9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn nur der Status quo sich halbwegs hält

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.07.2020. Im Guardian erklärt Jan-Werner Müller, wie die amerikanische Rechte alles dereguliert - sogar das Coronavirus. Die NZZ macht sich Sorgen über betrübliche Zahlen aus  der Buchbranche, die nicht allein mit der Coronakrise zu erklären sind.  Alle feiern Omri Boehm mit seinem Vorschlag zur Lösung des Nahostkonflikts - nur in Israel ist er leider unbekannt, wundert sich die Jüdische Allgemeine. Zwei Menschenrechtsanwälte rufen die Demokratien in Foreign Policy auf, die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang als Genozid zu bezeichnen. Und Marina Münkler spricht im Tagesspiegel über das Gutachten des Wissenschaftsrats zur Preußenstiftung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.07.2020 finden Sie hier

Politik

Omri Boehms Buch "Israel - eine Utopie", das hierzulande als ganz großer Wurf für die Lösung des Nahostkonflikts gefeiert wird, ist in Israel nicht mal erschienen und hat zur dortigen Debatte nicht das geringste beigetragen, notiert Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen: "Nicht, weil im jüdischen Staat Zensur herrscht. Es fand sich dort bloß kein Verlag. Und selbst wenn: Der Band hätte sich nicht gut verkauft. Die Israelis glauben nicht mehr an große Würfe. Sie sind schon froh, wenn nur der Status quo sich halbwegs hält. In anderen Worten: Das Buch ist eigentlich für die Katz. Seine Landsleute, die Omri Boehm ansprechen will, interessieren sich nicht für das, was er zu sagen hat. Und die Deutschen, die seine Vision so begeistert aufnehmen, sind, auch wenn sie das nicht gerne hören mögen, in Nahost irrelevant."

Amerika meldet immer neue Rekordzahlen der Corona-Ansteckung - allein für heute werden 68.000 bis 77.000 Fälle gemeldet. Schuld an der rasanten Ausbreitung ist auch der Diskurs der amerikanischen Rechten, schreibt der Politologe Jan-Werner Müller im Guardian: "Anstatt staatliche Ressourcen zu mobilisieren, um sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer zu schützen, wie es Länder wie Dänemark getan haben, wird die Pandemie instrumentalisiert, um die umfassende Deregulierungsagenda Trumps und seiner Befürworter vom ersten Tag seiner Präsidentschaft an voranzutreiben. Dies ist eine Agenda, die die Republikaner schon bei der globalen Erwärmung perfektioniert haben: so tun, als gäbe es eine unpersönliche und für viele Menschen unsichtbare Bedrohung gar nicht wirklich, und obendrein behaupten, es handele sich um ein Komplott, das von einem globalen geopolitischen Rivalen ausgebrütet wurde."

Die Vereinigten Staaten und die  übrige demokratische Welt sollen endlich das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang angemessen benennen, fordern die Menschenrechtsanwälte Rayhan Asat und Yonah Diamond in einem viel retweeteten Artikel in Foreign Policy. Zwei neue Informationen über Xinjiang seien so bestürzend, dass es dringend neuer Reaktionen bedürfe, schreiben die beiden Anwälte: erstens belege ein "seriöser Bericht", dass Uigurinnen systematisch sterilisiert werden, zweitens die Information, dass offenbar in großem Umfang mit Haaren von Uigurinnen gehandelt wird. "Die Völkermordkonvention, zu deren Unterzeichnern China gehört, definiert Völkermord als spezifische Handlungen gegen Mitglieder einer Gruppe mit der Absicht, diese Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Zu diesen Taten gehören (a) die Tötung; (b) die Verursachung schwerer körperlicher oder geistiger Schäden; (c) die vorsätzliche Schaffung von Lebensbedingungen, die die physische Zerstörung einer Gruppe herbeiführen; (d) die Verhinderung von Geburten innerhalb einer Gruppe; und (e) die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. In der klar nachzuweisenden bewussten und systematischen Kampagne der chinesischen Regierung zur Vernichtung des uigurischen Volkes treffen all diese Kategorien zu."
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Europa

