9punkt - Die Debattenrundschau

Wir alle sind keine Opfer der Umstände

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2020. Großes Thema Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Über die Krise sind sich alle einig. Aber gibt es einen Ausweg? Würden vier Stiftungspräsidentinnen mit vier Pressesprecherinnen besser funktionieren, fragt die FAZ. Und natürlich Antirassismus in allen Schattierungen: Slavoj Zizek wirft den Demonstranten in der NZZ vor, auf perverse Weise unsere Schuld zu genießen. Elisabeth von Thadden gibt in der Zeit Ratschläge, wie wir uns als "verstrickte Subjekte" unseres "white Privilege" bewusst werden können. In der taz erinnert Erich Rathfelder an das Massaker von Srebrenica, das die letztlich erfolgreiche ethnische Reinigung besiegelte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.07.2020 finden Sie hier

Europa

Bitter liest sich die Erinnerung des taz-Korrespondenten Erich Rathfelder an das Massaker von Srebrenica, das vor 25 Jahren stattfand und das nur der Höhepunkt einer Genozidpolitik war - es sind allerdings nur bosnische Serben dafür vor Gericht gestellt worden, die Drahtzieher aus Serbien kamen davon, so Rathfelder: "EU-Politiker schweigen dazu, man fordert lieber von den Opfern, sich mit den Tätern zu versöhnen. Wie kann das aber gehen, wenn die Täter ungestraft die Verbrechen leugnen? Wenn sie Kriegsverbrecher als Kriegshelden bejubeln. Wenn sie die Überlebenden von Srebrenica verhöhnen, die bereit sind, ihre Hand zur Versöhnung auszustrecken. Die Sprache des Hasses und der Unversöhnlichkeit wurde in den letzten Jahren sogar wieder stärker." Und letztlich hatte die serbische Politik Erfolg: "Srebrenica und Zepa sind heute Teil der sogenannten Republika Srpska. Die Resultate der ethnischen Säuberungen werden bis heute als Tatsache akzeptiert."

Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri), die zum Europarat gehört, hatte der Bundesregierung empfohlen, eine Studie zu "Racial Profiling" in der Polizei in Auftrag zu geben, die Horst Seehofer dann als unnötig erachtete (unser Resümee). Im Gespräch mit  Konrad Litschko von der taz erklärt die Juristin Maria Marouda von der Ecri: "Ecri vergleicht keine Länder. In dem EU-Report von 2017 gibt es aber Zahlen  zu allen EU-Ländern. Dort zeigt sich, dass Befragte mit Subsahara-Background vor allem in Österreich, Italien oder Deutschland ethnische Kontrollen gegen sich angaben. Daher glauben wir, dass es in Deutschland nötig ist, hier weitere Erkenntnisse zu gewinnen durch eine eigene Studie, wie sie zuletzt etwa die Niederlande durchführten."
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Gesellschaft

Sehr deutliche Worte findet Slavoj Zizek in der NZZ für die antirassistischen Proteste nach der Ermordung Georg Floyds: Die Protestanten brauchten nur einen Grund, die Corona-Abstandsregeln zu missachten, schreibt er und wirft ihnen vor, dass sie "von der Leidenschaft eines neuen Puritanismus beherrscht werden, der darauf abzielt, alle Spuren von Rassismus und Sexismus zu tilgen - diese Leidenschaft rückt sie paradoxerweise in die Nähe ihres Gegenteils, der neokonservativen Gedankenkontrolle. (…) Das Gegenteil der Schuld (der weißen Menschen) ist nicht der politische korrekte Rassismus, der sich als Antirassismus tarnt. Denn viele jener, die mitmarschieren, wollen bloß ihre moralische Überlegenheit zur Schau stellen - und es sind, wie so oft, die Weißen. Anstatt also auf perverse Weise unsere Schuld zu genießen (und damit die Opfer zu entmündigen), brauchen wir vielmehr aktive Solidarität: Wir alle sind keine Opfer der Umstände oder der Vergangenheit, sondern Akteure, dies es besser machen können."

Ulrike Draesner schreibt in der Zeit über ihre Erfahrung als "Mutter eines nichtgrünäugigen Menschen": "Als Schriftstellerin will ich daran glauben, dass wir über Sprachregelungen Gedanken verändern. Als Schriftstellerin weiß ich, als Mutter eines nichtgrünäugigen Menschen erfahre ich, dass 'Nicht'-Regelungen besser als nichts sein mögen, doch bei Weitem nicht ausreichen. Es kommt nicht darauf an, das, was wir wahrnehmen, nicht zu sagen. Es kommt darauf an, Sprechweisen zu finden, die auf einer doppelt respektvollen Einstellung beruhen. Sie erkennt Unterschiede an, denn Respekt hat zwei Richtungen: Er weist auf das Gegenüber und ebenso auf jenen, der ihn erbringt."

