9punkt - Die Debattenrundschau

Hermeneutische Gegenoffensive

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2020. Nach den Kommunalwahlen in Frankreich freut sich Libération über die Wiederherstellung der politischen Lager von Rechts und Links. Die NZZ überlegt, ob sich die Polizeigewalt vielleicht nicht gegen Schwarze, sondern gegen Arme richtet. Mit drei weißen Frauen in der Chefredaktion steht die taz auf einmal ganz schön gestrig dar, erkennt die Berliner Zeitung. Die FR  blickt auf die prekäre Situation von Frauen und Männer im Kulturmarkt. Und während sich in Deutschland Presseverlage mit Google zusammentun, trennt sich die New York Times in den USA von Apple News
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.06.2020 finden Sie hier

Europa

Bei den Kommunalwahlen in Frankreich haben die Grünen in etlichen großen Städten gewonnen, darunter Lyon, Bordeaux, Strasbourg und Marseille, andere wurden von den Sozialisten gehalten oder erobert wie Paris, Nantes, Rennes und Montpellier). In Libération wagt Laurent Joffrin es kaum zu glauben: Die Linke ist noch gar nicht tot! "Nach den Europawahlen schien La République en marche die großen Städte zu beherrschen, die Grünen blieben minoritär, die klassische Linke schien zum Untergang verurteilt und die Rechte nach dem Fall zerschlagen. Nach einem chaotischen Wahlkampf formiert sich wieder der alte Gegensatz von Rechts und Links, und alles hat sich gedreht." Bei Le Monde herrscht vor allem Erschrecken über die geringe Wahlbeteiligung. 59 Prozent der Wählerinnen und Wähler sind  zu Hause gebliebn: Hatten sie Angst, sich mit dem Virus anzustecken? Wollten sie der Politik zeigen, dass sie den Sinn eines dreimonatigen Wahlkampfs nicht verstehen, der erst unter dem Schwert der Ausgangssperre, dann unter dem Abstandsgebot stattfand? Wollten sie ihr wachsenden Desinteresse an egal was für einem Wahlprozess zeigen? Das Ergerbnis alarmiert allein aufgrund seiner hohen Zahl."

Vor einem halben Jahr noch drohte Ankara, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Dass jetzt sanftes Säuseln zu vernehmen ist, wundert Can Dündar auf ZeitOnline nicht: "Erst im letzten Jahr erreichten die Einkünfte aus dem Tourismus erneut das Niveau von vor sechs Jahren, denn das seit 2013 aufgebaute Repressionsregime hatte die Touristenzahlen aus dem Westen sinken lassen. Erdoğan meinte, da seien ja auch noch die Iraner, Araber und Russen. In den vergangenen beiden Jahren, in denen er sich Putin annäherte, war die Anzahl russischer Touristen merklich angestiegen. Während 2016 mit vier Millionen die meisten Touristen aus Deutschland kamen, übernahm 2017 Russland mit sechs Millionen Platz eins. Im vergangenen Jahr kamen sieben Millionen Russen, dagegen fünf Millionen Deutsche. Dann aber änderten die Pandemie und die erneute Abkühlung der Beziehungen zu Moskau alles. Jetzt ist Erdoğan wieder auf Deutschlands Unterstützung und auf deutsche Touristen angewiesen."

Im Tagesspiegel beobachtet Sophie Wennerscheid, Professorin für dänische Literatur in Kopenhagen, wie stark das Interessen der Dänen an Deutschland abgenommen hat: "Dass der große Nachbar im Süden der wichtigste Handelspartner ist und in den dänischen Medien auf Deutschland als führende Kraft in Europa verwiesen wird, ändert nichts an der Tatsache, dass Deutschland als kulturelle Größe stark an Bedeutung verloren hat. Heute geben die angloamerikanischen Länder den Ton an. Selbst die Deutschland-Ausstellung wurde aus Großbritannien eingekauft."
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Gesellschaft

