9punkt - Die Debattenrundschau

Toxisches Abhängigkeitsverhältnis

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2020. Kant war sehr wohl ein Rassist, insistiert Marcus Willaschek in der FAZ. Aber Otfried Höffe ist in der NZZ nicht ganz einverstanden. In der New York Times kann jetzt gar nicht mehr gemeint werden: Mit Bari Weiss geht schon die zweite Meinungsredakteurin in kurzer Zeit - und sagt ihre Meinung lieber in ihrem Blog. In seinem Blog kritisiert Kenan Malik die "White-Fragility"-Autorin Robin DiAngelo und warnt vor einer Therapeutisieung des Rassismusproblems. In der Welt prangert Deniz Yücel den Rechtsextremismusskandal in der hessischen Polizei und die Vertuschung in der Politik an. Schwarze Dienstmädchen werden bis heute als Sklavinnen behandelt, berichtet der Tagesspiegel über den Libanon.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.07.2020 finden Sie hier

Ideen

"Entweder du akzeptierst deinen Rassismus, oder du zeigst deinen Rassismus, indem du ihn nicht akzeptierst", so in etwa lautet für Kenan Malik in seiner Observer-Kolumne die Moral von Robin DiAngelos Bestseller über "White Fragility". Malik hält es eher mit dem Autor Ambalavaner Sivanandan, der schon in den Achtzigern vor einer Therapeutisierung des Rassismusproblems warnte. Wer den Fokus vom sozialen Wandel auf persönliche Therapie verlege, wolle keinen Wandel in der Gesellschaft: "Die Bedeutung von Gesetzen und sozialen Strukturen wird herabgesetzt zugunsten des Unbewussten. Der therapeutische Ansatz, so Sivanandans prophetische Beobachtung, verwandelt Rassismus in eine 'Kombination von Geisteskrankheit, Erbsünde und biologischem Determinismus', in eine 'Wesenseigenschaft, die die Geschichte in die Seele des Weißen gesenkt' hätte. Da es daraus kein Entweichen gibt - alle Weißen sind bewusst oder unbewusst rassistisch - ist diese Perspektive negativ und spaltend."

Im britischen Spectator findet Lionel Shriver die Rassismusvorwürfe, mit denen sich Weiße derzeit gern selbst belegen, vor allem eins: wahnsinnig eitel.

Kant war sehr wohl ein Rassist, insistiert in der FAZ Marcus Willaschek in Antwort auf Michael Wolff (unser Resümee), der den ursprünglichen Artikel Willascheks (unser Resümee) attackiert hatte: "Zwar gesteht Kant allen Menschen, auch 'Negern' und 'Indianern', gleiche Rechte zu und kritisiert Sklaverei und Kolonialismus; das ist ein historisches Verdienst. Doch wer wie Kant allen Menschen die gleiche Würde zuspricht, kann nicht ohne Widerspruch behaupten, den 'Bewohnern Amerikas' fehle die Fähigkeit zu 'aller Cultur', zumal die 'Kultivierung' für Kant ein Schritt auf dem Weg zu jener 'Moralisierung' ist, zu der unsere Menschenwürde uns befähigt und verpflichtet."

Otfried Höffe dagegen schränkt in der NZZ ein. Es gebe zweifellos rassistische Passagen bei Kant: "Trotzdem bleibt der Befund richtig, dass die Frage im Œuvre Kants keine primäre, recht gesehen nicht einmal eine sekundäre Bedeutung hat. Denn zu den Gegenständen, über die Kant Neues, revolutionär Neues geschrieben hat, gehört die Frage zweifellos nicht. Sie spielt weder in der Erkenntnistheorie in Form jener transzendentalen Kritik irgendeine Rolle, die unter anderem alle Gottesbeweise für unmöglich erklärt, noch in der Moralphilosophie mit dem weltweit einflussreichen kategorischen Imperativ und der Selbstgesetzgebung - der Autonomie des Willens." Ihn wie Michael Zeuske (mehr hier) als einen "Begründer" des Rassismus darzustellen, erscheint Höffe völlig abwegig.

