9punkt - Die Debattenrundschau

Das Neue, Radikale, Noch-nie-Dagewesene

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2020. In der taz erklärt Till Randolf Amelung den geschlechtlich fluiden Menschen zur reinen Ideologie. Die SZ fragt, wie sinnvoll die neue Begrifflichkeit im Rassismus-Diskurs ist. Die NZZ schildert, welch gute Lehrmeister die Europäer den Ostasiaten waren, wenn es um Abwertung anderer Nationen geht. Die FAZ bemerkt irritiert, dass linke Intellektuelle in den USA jetzt auf Aristoteles zurückgreifen, um John Rawls zu attackieren. Und der Guardian meldet, dass in Ungarn gerade eine weitere Festung der unabhängigen Presse geschleift wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.07.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Der Geschlechterforscher und Trans-Mann Till Randolf Amelung, der schon mit einer klugen Verteidigung von Joanne K. Rowling auffiel (unser Resümee), spricht sich im taz-Interview gegen eine Pädagogisierung des Diskurses aus: Die geschlechtlichen Fluidität aller Menschen sei reine Ideologie, Menschen keine Knetmasse: "Der Psychologe Aaron Lahl drückte das in seinem Essay in meinem 'Irrwege'-Buch treffend so aus - ich zitiere: 'Ein fluider Mensch ohne Identität, der unnennbar mannigfaltig begehrt und identifiziert wäre, wäre vielleicht queer, aber auch ein leibloser Mensch ohne Lebensweg.'"

Jörg Häntzschel geht in der SZ betont unpolemisch der Frage nach, wie sinnvoll und praktikabel die neue Begrifflichkeit im Rassismus-Diskurs ist. Die berühmte Persons of Colour (PoC) oder Blacks and Persons of Colours (BPoC) etwa verdecken die Diskriminierung unter einzelnen Minderheiten selbst, als gäbe es keine Unterschiede zwischen arabischen und afrikanischen Erfahrungen: "Von außen gesehen erscheint der Begriff auch aus einem anderen Grund problematisch: Stoppt er nicht die allmähliche Erweiterung dessen, was in Deutschland als 'normal' und nicht mehr 'fremd' gesehen wird, indem er die Demarkationslinie wieder schärfer zieht? Antwortet man nicht auf das Othering durch die Mehrheitsgesellschaft, indem man sich selbst othert?"

Das Denken in rassissischen Kategorien, ja überhaupt in Rassen, war Ostasien bis zum Zeitalter des Imperialismus fremd, erklärt Ho Nam Seelmann in der NZZ, doch Japaner, Chinesen Koreaner erwiesen sich als gelehrige Schüler: "Indem Ostasien das Eigene zum Teil aufgab und den Westen nachahmte, hat es sich auf die Seite der Weißen geschlagen. Man übernahm und verinnerlichte ihr Rassenmuster, schaute auf die Schwarzen herab und bedachte sie mit Vorurteilen, ohne je selber einem begegnet zu sein. Die koreanischen Migranten in den USA suchten ebenso die kulturelle Nähe zu Weissen. Die eigene Erniedrigung verdrängte man und kämpfte verschämt mit Minderwertigkeitskomplexen gegenüber dem Westen. Gekränkt reagierte man auf Zurückweisung und verbarg die tiefe innere Zerrissenheit zwischen eigener und westlicher Kultur."

Archiv: Gesellschaft

Medien

Bisher war index.hu eines der größten unabhängigen Medien in Ungarn, doch zwei Tage, nachdem Chefredakteur Szabolcs Dull gefeuert wurde, haben die gesamte Chefredaktion und Dutzende von Redakteuren gekündigt, berichtet Shaun Walker im Guardian unter Berufung auf die bisherige Vize-Chefin Veronika Munk: "Munk erklärte, die Redaktion habe den Verleger László Bodolai in etlichen Sitzungen aufgefordert, Dull wieder einzusetzen. 'Immer wieder weigerte er sich. Er behauptete, es sei eine persönliche Entscheidung, aber das glaube ich nicht', sagt sie. Ein der Regierung nahestehender Geschäftsmann hatte zu Beginn des Jahres Anteile um Unternehmen erworben, und vor einem Monat warnte die Webseite, ihre redaktionelle Unabhägigkeit sei in Gefahr. In seiner Abschiedsrede vor der Redaktion erklärte Dull am Mittwoch nach seiner Kündigung: 'Index ist eine mächtige Festing, die sie schleifen wollen.'"
Archiv: Medien
Stichwörter: Index.hu, Dulles, Allen

