9punkt - Die Debattenrundschau

So recht passt das nicht zusammen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2020. Die NZZ erfährt in einer Eisenacher Ausstellung, wie sich die Evangelische Kirche bei den Nazis anbiederte: Mit einem "Entjudungsinstitut", das sie ganz freiwillig aufbaute. Polen steigt aus der "Istanbul-Konvention" aus, mit der sich europäische Staaten darauf einigten, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, melden Agenturen. Stefan Niggemeier  spießt in den Übermedien den "Waldspaziergang" auf, bei dem der Spiegel auch nichts Neues über einen Extremisten lernte, es aber besonders soßig zu sagen wusste. Aber ein Gutes gibt es heute auch: Wir müssen nicht mehr über den Conway-Knoten grübeln: Er wird sich niemals um einen Teller legen, erklärt die Mathematikerin Lisa Piccirillo in Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.07.2020 finden Sie hier

Geschichte

Wie sich die Evangelische Kirche bei den Nazis anbiederte, indem sie versuchte, alles Jüdische aus ihrer Kirche zu entsorgen, lernt Paul Kahl (NZZ) bei einem Besuch der Ausstellung "Erforschung und Beseitigung. Das kirchliche Entjudungsinstitut 1939-1945" im Lutherhaus Eisenach. Dieses Institut war - ganz ohne Zwang durch die Nazis - gegründet worden, um Christentum und Nationalsozialismus vereinbar zu machen. In Eisenach, weil Luther ein Antisemit war: "Mit seiner Schrift 'Jesus der Galiläer' erzielte [der Leiter des Instituts, der Theologe Walter Grundmann] breite Resonanz. Für Grundmann ergab es sich 'mit Notwendigkeit, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Jesus, da er auf Grund seiner seelischen Artung kein Jude gewesen sein kann, es auch blutsmäßig nicht war'. Mit zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeitern aus dem ganzen Reichsgebiet schuf Grundmann eine 'entjudete Bibel', die Jesus zum überzeugten Kämpfer gegen das Judentum machte. Ihre erste Auflage war rasch vergriffen."

Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts, und Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, treten in der FAZ mit mit einem gemeinsamen Vorschlag zur Frage eines weiteren Mahnmals in Berlin hervor: Er soll den Streit zwischen jenen, die ein Mahnmal für die polnischen Opfer wollen, und jenen, die des Besatzungskriegs generell gedenken wollen, versöhnen: Und "es soll - Putins Geschichtspolitik zum Trotz - vergegenwärtigen, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 durch das Zusammenwirken Hitlers und Stalins mit der Zerstörung der Republik Polen begann, den bis zu sechs Millionen zivilen Opfern Polens, aber auch den bis zufünfzehn Millionen zivilen Opfern der Sowjetunion gerecht werden."
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Gesellschaft

In Portland, Oregon, drohen die Proteste gegen Donald Trump die Bewegung Black Lives Matter zu überschatten. Dagegen regt sich jetzt Protest in der schwarzen Community, berichtet Chris McGreal in einer Reportage für den Guardian. Dabei erfährt man recht überraschend, dass Portland eine der weißesten Städte in den USA überhaupt ist. "Der Präsident der Portland-Zweigstelle der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), ED Mondainé, warnte davor, dass die Black Lives Matter-Bewegung in der Stadt von 'privilegierten Weißen' mit anderen Agenden benutzt wird. Er sagte, die Konfrontationen mit den vom Präsidenten entsandten Bundesbeamten seien kaum mehr als ein 'Spektakel und eine Ablenkung, die nichts mit der Sache für die Gleichberechtigung der Schwarzen zu tun habe'. Mondainé warf Gruppen junger Weißer an vorderster Front der Konfrontation mit den Bundesbeamten vor, sie seien Trumps Köder aufgesessen und hätten die Kampagne gegen Rassenungerechtigkeit dazu benutzt, einen Kampf zu provozieren, um andere Agendas, wie zum Beispiel den Antikapitalismus, zu verfolgen. 'Die Kinder der Privilegierten tanzen auf den Bühnen derer, die ihr Leben für diese Bewegung gegeben haben', sagte er dem Guardian."

Carolin Görzig von der Forschungsgruppe "Wie 'Terroristen' lernen" am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle entwickelt auf der Gegenwart-Seite der FAZ ein Generationenmodell für die Geschichte des Terrorismus. Einer anarchistische Welle (1880er bis 1920er-Jahre), seien eine antikoloniale Welle (1920er-1960er), die Welle der Neuen Linken (1960er-1990er) und die gegenwärtige religiöse Welle gefolgt. Nun ist die Generation Z dran: "Wenn die fünfte Welle eine Reaktion auf Globalisierung als aktueller Ausdruck der dominierenden Weltordnung ist, könnte ihre Antwort im Rückzug auf das Lokale liegen. Das Erstarken antiliberaler und rechtsextremer Kräfte ist ein Trend, der sich mit dem Aufstieg von Populisten wie Victor Orbán und Donald Trump bereits abzeichnete und sich in den jüngsten Attentaten von Christchurch, Halle und Hanau bestätigt."