Und Elisabeth von Thadden ist ebenfalls in der Zeit überzeugt: "Privilegierte Weiße sind in die Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Welt tief verstrickt, auch wenn sie weder Täter noch Opfer sind". Sie verweist auf Michael Rothberg, dessen Bücher "Multidirectional Memory" von 2009 und "The Implicated Subject" von 2019 die Stichwörter für eine Einsicht ins "white privilege" bieten: "Für all die, die weder Täter noch Opfer noch Mitläufer sind, bietet Rothberg den Begriff des verstrickten Subjekts an, den er als Beitrag zur kritischen Theorie der Gesellschaft begreift: Als verstrickt gelten ihm all jene, die in Machtverhältnissen wohnen, in die sie hineingeboren wurden."

Auch an die Adresse all jener, die den Begriff der "Rasse" aus dem Grundgesetz streichen wollen, sagt der Historiker Christian Geulen bei geschichtedergegenwart.ch, dass selbst Rassisten den Begriff der Rasse gar nicht mehr verwenden - allzusehr ist er nach der Nazizeit diskreditiert: "An seine Stelle traten Formeln der 'kulturellen Identität' und 'kulturellen Überfremdung', des 'Volks', der 'Nation' oder auch des 'Abendlandes', die es durch Bekämpfung des Fremden zu schützen gelte. Gerade in diesem Verzicht auf den Rassenbegriff aber verstärkte sich jene, schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zentrale rassistische Annahme, dass erst der Schutz des Eigenen im Kampf gegen das Fremde überhaupt wissen lasse, was der 'natürliche' Wert des Eigenen ist."

In der NZZ wirft der Kolonialhistoriker Toni Stadler jenen, die fordern, Denkmäler zu beseitigen oder Straßen umzubenennen "Feigheit vor der Vergangenheit" vor: "Sich an allem Üblen der Weltgeschichte mitschuldig fühlen zu wollen, wie das gegenwärtig selbst unter Historikern wieder 'in' wird, hilft niemandem, am wenigsten den Armen Afrikas. Heutige Menschen sind nicht für die Taten früherer Generationen verantwortlich. Dagegen dürften uns unsere Kinder daran messen, wie gut wir die Gegenwartsprobleme - Klimaerwärmung, globale Ungleichheit, nachhaltige Ressourcennutzung - gelöst haben."
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Kulturpolitik

Anna-Lena Scholz und Tobias Timm hatten gestern als erste über das Gutachten des Wissenschaftsrats über die Stiftung Preußischer Kulturbesitz berichtet - und über die Empfehlung, sie aufzulösen. Nun gehen sie in der Zeit mehr ins Detail der Argumentation: "Bisher sei auf dem Weg durch die vielschichtigen Hierarchieebenen vieles versandet. Wenn man dem Organigramm der Zuständigkeiten folgt, müsste etwa - ein fiktives Beispiel - der Leiter der Alten Nationalgalerie, will er eine Ausstellung organisieren, diese nicht nur mit dem Direktor der Nationalgalerie absprechen, sondern auch mit dem Generaldirektor der Staatlichen Museen (der über eine eigene Verwaltung herrscht); diesem wiederum ist der Präsident der SPK mit seiner Hauptverwaltung vorgesetzt, die in allen Budget- und Personalfragen das Sagen hat."

Andreas Kilb zeigt sich in der FAZ allerdings von dem Vorschlag, die SPK in vier kleinere Stiftungen zu zerschlagen, nicht überzeugt: "Haben sich die Evaluierer aus dem Wissenschaftsrat schon einmal gefragt, ob die eine Forderung vielleicht der anderen widersprechen könnte? Vier Stiftungen brauchen vier eigene Stiftungspräsidenten und ebenso viele Leitungsstäbe, Dienstsitze, Pressesprecher, Personalchefs et cetera. Die Summen, die diese institutionellen Umrüstungen kosten, werden bei der kreativen und technischen Aufrüstung der Einrichtungen schmerzlich fehlen."