Einige wenige schwarze Intellektuelle warnen davor, dass sich die "Black-Lives-Matter"-Bewegung durch "obsessiven identitätspolitischen Aktivismus" die Substanz nehme, darunter der Ivy-League-Professor John McWhorter, schreibt Marc Neumann in der NZZ: "Dass schwarze Männer (95 Prozent der durch Polizeischusswaffen Getöteten sind männlich) mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit betroffen sind als weiße Männer, erklärt McWhorter mit einer sozioökonomischen Entsprechung. Denn es leben ebenso zweieinhalbmal mehr Afroamerikaner (rund 20 Prozent) als Weiße (rund 9 Prozent) in Armut. Armut erhöht Kriminalitätsraten, dies führt zu Strafregistereinträgen, was wiederum die Disqualifikation für ganze Berufsfelder nach sich zieht. Mit derlei Argumenten hebt McWhorter den Diskurs von sozioethnischer Ungleichheit aus dem identitätspolitischen Reich lose bestimmter Begriffe wie 'Rasse' oder '(Anti-)Rassismus', um ihn im Begriffsschema der Klasse zu verankern. Der Rassenkonflikt wird somit (wieder) zum Klassenkampf, der empirisch untersucht und durch politische und soziale Massnahmen korrigiert werden kann."

"Brutale, linksradikale Demonstrationen gegen Polizisten" gehören in den meisten westlichen Ländern, auch durch mediale Unterstützung, zum "guten gesellschaftlichen Ton", meint die Publizistin Bettina Röhl ebenfalls in der NZZ. Und einen Schuldigen hat sie auch schon gefunden: "Natürlich ist die spätere Karriere eines Polizistentreters wie Joschka Fischer auch ein Beitrag zur Entwertung der Polizei. Und die historischen und personellen Linien zur Politik von heute sind da."
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Kulturmarkt

"Gut gezählt ist halb verwaltet", weiß Petra Kohse in der FR und blickt auf die von der Bundesregierung beauftragte Studie "Frauen und Männer im Kulturmarkt" (mehr hier), derzufolge es 719.106 selbstständig Tätige im Kulturbereich gibt, knapp die Hälfte sind Mini-Selbstständige, verdienen also nicht mehr als 17.500 Euro im Jahr, wie Kohse erklärt: "Rund 100.000 dieser Selbstständigen sind als Künstler und Publizisten in der KSK versichert. Was nicht heißt, dass es nur 100.000 Künstler und Publizisten im Land gäbe. Wer tatsächlich brotlos ist, darf hier nicht rein, wer das meiste Geld im Ausland verdient, auch nicht. Bestverdiener unter den KSK-Versicherten sind die Librettisten mit 49.000 Euro jährlich, also gut 4.000 Euro im Monat brutto. Am wenigsten verdienen die Konzeptkünstler, die kaum mehr als 900 Euro im Monat mit ihrer Arbeit einnehmen - und lediglich etwas weniger als diese Summe hinzuverdienen dürfen, wenn sie ihren Versichertenstatus als hauptberufliche Künstler nicht verlieren wollen. Librettistinnen übrigens bringen es nur auf etwa 1.125 Euro im Monat. Haben sie weniger Ideen, werden sie weniger beschäftigt oder von den Opernhäusern übers Ohr gehauen?"
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Politik

Das Ziel von Putins Geschichtsrevisionismus (Unser Resümee) ist es, den Machtverlust durch den Zerfall der Sowjetunion so weit wie möglich "wettzumachen", schreibt der Grünen-Politiker Ralf Fücks in der Welt: "Er reklamiert die Rückkehr Russlands in den Kreis der Mächte, die das Geschick Europas und der Welt lenken." Putins Arrangement zwischen den Großmächten ist Fücks alles andere als geheuer: "Es ist ein Spaltpilz für die Europäische Union wie für die Nato, und es ist ein Rückfall hinter eine normative Ordnung. In Europa scheint vor allem der französische Präsident anfällig für Putins Offerten. Frankreich als Mitspieler im Konzert der Großen - auch das ist gefährliche Nostalgie. Macron hat bereits einen strategischen Dialog mit Moskau eröffnet und träumt von einem 'Europa von Lissabon bis Wladiwostok'. Dass er Europa aus dem transatlantischen Bündnis lösen möchte, ist kein Geheimnis. Putin gefällt das sehr. Wir sollten uns keinen Illusionen über eine europäische Autonomie hingeben: Ohne Rückbindung an Amerika rutscht Europa noch stärker in das Gravitationsfeld des Kremls."