Der Basketballspieler Moses Pölking möchte die Berliner U-Bahn-Station Onkel Toms Hütte umbenennen, weil der Roman von Harriet Beecher Stowe, aus dem sich der Name der Station und der Siedlung herleiten, rassistisch sei und darum für Schwarze beleidigend. Es wird ihm wohl nicht gelingen, vermutet Paul Ingendaay in der FAZ, aber "seine Aktion ist dennoch nicht sinnlos gewesen". Denn der Roman Stowes war zwar ein mächtiges Pamphlet gegen Sklaverei, aber dennoch tatsächlich rassistisch, wie Ingendaay aus einer neuen Lektüre lernt: "Es mag den Fans des Buches unfair vorkommen, die Klischees des sentimentalen Romans einer Autorin anzulasten, die ja gegen die Sklaverei kämpfte, aber eben darum geht es: Der zeittypische Rassismus des Buches gehört untrennbar zu seiner Konzeption und funktioniert unabhängig von seiner sozialreformerischen Absicht."
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Europa

Polen steigt aus der "Istanbul-Konvention" aus, mit der sich 33 europäische Staaten im Jahr 2012 darauf einigten, Gewalt gegen Frauen zu unterbinden. Das wurde laut einem Ticker in Zeit online am Samstag in polnischen Medien gemeldet: Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro "hat das Abkommen in der Vergangenheit als 'feministische Schöpfung zur Rechtfertigung der homosexuellen Ideologie' bezeichnet. Rund 2.000 Menschen gingen am Freitag in der Hauptstadt Warschau gegen den von der Regierung geplanten Rückzug aus der Konvention auf die Straße."

Die patriarchale Gesellschaft in Russland macht nicht nur Frauen unglücklich, sondern genauso die Männer, erklärt Elena Chizhova in der NZZ.
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Medien

Aus der Relotius-Affäre mag der Spiegel gelernt haben, dass man besser bei den Fakten bleibt, aber leider nicht, dass man auch den gefühligen Ton deutscher Reportagen aufgeben sollte. In der aktuellen Nummer sind zwei Spiegel-Autoren mit dem Extremisten Attila Hildmann auf einem "Waldspaziergang". Stefan Niggemeier spießt das Stück in seinen Übermedien auf: "Man kann den Inszenierungen von gefährlichen Verschwörungserzählern mit Mordfantasien nicht oft genug eine Bühne geben. Mordfantasien? Ach ja, über den Grünen-Politiker Volker Beck sagte Hildmann bei einer Demonstration: 'Wenn ich Reichskanzler wäre, dann würde ich die Todesstrafe für Volker Beck wieder einführen, indem man ihm die Eier zertretet auf einem öffentlichen Platz!' Im Spiegel darf er Beck dazu noch als Pädophilen bezeichnen und davon träumen, dass man 'noch schlimmere Sachen' mit ihm machen müsste, aber natürlich nur als Fantasie, nur als Fantasie. Der Spiegel arrangiert die Kleine-Racker-Geschichte und die Käfer-Rettungs-Episode als Kontrast zu Hildmanns Mordgedanken über Volker Beck und bemerkt fröhlich unbedarft: 'Tiere schützen, Menschen schlachten, so recht passt das nicht zusammen.'"
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Wissenschaft

Es ist ja auch schön, wenn Debatten mal definitiv beendet werden - wie die über die "Conway-Knoten", ein mathematisches Problem über die Frage, ob man den besagten Knoten in der vierten Dimension so legen kann, dass er einen Teller umrandet. Seit fünfzig Jahren zerbrechen sich Mathematiker darüber den Kopf. Lisa Piccirillo, die eigentlich über andere Themen forscht, notierte dann die Lösung sozusagen en passant (die Antwort ist nein), und war sich zunächst gar nicht bewusst, was sie damit angestellt hatte, erzählt sie Elena Erdmann in Zeit online: "Zum ersten Mal hat sich das angedeutet, als ich mich mit meinem Professor Cameron Gordon getroffen habe. Eigentlich wollten wir über etwas anderes sprechen, aber ich habe ihm erzählt, dass ich in der letzten Woche über das Conway-Problem nachgedacht hatte und es gelöst hatte. Er sagte: 'Ach, wirklich? Wie denn?' Ich habe die Lösung an die Tafel geschrieben und er wurde plötzlich ganz aufgeregt und hat gerufen: 'Warum freust du dich nicht mehr?' Erst als ich für das Paper die Geschichte des Conway-Knotens aufgeschrieben habe, habe ich gemerkt, dass andere Mathematiker seit fünfzig Jahren daran geforscht haben."
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Ideen

Auch Muslime können republikanische Tugenden wie Rationalismus, Pluralismus, Säkularismus und Toleranz pflegen, antwortet der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze in der NZZ auf einen Kommentar Bassam Tibis (unser Resümee). "Tatsächlich rechtfertigen viele Muslime diese Tugenden ebenso, wie Atheisten, Christen oder Agnostiker. Sie tun dies nicht, um Europäer zu sein, sondern aus dem allgemeinen Bedürfnis, das sittliche Gute zu gestalten. Sie sehen im Islam eine Ressource, dem Geltung zu verschaffen. Ihr Islam übersetzt, wie Wolfgang van der Daele es formulierte, Wirklichkeiten in Möglichkeiten, Handlungsgrenzen in Handlungsoptionen, Substanzen und Wesenheiten in Funktionen, absolute Werte in Präferenzen. ... Statt den islamischen Traditionsgebrauch zu delegitimieren, wäre es daher angebracht, die Musliminnen und Muslime bei einer Neubegründung der republikanischen Tugendordnung gleichberechtigt mitwirken zu lassen."
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