Längst "überfällig" nennt Rüdiger Schaper heute im Tagesspiegel indes den Vorschlag, die Stiftung aufzulösen. "Perestroika für die Preußenstiftung!" ruft er: "Aufbau und irgendwie auch noch der Geist der Stiftung stammen aus den 1950er Jahren, aus dem West-Berlin des Kalten Kriegs. Nach der Wende wurden Museen, Bibliotheken, Forschungseinrichtungen schnell zusammengelötet. Es entstand ein kaum beherrschbares Konglomerat aus etlichen stark renovierungsbedürftigen Altbauten in Ost und West und tückischen neuen Projekten. Das erklärt sich aus der Historie, aber der Stau am Bau lähmt gewaltig. Im Grunde beginnt das Problem schon mit dem Namen. Preußischer Kulturbesitz: historisch nicht falsch, aber abschreckend und einengend. Auch die Sache mit dem 'Besitz' passt nicht mehr so recht ins 21. Jahrhundert."

Für die Berliner Zeitung hat sich Harry Nutt unter anderem bei Olaf Zimmermann, dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, umgehört: Als "Gau" für die SPK bezeichnet er den Bericht: "Das wird der größte Umbau werden, den wir im Bereich der deutschen Kulturpolitik erlebt haben. Das gilt insbesondere mit Blick auf das Verhältnis der neuen Einrichtung zu den Ländern, von denen ja gewissermaßen 15 von 16 offensichtlich vor die Tür gesetzt werden sollen." Und: "Es ist zumindest ungewöhnlich, dass der Bericht vorab an die Redaktion der Zeit gelangt ist. Das zeigt zumindest, dass da sehr starke politische Kräfte im Hintergrund am Werk sind." Ebenfalls im Tagesspiegel sammelt Christiane Peitz Reaktionen aus der Politik auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates.
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Urheberrecht

Die Grünen-Politikerin Helga Trüpel, die als EU-Parlamentarierin einer Urheberrechtsreform zustimmte, die den Urhebern die Einnahmen der Verwertungsgesellschaften zum großen Teil wieder wegnimmt, behauptet in der FAZ, es seien die "Netzaktivisten", die den Urhebern nichts gönnten. In Antwort auf einen Artikel Julia Redas (unser Resümee) schreibt sie : "Es muss alles unreguliert und 'frei' sein, um die Interessen der Netzaktivisten zu befriedigen. Nichts spricht dafür, dass sie ein modernes Urheberrecht wollen, das auch die Interessen der Urheberinnen und Urheber berücksichtigt. Sie wollen allein ein unbegrenztes Nutzerrecht. Konkrete Vorschläge für die Bezahlung der Urheberinnen und Urheber im Netz sind nicht gekommen. Es gab nur den Vorschlag für Spenden, keinen Vorschlag der politischen Marktregulierung."
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Ideen

Bei hpd.de schildert Gunnar Schedel vom Alibri-Verlag, wie Religionskritik, die einst in die Toolbox der Linken gehörte, von der postmodernen Linken im Zeichen von Multikulturalismus und Identitätspolitik kassiert wurde: "Die beiden kritischen Perspektiven auf Religion - trifft sie richtige Aussagen über die Welt? Stützt sie die herrschenden Verhältnisse? - 'funktionieren' plötzlich nicht mehr. Denn in postmodernen Vorstellungen ist intersubjektiv vermittelbare Wahrheit kein Kriterium. Wissenschaft und Religion stehen als unterschiedliche Erzählungen gleichwertig nebeneinander. Der Vorwurf, die Welt nicht richtig zu beschreiben, wird unerheblich - und damit auch die Emanzipation von einem solchen falschen Bewusstsein."

Ein für alle Mal: Kant war kein Rassist, ruft der Philosoph Michael Wolff in der FAZ in Antwort auf einige Kritiker Kants: "Zu Kants Universalismus gehört der Grundsatz, dass es ein 'ursprüngliches, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehendes Recht gibt'. Es bestehe in der 'Freiheit' eines jeden, sofern sie mit der Freiheit 'jedes Anderen' nach einem 'allgemeinen Gesetz' zusammen bestehen könne. Dieser Grundsatz schließt Rassendiskriminierung aus."

Der Brief von 150 angloamerikanischen Intellektuellen (Kamel Daoud war auch dabei) gegen die hysterisierte und oft zensorische Debatte über Rassismus und Antirassismus (hier in der Zeit und unser Resümee) hat sofort nach Erscheinen für Diskussionen und Erregung in den sozialen Netzen gesorgt, die Jennifer Schuessler and Elizabeth A. Harris in der New York Times resümieren: "Eine besonders starke Reaktion gab es wegen der Einbeziehung von J.K. Rowling, die nach weithin als 'anti-transgender' empfundenen Kommentaren in der Kritik stand." Über die Debatte berichten auch Vice (wo schon von reuigen Rückzügen und anderen Peinlichkeiten berichtet wird) und hier der Guardian.
Archiv: Ideen