Außerdem: René Aguigah unterhält sich bei Dlf Kultur mit Hélène Cixous über Jacques Derrida, der in diesen Tagen neunzig Jahre alt geworden wäre. In der NZZ schreibt Hans Ulrich Gumbrecht zum Geburtstag des französischen Philosophen.
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Europa

Die hessische Polizei ist durchsetzt mit Rechtsextremisten. Von Computern der hessischen Polizei wurden persönliche Daten über Politikerinnen der Linkspartei, Rechtsanwältinnen und Kabarettistinnen abgefragt - ein Skandal, der noch nicht genug Aufsehen erregt, meint Deniz Yücel in der Welt. "Nun rächt sich die Vertuschungspolitik, die Ministerpräsident Volker Bouffier und die ganze Landesregierung - auch die Grünen - an anderer Stelle betrieben haben." Yücel fordert einen Untersuchungsausschuss des Bundestags: "so, wie er nach dem islamistischen Anschlag am Breitscheidplatz einen Untersuchungsausschuss einrichtete, um mögliche Versäumnisse der Berliner Sicherheitsbehörden aufzuklären."

In der taz unterhält sich Carolina Schwarz mit der Kabarettistin Idil Baydar über die Morddrohungen, die sie erhalten hat: "Was ich wirklich seltsam finde, ist, dass sich kein einziger Polizist bei mir meldet. Dass keiner sagt: Wir haben die Sache im Griff, machen Sie sich keine Sorgen, wir beschützen Sie. Ich fühle mich alleingelassen, meine Bedrohungslage scheint der Polizei egal zu sein."
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Kulturmarkt

Die Konzern-Verlage Randomhouse, Holtzbrinck (Kiepenheuer & Witsch, Rowohlt, Fischer) und Bonnier (Piper, Ullstein) trauen sich nicht auf die Frankfurter Buchmesse. Nun aber kann die Buchmesse auch Beteiligungen bekannt geben, meldet buchreport.de: "Die Verlage Aufbau, C.H. Beck, Klett-Cotta und Suhrkamp haben ihre Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse bekannt gegeben. Ein Konzept für einen gemeinschaftlichen Messestand sei in Kooperation mit der Buchmesse entwickelt worden."

Verleger "wollen ihr Geld", berichtet Georg Giersberg auf den Wirtschaftsseiten der FAZ und verweist auf einen offenen (aber offenbar nicht netz-öffentlichen) Brief wichtiger deutscher Verlage von Aufbau über Rowohlt bis C.H. Beck an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. Sie wollen einen Anteil aus den Ausschüttungen der VG Wort zurückhaben - diese Ausschüttung war zwar jahrzehntelang Praxis, aber deutsche und europäische Gerichte hatten geurteilt, dass Verlag kein Urheberrecht haben (Martin Vogel hatte dies erstritten, mehr hier). Innerhalb der EU-Urheberrechtsreform war es den Verlagen gelungen durchzusetzen, dass sie wieder einen Anteil bekommen, nur hapert es jetzt mit der Umsetzung in deutsches Recht, so Giersberg: "Für bekannte Publikumsverlage wie Rowohlt oder Piper geht es um einen mittleren sechsstelligen Betrag im Jahr, für viele Verleger kleiner Häuser geht es um den Unternehmerlohn des Inhabers. Seit der Aussetzung der Ausschüttungen hätten einige wenige Verlage aus diesem Grund ihre Existenz verloren, heißt es. Das kann aber nicht belegt werden."
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Medien

Nach James Bennet, Redakteur der Meinungsseite der New York Times, der über den Gastartikel eines nicht korrekt meinenden Senators stolperte, geht nun auch seine Kollegin Bari Weiss - ihren Abschiedsbrief veröffentlicht sie in ihrem Blog. Man kann in der New York Times einfach nicht mehr meinen, meint sie: "Meinungsartikel, die vor zwei Jahren noch leicht durchgegangen wären, bringen einen Redakteur oder Autor heutzutage in Bedrängnis, falls er nicht gleich gefeuert wird. Wenn bei einem Artikel befürchtet wird, dass er intern oder in den sozialen Medien Widerwillen hervorruft, schlagen ihn der Redakteur oder Autor gar nicht mehr vor. Falls sie doch die Kraft haben, ihn vorzuschlagen, werden sie eilends auf sicheren Grund bugsiert. Und falls es ihnen in seltenen Fällen einmal gelingt, ein Stück zu publizieren, das nicht explizit linke Ideen vertritt, dann aber nur nachdem jede einzelne Zeile sorgfältig durchmassiert, beraten und und unter Vorbehalt gesetzt wurde."