Deniz Yücel ist in Abwesenheit von einem willfährigen türkischen Gericht zu einer Haftstrafe von über zwei Jahren verurteilt worden. Auf Welt online kommentiert er sein Urteil selbst: "Dieses Urteil einer zu Handlangern der Exekutive, zu Rechtsbrechern in Richterroben degradierten Justiz ändert nichts an dem, was ich vom Moment meiner Festnahme an wusste: Ich wurde gefangen genommen, weil ich meine Arbeit als Journalist gemacht habe. Daran bereue ich nichts. Und früher oder später wird ein Gericht das auch feststellen." In der taz erzählt Jürgen Gottschlich noch einmal die Geschichte dieses türkischen Skandals.

Bisher sind Deutschland und die EU vor Ungarn und Polen eingeknickt, schreiben die Politologen Daniel Hegedüs und Garvan Walshe in der Welt und schlagen vor, es ruhig mal auf den EU-Austritt der beiden Länder ankommen zu lassen: "Sowohl PiS als auch Fidesz haben rhetorisch mit der Idee gespielt, eher die EU zu verlassen, als deren demokratische Prinzipien zu akzeptieren. Doch Polen und Ungarn sind nicht England, und zumindest Fidesz und PiS sind noch nicht in die Tiefen der Konservativen Partei hinabgesunken. Tatsächlich sind Drohkulissen mit einem Hunexit oder Polexit Nebelkerzen, da diese der polnischen und ungarischen Wirtschaft die Basis entziehen würden. Außerdem wollen große Teile der Ungarn und Polen in der EU verbleiben. Orbán und Kaczynski werden zurückrudern müssen."
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Kulturmarkt

Ende Mai verzeichnete die Buchbranche einen Verlust von 17,5 Prozent, weiß Paul Jandl in der NZZ: "Aber schon 2019 hat es nicht rosig ausgesehen. Legten sich 2010 noch 36 Millionen Deutsche regelmäßig Bücher zu, fiel dieser Wert bis 2018 auf 29,9 Millionen, um 2019 noch einmal um eine Million abzusacken. Sollte es so weitergehen und das Medium Buch im gleichen Tempo an Bedeutung verlieren, dann ist die Corona-Krise womöglich wie ein Zeitraffer für das, was sich längerfristig tun könnte. Das Publikum wechselt zu anderen Angeboten. Die Verlage dünnen ihre Programme aus und müssen sparen."
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Stichwörter: Corona, Coronakrise

Gesellschaft

Der Autor und Publizist Reinhard Mohr betreibt bei cicero.de "critical mohrness": "Immer wieder fragen mich Freunde und Kollegen halb im Ernst und halb spöttisch, wann ich denn nun meinen Namen ändere. Nelson Mandela kann ich mich schlecht nennen, denn das wäre mindestens eine 'cultural appropriation'."

Israelkritik und Antizionismus sind nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen, ärgern sich im Tagesspiegel Moshe Zimmermann und Shimon Stein, auch mit Blick auf den Verfassungsschutzbericht, der zwar antizionistisch motivierte Feindschaft gegen Juden im Rechtsextremismus als Antisemitismus definiert, Antisemitismus im Linksextremismus aber erst gar nicht erwähnt. Gegen eine Umbenennung des U-Bahnhofs "Mohrenstraße" in "Glinkastraße" hätten sie nichts einzuwenden gehabt: "Michael Glinka war ein Sohn seiner auch von Antisemitismus geprägten Zeit. Und kennt man die Geschichte des Antisemitismus in Berlin, so stellt sich die Frage, ob die Umbenennung des Richard-Wagner-Platzes, der Treitschkestraße oder des Jahn-Stadions nicht viel dringlicher wären. Genauso gut könnte man von der israelischen Regierung dann auch die Umbenennung der Frederic-Chopin-Straße in Jerusalem verlangen."
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Kulturpolitik

