9punkt - Die Debattenrundschau

Mit Maronen oder Maiskolben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2020. Volksfeststimmung vor der Hagia Sophia, aber die Leute haben nichts zu beißen, notiert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Die Welt hat wenig Geduld mit 15 weißen Nachwuchsjournalist*innen aus der 58. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule, die einen offenen Brief geschrieben haben. Das Blog themarkup.org fragt, ob Google eigentlich noch auf irgendwelche Seiten außerhalb von Google verlinkt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.07.2020 finden Sie hier

Europa

Dass die Mengen, die die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee feiern, schütter seien, kann Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne eigentlich nicht behaupten. Er unternimmt einen Spaziergang von seiner Istanbuler Wohnung zur Moschee und schildert den Andrang der Edogan-Anhänger ("auch zahllose Deutschtürken, unschwer an ihrem Türkisch mit Akzent zu erkennen"): "Früher füllten ausländische Touristen in Sandalen, Shorts und Unterhemd den Platz, jetzt sind es Frauen mit Kopftuch oder Çarsaf, dem türkischen Tschador. Es herrschte Volksfeststimmung. Stände mit Maronen oder Maiskolben, ambulante Händler, die Fälschungen bekannter Marken anbieten. Still wurde es erst, als der Ruf zum Nachmittagsgebet erklang. Vor den sonst von ausländischen Touristen überlaufenen Cafés und Eisdielen drängelten sich jetzt zur Hagia Sophia strömende Türken." Ein paar Meter weiterer sieht Bülay junge Frauen und Kinder im Müll von McDonald's wühlen: Die Wirtschaftskrise, so Mümay, wird Erdogan mit seinem Neo-Osmanismus nicht besiegen.

Durch den drohenden Brexit ohne Deal steht die internationale Zusammenarbeit von Polizeibehörden auf dem Spiel. Für Großbritannien heißt das, dass es Terrorismus und Kriminalität leichter haben werden - die britische Behörden profitieren nicht mehr von den Erkenntnissen ihrer europäischen Kollegen, Zusammenarbeit ließe sich nur noch umständlich auf diplomatischem Wege herstellen, warnt Paul Taylor in politico.eu: "Dies sollte in einem Land, das eines der größten Ziele islamistischer Extremisten, Drogenkuriere, Menschenhändler und Geldwäscher ist, ein nationaler Skandal sein. Und doch wird die drohende Gefahr für öffentliche Sicherheit und Verbrechensbekämpfung in der Berichterstattung über die Brexit-Verhandlungen kaum erwähnt. Meist geht es um Handel und Fisch."
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Kulturpolitik

Mit der Auflösung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz würde eine Tradition der Preußenfeindlichkeit fortgeschrieben, die Preußen arg verkürzt - sozusagen als Vorläufer oder Wegbereiter der Nazis - betrachtet, meint Claudia Schwartz in der NZZ. "Da war Deutschland eigentlich schon einmal weiter. So nutzt die Bundespolitik in Berlin seit zwei Generationen wieder jene monumentalen Architekturen, welche die Nationalsozialisten bauten. Was Walter Benjamins kritischem Geschichtsbegriff entspricht, der besagt: 'Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein.' Der frühere SMB-Generaldirektor Peter-Klaus Schuster wies gerne auf das nationale Pathos der Inschrift unter dem Giebel der Alten Nationalgalerie hin - 'Der Deutschen Kunst'. Womit Preußen bereits 1865, also Jahre vor der im Politischen realisierten Einheit, ein Zeichen der deutschen Kulturnation setzte. Man kann vom Namen Preußen absehen, aber die kulturelle Heimat einer Nation liegt immer im Rücken der Geschichte."
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Medien

In der Welt hat Manfred Klimek wenig Geduld mit den Robespierristen - 15 weißen Nachwuchsjournalist*innen aus der 58. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule -, die in einem Aufruf gerade die alten, weißen Journalisten aufgefordert haben, ihre Plätze zu räumen und diese für junge nicht weiße Journalisten freizumachen. Warum nicht bei sich selbst anfangen, fragt Klimek, den pauschalen Rassismusvorwurf gegen die Alten vom Tisch wischend: "Liebe 58. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule, liebe Leonie Schlick, liebe 15 Brigadisten: Tretet auch Ihr zurück, Ihr weißen Privilegierten. Macht Platz für 15 junge, auszubildende BIPoC-Journalisten, die uns mit trefflicher Sicherheit besser über den unzweifelhaft vorhandenen Alltagsrassismus in Deutschland berichten können als Ihr. Leute, macht ernst: Geht freiwillig. Weil: This time, the revolution will be televised."