Ironischer Weise publiziert der New-York-Times-Kolumnist Ross Douthat gerade heute zehn Thesen zur "Cancel Culture", die ziemlich genau definieren, wie "Cancel Culture funktioniert: Ein Angriff auf J.K. Rowling diene in Wirklichkeit dazu, die Mehrheit gleichzuschalten, nicht Rowling zu schaden: "Du musst nicht Rowling unmöglich machen, wenn du die weniger bekannte Schriftstellerin unmöglich machen kannst, die sich auf ihre Seite stellte. Du musst nicht die berühmten Uni-Leute kippen, die den offenen Brief in Harper's unterzeichneten, wenn du halb so alte Leute entmutigen kannst zu sagen, was sie denken."

Selbst in der Modepresse müssen inzwischen reihenweise Redakteure und Mediengründer gehen wegen "unsensibler Bemerkungen", meldet Modebloggerin Navaz Batliwalla in ihrem Blog Disneyrollergirl (mehr hier).

Vielleicht sollte die Linke ihre Prioritäten neu sortieren, meint fast schon verzweifelt der amerikanische Wissenschaftler Ashutosh (Ash) Jogalekar in seinem Blog The Curious Wavefunction: "Gegenwärtig sollte es das oberste Ziel eines jeden amerikanischen Bürgers sein, der über ein gewisses Maß an Anstand und Intelligenz verfügt, Donald Trump und seiner unwissenschaftlichen, rassistischen und ignoranten Regierung die größte Niederlage in der amerikanischen Wahlgeschichte zu bereiten. Fast nichts anderes ist in diesem Jahr so wichtig. Leider gibt es immer noch unentschlossene Menschen, aber gerade in den letzten Monaten hoffte man, ... dass sie desillusioniert sind. Die Demokraten sollten diese Leute mit offenen Armen in ihren Reihen willkommen heißen. Wäre es also schwieriger oder einfacher für die Unentschiedenen, die Wahl eines Demokraten zu erwägen, wenn sie selbsternannte Demokraten sehen, die Statuen stürzen, Twitter-Mobs auf Leute loslassen, mit denen sie nicht einverstanden sind, die versuchen, Karrieren zu zerstören und jeden herabzusetzen oder auszuschalten, der vielleicht nur etwas anders denkt als sie?"
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Politik

Schwarze Dienstmädchen werden bis heute wie Sklavinnen gehalten, bis aufs Blut ausgebeutet und häufig sexuell missbraucht, schreibt Julius Geiler in einer Tagesspiegel-Reportage aus dem Libanon über das in diesem Land praktizierte "Kafala"-System. "Die vor allem in arabischen Ländern weit verbreitete Gesellschaftsform regelt das Verhältnis von ausländischen Arbeitskräften zu ihren Arbeitgebern. Über Vermittlungsagenturen werden die Frauen in ihren jeweiligen Heimatländern angeworben. Die Arbeitgeber fungieren dabei als Bürgen und übernehmen die Reise- und Unterbringungskosten. Dadurch entsteht ein toxisches Abhängigkeitsverhältnis der Dienstmädchen ihren als Arbeitgeber fungierenden Familien gegenüber."

Kerstin Holm berichtet für die FAZ über eine neue Welle der Repression gegen Journalisten und Menschenrechtsaktivistinnen in Russland: "Das Regime setzt auf die finanzielle, moralische oder physische Zermürbung von Kritikern. Das zeigt der Prozess gegen den Historiker Juri Dmitriew, der im karelischen Petrosawodsk in einem manipulierten Verfahren wegen Pädophilie angeklagt wurde und dessen Urteil am 22. Juli verkündet wird. Dmitriew, der Massengräber von Opfern des Stalin-Terrors entdeckt und zu Gedenkstätten gemacht hat, war vor zwei Jahren freigesprochen worden... Der Staatsanwalt verlangt fünfzehn Jahre Haft, was einem Todesurteil gleichkäme." (Mehr zum Thema auch in der taz.)

Der Bürgerrechtler John Burl Smith hat ein Buch über 400 Jahre Widerstand der amerikanischen Schwarzen gegen Sklaverei und Unterdrückung geschrieben (mehr hier). In der SZ unterhält sich Jonathan Fischer mit ihm. Martin Luther King sei ermordet worden, als er die "Poor People's Campaign" starten wollte, "mit der er die Ausbeutung armer Schwarzer als Grundlage des amerikanischen Kapitalismus anprangern wollte", sagt Smith: "FBI-Chef Edgar Hoover nannte Martin Luther King daraufhin den 'gefährlichsten Mann Amerikas"' Ich bin überzeugt, dass es Kings Radikalisierung zugunsten der Armen war, die zu seiner Ermordung führte. (...) Am Ende war King zu denselben Ansichten wie Malcolm X gekommen."
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