Marina Münkler leitete die Arbeitsgruppe im Wissenschaftsrat, die das Gutachten zur Struktur der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) entworfen hat. (Unser Resümee) Im Tagesspiegel-Gespräch mit Birgit Rieger will sie nicht sagen, wer sonst zu den Mitgliedern der Arbeitsgruppe gehört, erklärt aber, wo es strategisch und finanziell in der Stiftung hapert, weshalb die Museen den Anschluss ans Publikum verloren haben und warum es an aktuellen Ausstellungen mangelt: "Es gibt im Moment viele Diskussionen zum Thema Provenienzforschung. Zum einen, was jüdisches Eigentum betrifft, aber auch über die Bestände aus der Kolonialzeit. Die Staatlichen Museen haben dazu Projekte, das sind vor allem eingeworbene Drittmittelprojekte, bei denen etwa mit Vertretern der sogenannten Herkunftskulturen kooperiert wird. Aber es passiert zu wenig Dauerhaftes. Dafür stehen den Häusern auch keine großen Summen zur Verfügung. Andere Museen in Europa investieren wesentlich mehr."

Statt sich auf Subventionen zu verlassen, sollten Kulturschaffende Neues ausprobieren, fordern Dieter Haselbach und Pius Knüsel, Autoren des Buches "Der Kulturinfarkt" wenig konkret in der Welt: "Kulturpolitik müsste einen Strukturwandel fördern, der der Entwicklung echter 'Resilienz' Raum macht, statt den Betrieb bloß auf seine vor-coronaren Strukturen und Organisationsprinzipien zurückzuführen."
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Medien

Der amerikanische Zeitungskonzern McClatchy hat Pleite gemacht. Dadurch ist er gezwungen seine Zahlen in viel größerer Transparenz zu veröffentlichen, als Zeitungen das sonst tun. McClatchy ist nicht irgendein Konzern - er besteht seit über hundert Jahren und hat Regionalblätter in Städten wie Miami oder Kansas City. Joshua Benton liest die Zahlen für das NiemanLab und stellt bei den täglichen Einnahmen einen Verfall aufgrund der Coronakrise fest. Vor der Krise war der Konzern, abgesehen von enormen Schulden, finanziell gesund, so Benton. Aber die Krise zeigt auch, wie stark die Zeitungen nach wie vor von (Print-)Anzeigen abhängig sind: "Im dritten Quartal 2019 stammten 46,8 Prozent der Einnahmen aus Verkauf (Print und Digital-Abos), 45,8 Prozent aus Werbung und 7,3 Prozent aus anderen Quellen. Während der Coronakrise hat McClatchy wie viele andere Konzerne einen Anstieg bei den Abos verzeichnet, so dass dies Stück im Tortendiagramm wahrscheinlich noch größer geworden ist. Das heißt, dass der Schlag bei den Anzeigen wirklich schlimm ist - minus 40 Prozent oder mehr."

Eine erstaunliche Meldung bringt der Figaro: Laurent Joffrin, Chefredakteur von Libération gibt seinen Posten auf und gründet eine neue linke Partei. Am Sonntag wird er bei AFP ein Gründungsmanifest veröffentlichen.
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Stichwörter: Coronakrise, Zeitungskrise

Geschichte

In der Potsdamer Konferenz vor 75 Jahren wurde Wesentliches nicht geregelt, schreibt Victor Maurer in der NZZ: "Nicht die deutsche Frage; nicht die Reparationspolitik; nicht der Streit um Grenzen; und schon gar nicht die Frage nach einer neuen Ordnung für die Welt. Als Präliminarfrieden sollten die Vereinbarungen dienen, die es den beteiligten Akteuren erlauben würden, sich im Laufe der Zeit Klarheit über die Möglichkeiten einer endgültigen Friedensregelung zu verschaffen. (…) Erst im Herbst 1989, als die Welt über Nacht in Bewegung geriet, stellte man fest, dass die Potsdamer Konferenz über Jahrzehnte für ein Ende ohne Ende gestanden hatte und die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zur Kooperation in der Deutschlandfrage verpflichtete. Wie durch ein umgedrehtes Fernglas wurden die Epochen der Vergangenheit klein und schoben sich ineinander."
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Stichwörter: Potsdamer Konferenz