9punkt - Die Debattenrundschau
Das Neue, Radikale, Noch-nie-Dagewesene
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Gesellschaft
Der Geschlechterforscher und Trans-Mann Till Randolf Amelung, der schon mit einer klugen Verteidigung von Joanne K. Rowling auffiel (unser Resümee), spricht sich im taz-Interview gegen eine Pädagogisierung des Diskurses aus: Die geschlechtlichen Fluidität aller Menschen sei reine Ideologie, Menschen keine Knetmasse: "Der Psychologe Aaron Lahl drückte das in seinem Essay in meinem 'Irrwege'-Buch treffend so aus - ich zitiere: 'Ein fluider Mensch ohne Identität, der unnennbar mannigfaltig begehrt und identifiziert wäre, wäre vielleicht queer, aber auch ein leibloser Mensch ohne Lebensweg.'"
Jörg Häntzschel geht in der SZ betont unpolemisch der Frage nach, wie sinnvoll und praktikabel die neue Begrifflichkeit im Rassismus-Diskurs ist. Die berühmte Persons of Colour (PoC) oder Blacks and Persons of Colours (BPoC) etwa verdecken die Diskriminierung unter einzelnen Minderheiten selbst, als gäbe es keine Unterschiede zwischen arabischen und afrikanischen Erfahrungen: "Von außen gesehen erscheint der Begriff auch aus einem anderen Grund problematisch: Stoppt er nicht die allmähliche Erweiterung dessen, was in Deutschland als 'normal' und nicht mehr 'fremd' gesehen wird, indem er die Demarkationslinie wieder schärfer zieht? Antwortet man nicht auf das Othering durch die Mehrheitsgesellschaft, indem man sich selbst othert?"
Das Denken in rassissischen Kategorien, ja überhaupt in Rassen, war Ostasien bis zum Zeitalter des Imperialismus fremd, erklärt Ho Nam Seelmann in der NZZ, doch Japaner, Chinesen Koreaner erwiesen sich als gelehrige Schüler: "Indem Ostasien das Eigene zum Teil aufgab und den Westen nachahmte, hat es sich auf die Seite der Weißen geschlagen. Man übernahm und verinnerlichte ihr Rassenmuster, schaute auf die Schwarzen herab und bedachte sie mit Vorurteilen, ohne je selber einem begegnet zu sein. Die koreanischen Migranten in den USA suchten ebenso die kulturelle Nähe zu Weissen. Die eigene Erniedrigung verdrängte man und kämpfte verschämt mit Minderwertigkeitskomplexen gegenüber dem Westen. Gekränkt reagierte man auf Zurückweisung und verbarg die tiefe innere Zerrissenheit zwischen eigener und westlicher Kultur."
Medien
Ideen
Alexander Grau warnt in der NZZ von um sich greifender "gefährlicher Gefühlsduselei" in der Politik: "Politischer Kitsch ist nicht einfach nur eine besonders emotionale oder rührselige Art politischer Kommunikation. Kitschphrasen von der Sorte 'Menschlichkeit kennt keine Grenzen' sind mehr. Sie sind Ausdruck eines Denkens, das selber kitschig geworden ist. Emotionen und Rührseligkeiten sind hier nicht länger Posen des politischen Handelns, sondern strukturieren das politische Denken selbst. Das ist ein wesentlicher Unterschied."