Offenbar weil der Internationale Strafgerichtshof in den Haag gegen amerikanische Soldaten ermittelt, die in Afghanistan Kriegsverbrechen begangen haben soll, hat Donald Trump per präsidialer Anordnung das Gericht zu einer "unüblichen und außerordentlichen Bedrohung" erklärt. In der FR stellen sich Claus Kreß die Nackenhaare auf: "Mit seinem Dekret stellt er den zur Ahndung von Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskriegen berufenen Weltstrafgerichtshof im US-amerikanischen Recht auf eine Stufe etwa mit transnationalen Terrororganisationen und mit Vereinigungen, die sich der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verschrieben haben."
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Geschichte

Alljährlich wird am 1. Juli  in den Niederlanden der Abschaffung der Sklaverei in Surinam 1863 gedacht, erzählt Tobias Müller in der taz, eingebürgert hat sich dafür der surinamische Begriff keti koti (gesprengte Ketten). Rund 550.000 Menschen waren auf niederländischen Schiffen aus Westafrika nach Amerika gebracht worden, erinnert Müller und befragt Aktivisten, die gar nicht mehr so unzufrieden scheinen: "Einerseits, findet Marian Markelo, verändert sich in letzter Zeit die Art, wie in den Niederlanden über Kolonialismus und Sklaverei diskutiert wird. 'Was daran liegt, dass mehr jüngere Intellektuelle dabei allmählich andere Perspektiven aufzeigten und ihren Platz in dieser Debatte einforderten.' Beigetragen hat dazu auch das NiNsee-Institut, als wissenschaftliches Pendant des Monuments im Oosterpark gegründet. Marian Markelo sitzt dort im Vorstand und kümmert sich um die Bereiche Bildung und Gedenken. Auch dass Mark Rutte, der Premierminister, vor einigen Wochen zugab, dass es in den Niederlanden durchaus institutionellen Rassismus gebe, bemerkt sie als einen ersten Schritt. 'Endlich gehen die Ohren auf, denk ich mir dann. Wir sagen das schon lange, aber dann heißt es: 'Das ist nur in eurem Kopf!' Aber für Veränderung braucht es auch Taten. '"

Die Jugoslawienkriege der Neunzigerjahre sind die "Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts", schreibt Kai Burckhardt in einem großen Essay in der Welt - auf sie zurückzuführen sei ein "vulgärer Nationalismus, die Aufwertung der Privatsphäre zum politischen Raum für politisch nicht repräsentierte Gruppen und schließlich ein politischer Irrationalismus, dessen offensichtlichster Vertreter Donald Trump ist": "Wir können heute sehen, dass unser Blick auf Flüchtlinge, Muslime, die USA und die Nato, aber auch unsere Einstellung zu Parteien, Medien und Journalismus durch die Jugoslawienkriege umbewertet und im Koordinatensystem von 'gut' und 'böse' erheblich verschoben wurden. Wir können ferner erkennen, dass wichtige politische Gruppen infolge der Bürgerkriege ins Private abgedrängt wurden und Schattenideologien ausformten. Nur dort, im Privaten - ohne das Korrelat einer aufgeklärten Öffentlichkeit und von dieser weitgehend unbemerkt - konnten sich die Denkformen zu dem gefährlichen, politischen Irrationalismus entwickeln, unter dem die Welt heute leidet und die das Internet dann nur noch an die Oberfläche zurückgeholt hat."
Archiv: Geschichte

