9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Variante des Preußentums

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2020. Zweimal 150: Das militärhistorische Museum in Dresden zeigt eine Ausstellung zum deutsch-französischen Krieg. Aber zur Gründung des deutschen Reichs auf dem französischen Schlachtfeld wird es keine Ausstellung geben, fällt der FAZ auf: Ist  sie zu peinlich? Und vor 150 Jahren wurde der Papst für "unfehlbar" erklärt: Damit fingen die  Probleme erst an, findet die SZ. Noch einer, der geht: der berühmte Kolumnist Andrew Sullivan verlässt das New York Magazine. Die Belegschaft wollte ihn nicht mehr, schreibt er zum Abschied. In der NZZ zieht Ayaan Hirsi Ali den Rassimus Amerikas den Kriegen Afrikas vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.07.2020 finden Sie hier

Geschichte

Das Foto aus dem Bestand des Musée Eluard, das auch in der Pressemappe des Militärhistorischen Museums abgebildet ist, zeigt die Kommunardin Louise Michel.
Im Dresdner Militärhistorischen Museum findet eine Ausstellung zum deutsch-französischen Krieg vor 150 Jahren statt, der bekanntlich - nach den vorausgehenden Kriegen gegen Dänemark und Österreich - zur Gründung des Deutschen Reichs führte. In seiner Besprechung der Ausstellung für die FAZ bemerkt Andreas Kilb: "Diese Gründung wird im laufenden Jahr - und, so weit man sehen kann, auch im kommenden - von den deutschen Geschichtsmuseen mit keiner einzigen Ausstellung gewürdigt. Dieses Versäumnis mag Besucher aus anderen europäischen Nationen erstaunen, ist aber leicht zu erklären, wenn man an die Rolle des Kaiserreichs im hiesigen historischen Gedächtnis denkt. Der alten Bundesrepublik war das Reich peinlich, weil es in den Ersten Weltkrieg mündete. Dem wiedervereinigten Deutschland ist es noch peinlicher, weil es für eine Variante des Preußentums steht, die man aus dem postmodernen, aus Humboldt, Schinkel und Fontane zusammengesetzten Preußenbild gerne heraushalten möchte." Die grottige Website des Dresdner Museums bietet kaum Informationen zur Ausstellung.

Und noch ein 150-jähriges Jubiläum. Im Jahr 1870 ließ sich Papst Piux IX. die "Unfehlbarkeit" zuschreiben. Rudolf Neumaier schreibt dazu in der SZ: "Alles was heute an dieser Institution so weltfremd ist, was so kalt und unbarmherzig wirkt, die gesamte anachronistsche Klerikalhierarchie also wurzelt in abenteuerlichen theologischen Winkelzügen, die im 19. Jahrhundert unter Pius IX. ersonnen wurden. Während in Europa Monarchen an Macht einbüßten, ließ sich der Papst von neuscholastischen Strategen eine Rolle schreiben, deren Titel 'Pastor aeternus' - Ewiger Hirte - Programm war." In Hubert Wolfs Buch "Der Unfehlbare" wird Pius' Geschichte spannend erzählt - mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.

Die Islamwissenschaftlerin Agnes Imhof erzählt in der FAZ aus nicht ganz klarem Anlass die Geschichte des Islamismus, gegen den sie eine "islamische Moderne" stärken will. Unter anderem macht sie auf untergründige Beziehungen zwischen Islamismus und den Nazis aufmerksam: "Die panislamische Idee ermöglichte es, unterschiedliche Volksgruppen unter dem Dach des Islams zu einen. Ein Potenzial, das bald auch an einem ganz anderen Ort erkannt wurde, nämlich in NS-Deutschland. Mit der richtigen Propaganda, so schien es, konnte man Muslime gegen eigene Gegner mobilisieren: Juden, Kommunisten, die Alliierten. So entstand das bis heute verwendete arabisch-deutsche Wörterbuch von Hans Wehr für den Zweck, 'Mein Kampf' zu übersetzen."
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Ideen