Stefan Niggemeier liest für seine Übermedien ein Buch eines ehemaligen Starreporters der SZ, Birk  Meinhardt, der mit seiner einstigen Zeitung abrechnet: "In seiner Schilderung ist die SZ ein Blatt, in dessen Redaktion man Schwierigkeiten bekommt, wenn man versucht, Artikel zu schreiben, die nicht ins sorgfältig kurartierte Bild passen. Die die übersichtliche Weltsicht stören, die Sortierung von Gut und Böse verkomplizieren. Ein Blatt, das - kurz gesagt - genau so ist, wie es die Kritiker von sogenanntem 'Haltungsjournalismus' und sogenannten 'Mainstreammedien' immer schon angenommen haben."
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Gesellschaft

In der Welt versucht Samuel Schirmbeck, der zehn Jahre als ARD-Korrespondent in Nordafrika gearbeitet hat, psychologisch zu erklären, warum an den jüngsten Ausschreitungen in Stuttgart und Frankfurt oft junge Muslime beteiligt waren: Sie betrachten den öffentlichen Raum als feindliches Gebiet, das die Ungläubigen beherrschen. Zwar tun sie all die verbotenen Dinge, die etwa auf dem Opernplatz geschehen - küssen, flirten, Bier trinken - gern selbst, aber eigentlich ist es ihnen ja verboten: "Die Nicht-Muslime der 'ACAB'-Gemeinde (All Cops Are Bastards), die ihnen applaudieren, haben von diesem zerstörerischen und selbstzerstörerischen Krieg im Innern junger Muslime keine Ahnung. ... Deshalb verdiente es dieser Migrationshintergrund, stärker in den Vordergrund gerückt und sein ambivalentes, oft feindseliges Verhältnis zu den westlichen Werten analysiert zu werden - gerade weil die nicht migrierende muslimische Jugend in Algier und anderswo für die Verwirklichung solcher Werte im Rahmen der islamischen Zivilisation auf die Straßen geht."

In dem ganzen Streit um Redefreiheit links und rechts geht es vor allem um eins: Macht, meint Lukas Hermsmeier auf Zeit online. Die Angst vor Machtverlust sieht er vor allem bei denen, die vor der Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Linke warnen. "Die Positionen in dieser Debatte scheinen verhärtet. Für eine Annäherung müsste man sich wohl von der Idee verabschieden, dass es so etwas wie eine feste Ordnung für den Diskurs geben kann. Sicherheit und Freiheit sind viel zu fluide und subjektive Konzepte, um als statische Gegenpole zu funktionieren. Entscheidender wäre es, sich mit den Machtkonstellationen zu beschäftigen, strukturell und von Fall zu Fall. Für eine Redakteurin, die als Transperson nicht nur gegen Beleidigungen auf Twitter kämpft, sondern auch dafür, dass ihre Grundrechte vom Staat akzeptiert werden, ist die Debatte von Anfang an unfreier als etwa für einen weißen Cis-Mann, der in renommierten Magazinen publiziert."

Der amerikanische Journalist Matt Taibbi sieht das in seinem Blog ganz anders: "Einst versuchten die Konservativen, gesetzlich zu regeln, was in Ihrem Schlafzimmer vor sich ging; jetzt ist es die Linke, die von sexuellen Kodizillen besessen ist, nicht nur für das Schlafzimmer, sondern für alles. Rechtsextreme gerieten von Zeit zu Zeit in die Schlagzeilen, wenn sie gegen alles von 'Die letzte Versuchung Christi' bis hin zu 'Fuck the Police' kämpften, obwohl wir über die Idee lachten, dass Ice Cube Polizisten buchstäblich unsicher mache. Man verstand, dass ein Künstler etwas ziemlich Ehrgeiziges tun müsse, wie in der Öffentlichkeit auf ein Kruzifix pissen, um konservative Demonstranten von ihren Sofas hoch zu kriegen. Heute gilt die Unterzeichnung eines Gruppenbriefes von Matt Yglesias mit Noam Chomsky als bedrohlich. Darüber hinaus kann einen viel weniger als die Eröffnung einer Robert Mapplethorpe-Ausstellung in die Bredouille bringen - eine Schlagzeile, ein Retweet, ja sogar likes kostet die Menschen Arbeitsplätze."

