnung auf, die USA könnten sich jemals wieder von Donald Trump erholen: "Ginge es nur um Trump und seine Klientel, könnte Europa abwarten, bis diese Plage vorübergeht. Doch Brutalität, Dummheit, Größenwahn und Willkür an der Spitze einer bis dato gut beleumundeten Weltmacht haben die Tendenz zur Pandemie. Da heißt es: Abstand halten. Die intakten europäischen Demokratien sollten nicht zusehen, wie im eigenen Haus Antieuropäer nach ihrer populistischen Propaganda auch die Methoden der Demokratiezersetzung koordinieren. Vor allem gilt es, Abschied zu nehmen von der gebetsmühlenhaft wiederholten Behauptung, die USA seien unser wichtigster Verbündeter. Politisch sind sie kein Verbündeter mehr."
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Medien

In der NZZ stellt Marc Neuman den Podcaster Joe Rogan vor, der mit einem "populär-maskulinen Kontrariertum" in den USA den Medienmarkt auf den Kopf stellt. Ein Libertärer vom Schlage Jordan Peterson interviewt er gern auch Bernie Sanders, Edward Snowden oder Elon Musk: "Heute zählt sein Youtube-Account 8,73 Millionen Follower, pro Monat erzielen seine Podcasts 190 Millionen Downloads. Selbst die Website der New York Times wird jeden Monat 'nur' doppelt so häufig aufgerufen, bei der Times arbeiten allerdings rund 4300 Angestellte. Bei Rogan sind es drei. In dieser Liga fahren Podcasts satte Profite ein. Laut Midroll, einem Netzwerk für Podcast-Werbung, blättern Werber zwischen 18 und 50 Dollar pro 1000 erreichte Hörer hin. Zum Vergleich: Youtube zahlt Leuten, die einfach ihre Inhalte auf die Plattform stellen, für 1.000 Zuschauer einige wenige Dollar."

"Ein plumper Text wird nicht dadurch raffiniert, dass man ihn als 'Satire' bezeichnet", ermahnt Heribert Prantl in der SZ die Kollegen von der taz und spart auch sonst nicht an strengen Worten zu Hengameh Yaghoobifarahs Polizei-Kolumne, die er nicht nur unbeholfen nennt, sondern auch "gehässig": "Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind wie gewaltige Ströme - nicht alles, was darin treibt, ist kostbar; nicht alles, was da schwimmt, ist sauber. Dreck bleibt Dreck, auch wenn er schwimmt."

Und in der Welt ergänzt Deniz Yücel, dass selbst Tucholsky einem Satiriker nicht alles durchgehen ließ: Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein.' Ein Satiriker, der ausblendet, dass er als Angehöriger des kulturellen Establishments, der er für gewöhnlich ist, Teil jener Verhältnisse ist, gegen die er anrennt, ist ein 'gewissenloser Hanswurst'."
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Gesellschaft

Nach der Polizeikolumne diskutiert die taz weiter. Heute berichten RedakteurInnen mit dunklerer Hautfarbe über ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit der Polizei. Jasmin Kalarickal schreibt: "Ich kann kaum zählen, wie oft ich in Deutschland anlasslos kontrolliert wurde. In EU-Grenzbereichen, am Bahnhof, im Auto, mitten auf der Straße ... Ich selbst habe nie körperliche Gewalt vonseiten der Polizei erfahren. Manche Polizist*innen haben mich abfällig behandelt, die meisten waren höflich. Trotzdem: Nur wegen der Hautfarbe immer wieder kontrolliert zu werden, hat etwas mit mir gemacht."

Felix Lee wehrt sich dagegen, einen ganzen Berufsstand zu verdammen: "Als Lokalreporter hatte ich 2001 über einen Neonazi-Aufmarsch zu berichten. Nach dem Aufmarsch sah ich mich plötzlich von einer Gruppe Neonazis umzingelt. Einer schlug mir mit der Faust seitlich an den Kopf. Eine Polizistin, die das gesehen hatte, eilte sofort herbei und stellte sich dazwischen. Sie hatte sich selbst in Gefahr gebracht, denn Verstärkung rückte erst kurze Zeit später an. Wäre sie nicht gewesen - ich wäre nicht nur mit einem blauen Auge davongekommen."
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Stichwörter: Polizeigewalt, Hautfarbe, Faust