Amerikaner mögen die USA für den rassistischsten Staat der Welt halten. Aber da fehlt ihnen vielleicht die Außenperspektive, meint Ayaan Hirsi Ali, die in der NZZ einige der Forderungen von BLM für überzogen hält: "Amerika sieht anders aus, wenn man, wie ich, in Afrika und im Mittleren Osten aufgewachsen ist. Dort konnte ich dreierlei Erfahrungen aus erster Hand sammeln. Erstens: blutige und zerstörerische Kriege zwischen Afrikanern - ganz ohne Präsenz von Weißen. Zweitens: die Anarchie, die entsteht, wenn es an Sicherheitskräften, Recht und Ordnung fehlt. Drittens: der massive Rassismus (und Sexismus) von Gesellschaften wie der saudiarabischen, wo es nach wie vor sklavereiähnliche Verhältnisse gibt." Sie fragt sich, wo der zupackende amerikanische Pragmatismus hin verschwunden ist und fürchtet: "Das Problem liegt nicht zuletzt darin, dass unter uns auch Leute sind, die es gar nicht schaffen wollen - weil sie keinerlei Interesse daran haben, dass praktikable Lösungen auf den Tisch kommen. Der Grund dafür ist offensichtlich politisch: Ungelöste soziale Probleme sind die Grundlage ihrer Macht. Wann immer ein Wissenschafter wie Roland Fryer neue Daten erhebt, aus denen ersichtlich wird, dass die Zahl der von Polizisten getöteten Schwarzen nicht unverhältnismäßig hoch ist, dann diskreditiert man lieber den Autor, als die Studie zu lesen."
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Medien

Melina Borčak weist in einem Hintergrundartikel auf der Medienseite der taz auf Fehler in der Berichterstattung über das Massaker von Srebrenica hin, die sich auch in den jüngsten Gedenkartikeln wiederholten - und übrigens an die Handke-Debatte vor ein paar Monaten erinnern. Einer davon ist "die immer wieder auftauchende Phrase von den Kriegsverbrechen auf 'allen Seiten'. Laut Untersuchungen der UN sind über 90 Prozent aller Kriegsverbrechen im gesamten Bosnienkrieg von der serbischen Seite verübt worden, der Rest teilt sich auf mehrere andere Parteien auf. Mit 'Verbrechen auf allen Seiten' bemüht sich der Journalist um eine scheinbar neutrale, haltungsbefreite Formulierung - macht sich aber der Genozidverharmlosung schuldig. Dies gilt nicht nur für die ausdrückliche Nutzung der Phrase 'alle Seiten', sondern auch für Framing oder ungenaue Beiträge, in denen der Eindruck entsteht, es hätte sich um einen ausgeglichenen Krieg gehandelt, bei dem alle eine gleich große Verantwortung tragen."

Noch einer, der geht. Der Großessayist Andrew Sullivan, dessen Texte im New York Magazine durchaus sehr erfolgreich sind, der aber auch ziemlich teuer zu sein scheint, wird von den Kollegen nicht mehr gewollt, schreibt er in seiner Abschiedskolumne: "Sie scheinen zu glauben - und das ist in den Mainstream-Medien immer mehr zum Dogma geworden - dass jeder Autor, der nicht aktiv die kritische Theorie in Fragen von Rassismus, Gender, sexueller Orientierung und Gender-Identität vertritt, seine KollegInnen aktiv und physisch schädigt, einzig dadurch, dass er sich im selben virtuellen Raum aufhält. Die Ideen und Methoden dieser kritischen Theorie zu attackieren, gar sich über sie zu mokieren, wie ich es hier immer wieder tat, widerspricht darum den Werten von Vox Media. Darum, wenn ich richtig verstehe, ist es hier mit mir vorbei."
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Gesellschaft

Warum versagt die Polizei so häufig beim Thema Rechtsextremismus? Die Kabarettistin Idil Baydar gehört zu denn Persoenen, die von Polizeicomputern aus ausgespäht wurde und die Drohbriefe erhalten hat. Die Polizei hat ihr bisher wenig geholfen, sagt sie im Gespräch mit Pitt von Bebenburg in der FR. Die Polizei gehört auch zu ihren Themen: "NSU war ein ganz entscheidender Teil, warum ich angefangen habe, mich dafür zu interessieren: Was passiert denn da? Es gibt so viele Fälle, die nicht aufgeklärt werden. Was mich wirklich so fertig macht an der Geschichte ist, dass ich das Gefühl habe, dass die Polizei mehr damit beschäftigt ist, PR zu machen, abzustreiten, zu leugnen, hin- und herzuschieben, die Dinge unter den Tisch fallen zu lassen, als sich damit zu befassen. Jetzt frage ich mich: Liegt das an der Struktur? Ist sie vielleicht runtergewirtschaftet worden? Wie ist die Situation der Polizisten und Polizistinnen?"
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Europa