Sechzig Akademikerinnen und Akademiker haben in einem Brief an die Bundeskanzlerin den Antisemitismusbeauftragen Felix Klein kritisiert und vor einem "inflationären Antisemitismusbegriff" gewarnt, der jede "legitime Kritik" an Israel unmöglich mache und zu einer  "Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst" führe. Völliger Unsinn, antwortet darauf die Berliner Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel in der Welt, jeden Tag werde Israel kritisiert. Doch: "In der Tat, es gibt ein Klima der Brandmarkung, Angst und Einschüchterung! - unter Jüdinnen und Juden in Deutschland, die es trotz prompter Verbalattacken gegen sie noch wagen, gegen das aggressive antiisraelische Narrativ den Mund zu öffnen, und gegen Bürgerinnen und Bürger, die versuchen, Fakten gegen krude Meinungen zu setzen. In der Tat, es gibt die Gefahr der Einschränkung von Meinungsfreiheit - denn proisraelische oder auch israel-neutrale Stimmen werden entweder massiv diskreditiert oder kaum publiziert. Eine jüngst durchgeführte Umfrage zeigt, dass insbesondere freie Journalistinnen und Journalisten massiv unter diesem Trend zu leiden haben und dass sie Hassattacken in den sozialen Medien erdulden müssen, wenn sie sich proisraelisch/neutral artikulieren."
Archiv: Gesellschaft

Internet

(Via Meedia). Die New York Times verabschiedet sich mehr oder weniger von digitaler Werbung die ihr (wie auch dem Perlentaucher auf ein paar Werbeplätzen) von dritten Anbietern zugespielt wird und die meist auf eine ziemlich enge Überwachung der Nutzer setzen, wie Robin Berjon in der Times in einem ausufernden Blogbeitrag erklärt. Im Grunde läuft's darauf hinaus, dass man wieder selber akquiriert: "Wir verringern unsere Abhängigkeit von Dritten, indem wir unsere eigenen Fähigkeiten entwickeln, Anzeigen zu platzieren, die nicht auf der Verfolgung der Leser über ihr gesamtes vernetztes Leben hinweg basieren. Um Anzeigen effektiv zu gestalten, ohne zu wissen, wem sie präsentiert werden, haben wir verbesserte kontextbezogene Targeting-Funktionen entwickelt."

(Via turi2) Und noch ein Problem, das vielleicht die New York Times und überhaupt fast jeden betrifft, der im Internet etwas aufbauen will: Google lenkt inzwischen vierzig Prozent der Suchanfragen auf eigene  Seiten, wo es die Nutzer prächtig überwachen und mit eigener Werbung bombardieren kann, berichten Adrianne Jeffries and Leon Yin in themarkup.org und zitieren einen Betroffenen: "'Google hat mit dazu beigetragen, das freie Internet aufzubauen. Jetzt trägt es dazu bei einzureißen, was es aufbaute', sagt Chris Cummings, der Chef von Curiosity Media, dem die Übersetzungswebsite SpanishDict.com gehört. Die Seite bietet freie Übersetzungen und Wörterbucheinträge, viele von Linguisten und Übersetzern geschrieben. Es lebt von Werbung und braucht Traffic um zu überleben. Jahrelang, sagt er, wuchs seine Website mit Google. Aber dann war Google Translate der Top Spot bei Übersetzungssuchen..."

Marian Turski, geboren 1926, schreibt heute in der FAZ einen offenen Brief an Mark Zuckerberg mit der Aufforderung, Hassrede auf Facebook zu unterbinden: "Wenn auf Facebook jemand dazu anstiftete, mich, Marian Turski, umzubringen, dann glaube ich, dass Sie das sicher für unzulässig halten würden. Aber Menschen, die heute den Holocaust leugnen, verfolgen eine Ideologie und geben sie an die junge Generation von heute weiter, die den Tod von sechs Millionen Marian Turskis verursacht hat. Deshalb appelliere ich heute an Sie, - nicht wider die Demokratie, sondern der Demokratie zuliebe - nicht zuzulassen, dass Holocaust-Leugner auf Facebook in Erscheinung treten."
Archiv: Internet