Medien

Google will einigen Presseverlagen (Spiegel, FAZ, Zeit) Geld dafür zahlen, dass es Inhalte auf seiner News-Seite anzeigt. (Unser Resümee) Doch nur auf den ersten Blick sieht das dem Leistungsschutzrecht ähnlich, gegen das sich Google seit Jahren wehrt, berichten Elisa Britzelmeister und Max Muth in der SZ, die eine solche Vereinbarung nicht getroffen hat: "Ein Unterschied zwischen Leistungsschutzrecht und der neuen Vereinbarung von Google: Der Konzern kann detailliert mitbestimmen, wie die Zusammenarbeit mit Verlagen konkret aussieht. Es ist nicht abwegig, dass der Konzern durch den Deal mit einigen Verlagen den politischen und juristischen Druck abzumildern versucht. Ob Google pro Artikel zahlen wird und wie viel Geld genau fließt, dazu äußern sich auf SZ-Anfrage weder Google noch die Verlage. Aus einem großen deutschen Medienhaus heißt es laut Reuters, der Betrag sei angemessen: 'Nicht zu viel, aber auch nicht Peanuts.'"

In Nieman' Lab meldet unterdessen Ken Doctor, dass sich die New York Times aus Apple News zurückzieht: "'Es ist an der Zeit, unsere Beziehungen zu allen großen Plattformen auf den Prüfstand zu stellen', sagt NYT-COO Meredith Levien: 'Wir überprüfen sie anhand dreier Grundfragen, die miteinander verbunden sind, aber im Verhältnis zu den einzelnen Player unterschiedlich gestaltet.' Leviens drei Fragen sind: 'Welche Rolle spielt der Konzern dabei, der Times Publikum zu bringen? Welche Rolle spielt der Konzern dabei, uns in unserem Hauptziel weiterzubringen, das heißt einen direkten Bezug zu den Menschen zu erreichen, so dass sie sich an die Zeitung binden und bezahlen? Wer zieht welchen Nutzen aus der Verbindung: Wie erkennen die Konzerne den Wert an, den unsere Investition in echten Journalismus für sie bedeutet?"

Mit drei Frauen in der Chefredaktion stand die taz bisher vorbildlich dar - bis zur Affäre um die Polizei-Kolumne der Autorin Hengameh Yaghoobifarah. Jetzt besteht die Chefetage aus weißen Frauen, bemerkt Harry Nutt, der selbst auch so seine Erfahrungen gemacht, mit leichter Verzweiflung in der Berliner Zeitung: "Selbst in der debattenerprobten Tageszeitung taz scheint derzeit kaum jemand zu wissen, wie man auf die sichere Seite kommt. Nach Seehofers Intervention nämlich setzte eine hermeneutische Gegenoffensive ein, die Yaghoobifarahs Kolumne als legitime Reaktion vielfacher Diskriminierungserfahrung deuteten und ihr somit eine ganz andere Wahrheit attestierten."

Ein Streit um Worte ist immer auch ein Streit um Absichten und Ziele, schaltet sich die Dichterin Ulla Hahn in der FAZ in die Diskussion um Hengameh Yaghoobifarahs Polizei-Kolumne ein. Hahn plädiert für Achtsamkeit im Umgang mit der Sprache, wird aber bestimmt auf Yaghoobifarahs Zustimmung stoßen: "'Kannst du denn ein Wort so benutzen, wie du es willst?', fragt Alice aus Lewis Carrolls 'Alice im Wunderland' den verrückten Hutmacher. Und der antwortet: 'Die Frage ist nicht, was ein Wort wirklich bedeutet. Die Frage ist, wer Herr ist und wer nicht.' Diktatoren waren und sind sich der Macht der Sprache stets bewusst. Lenin, der sich viel mit Sprachfragen beschäftigt hat, kam zu dem Schluss: 'Die wesentliche Voraussetzung für die Zerstörung bestehender Ordnungen ist die Zerstörung der Sprache.'"

Weiteres: Die NZZ veröffentlicht eine Rede, die der Psychologie Steven Pinker bei der Jahreskonferenz der Heterodox Academy hielt und in der er erläutert, weshalb es kein "postfaktisches Zeitalter" gibt: "Politiker haben immer gelogen. Im Krieg, heißt es, sterbe die Wahrheit zuerst, und das kann genauso für die Politik gelten."
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