Am Dienstag beginnt der Prozess gegen Stephan Balliet, den Attentäter von Halle. Konrad Litschko und Pia Stendera tragen in der taz zusammen, was man bislang über den Täter weiß: "Balliet verbrachte viel Zeit auf Imageboards, anonymen Onlineforen. Hier fand offenbar auch seine Radikalisierung statt. Er bewegte sich anonym im Netz, hinterließ kaum Spuren. Auch auf Mitwisser stießen die Ermittler nicht. Mit einer Dokumentensammlung, die Balliet vor seiner Tat ins Internet stellte, machte er aber klar, wo er steht: Auf Englisch versandte er Referenzen an eine Onlineszene, die rechtsextreme Anschläge feiert. Erklärte, wie er über Monate seine Waffen selbst zusammenbaute. Wie er die Synagoge auskundschaftete. Und rief auf, möglichst viele Juden zu töten."

Nachgetragen sei die jetzt online stehende Seite der Zeit zur Re-Moscheeisierung der Hagia Sophia. Unter den hier gesammelten Stimme sei die von Ertan Toprak, dem Bundesvorsitzenden der kurdischen Gemeinde in Deutschland, zitiert: "Zur Erinnerung: Im Jahr 1914 lebten auf dem Gebiet der heutigen Türkei 13 Millionen Muslime und 2,8 Millionen Christen, dazu 130.000 Juden. Der Anteil der Christen an der Bevölkerung betrug 20 Prozent. 1927, vier Jahre nach Gründung der Republik, lebten in der Türkei 13 Millionen Muslime, nur noch 190.000 Christen, also 1,5 Prozent, und 82.000 Juden. Heute leben in der Türkei über 84 Millionen Muslime, 100.000 Christen, das sind 0,12 Prozent, und 17.000 Juden. Wozu braucht das Land eine weitere Moschee?"

Patricia Hecht und Dinah Riese berichten in der taz über einen Streit bei den Grünen, aber auch in anderen Parteien, über die Frage, ob die Bereitschaft, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, zur Einstellungsvoraussetzung in öffentlichen Kliniken (besonders Unikliniken) gemacht werden darf. Die Grünen haben schon erschrocken nein geagt, obwohl es rechtlich keine Probleme gibt. Hintergrund ist "die Tatsache, dass viel zu wenige Gynäkolog:innen überhaupt noch Abbrüche machen. Nur rund 1.200 Ärzt:innen gibt es hierzulande, die diese Gesundheitsleistung anbieten - ein Rückgang um 40 Prozent seit 2003. Grund dafür ist unter anderem die öffentliche Stigmatisierung und Tabuisierung des Eingriffs. 'In Deutschland scheint es normaler und akzeptierter zu sein, als Gynäkologin keine Abbrüche zu machen, als es zu tun', sagt Alicia Baier vom Ärzt:innen-Netzwerk Doctors for Choice. 'Wir würden es begrüßen, wenn die Bereitschaft, Abbrüche vorzunehmen, ein Einstellungskriterium sein könnte.'"

Die zahnlose Reaktion Europas auf die Gleichschaltung Hongkongs, aber auch das Nachgeben gegenüber Russland im Syrien-Konflikt haben einige "Grundsätze" der europäischen und besonders auch deutschen Außenpolitik offen gelegt, meint Richard Herzinger in seinem Blog: "Während sich die autoritären Mächte beim Schaffen vollendeter Tatsachen keinerlei Zurückhaltung auferlegen, müht sich Berlin um Kompromisse, die auch den Interessen der Aggressoren Rechnung tragen, um sie weiterhin in einer imaginären globalen Verantwortungsgemeinschaft zu halten. Der alte Leitsatz der deutschen Entspannungspolitik, man habe sich beim Aushandeln von Vereinbarungen mit systemfremden Mächten auch in die Interessenlage der Gegenseite einzufühlen, gerät so zunehmend zum Patentrezept für vorauseilendes Zurückweichen vor autoritären Regimen."
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