Ideen

Amerika und Europa trennt doch mehr als ein Ozean, ahnt Florian Meinel in der FAZ: Ausgerechnet eine linke Intellektuelle wie die Philosophin Danielle Allen greift auf auf Aristoteles zurück und attackiert John Rawls, um eine sozialere und gerechtere Demokratie einzufordern: "Allen geht es nicht um Pragmatik, sondern um ein radikales Programm der Versöhnung von individueller und kollektiver Freiheit und Gleichheit. Nun ist es allerdings gerade die Freiheit, die in kapitalistischen Gesellschaften Ungleichheitsdynamiken erzeugt. Gerade besonders liberale und diverse Gesellschaften bilden extreme soziale und ökonomische Ungleichheiten aus. Abhilfe schaffen kann daher nach Allen nur eine Sozialpolitik, die weniger verteilt, als an der Grundstruktur der Gesellschaft ansetzt. Vieles davon ist allerdings eher in den Vereinigten Staaten als in Europa ernsthaft strittig."

Alexander Grau warnt in der NZZ von um sich greifender "gefährlicher Gefühlsduselei" in der Politik: "Politischer Kitsch ist nicht einfach nur eine besonders emotionale oder rührselige Art politischer Kommunikation. Kitschphrasen von der Sorte 'Menschlichkeit kennt keine Grenzen' sind mehr. Sie sind Ausdruck eines Denkens, das selber kitschig geworden ist. Emotionen und Rührseligkeiten sind hier nicht länger Posen des politischen Handelns, sondern strukturieren das politische Denken selbst. Das ist ein wesentlicher Unterschied."
Archiv: Ideen

Geschichte

Wo bleibt das Neue? Wo gibt es das Grundstürzende, das durch Covid-19 hervorgebracht werden könnte? In der Welt klagt Manuel Brug über die kreative Ermüdung der Kunst, die in Deutschland zwar mit üppigen Subventionen bedacht werde, aber keine neue Impulse mehr hervorbringe. Wie anders war das 1918: "Da war der Erste Weltkrieg vorbei, die Spanische Grippe, das wissen wir jetzt wieder, forderte weitere Millionen Tote. Aber mehr noch: Eine Gesellschaftsordnung war umgestoßen, weggeputzt, Europa diverser Monarchien beraubt. Demokratie, Sozialismus, Kommunismus - alles war ein sehr realer Experimentierbaukasten. Und die Künste, damals vorneweg, suchten das Neue, Radikale, Noch-nie-Dagewesene."
Archiv: Geschichte

Europa

Die Mehrheit in der Türkei begrüßt die Umwandlung der Hagia Sophie in eine Moschee, schreibt Thomas Avenarius in der SZ, aber wenn sie auch vermuten, dass Recep Tayyip Erdoğan damit der christlichen Minderheit eins auswische, liegen sie falsch: "Der Schlag, den Erdoğan führt, zielt nicht auf die kleinen, politisch unbedeutenden christlichen Minderheiten in der Türkei. Ziel sind die Säkularen, die Erben Kemal Atatürks. Die Säkularen bilden den Kern der Opposition gegen Erdoğan, deren Ideal ist der laizistische Staat des 'Vaters der Türken'. Wie hatte Erdoğan gesagt? 'Die Hagia Sophia wird von den Ketten der Sklaverei befreit.' Gemeint war das vom rücksichtslosen Reformer Atatürk verordnete Dasein der wichtigsten Osmanen-Moschee als schnödes Museum: mit Gebetsverbot, Eintrittskarte und Touristinnen in kurzen Röcken."
Archiv: Europa
Stichwörter: Hagia Sophia, Sklaverei