9punkt - Die Debattenrundschau

Quasi ein Fadenkreuz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2020. Der Streit über Antisemitismus und und angeblich inflationär vorgebrachte Antisemitismusvorwürfe in Deutschland geht weiter. Nein, schreibt Alan Posener in Zeit online an die Adresse der sechzig Intellektuellen, die sich bei Angela Merkel beschweren, Antisemitismus ist nicht allein rechts verortet. Auch Ze'ev Avrahami unterstützt Felix Klein in der taz.  Ist Isabel Wilkersons Essay "Caste" das "bedeutendste amerikanische Sachbuch des bisherigen Jahrhunderts"? Hunderprozentig, findet Dwight Garner in der New York Times. Je absurder Trumps Äußerungen, desto größer seine Chancen, fürchtet Armin Nassehi im Tagesspiegel. In der FR spricht Natascha Strobl über Hassmails von Rechtsextremen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Alan Posener greift in Zeit online den Brief der sechzig Intellektuellen um den ehemaligen Antisemitismusforscher Wolfgang Benz auf und stößt sich unter anderem an der Ansicht der Autoren, dass die "realen antisemitischen Gesinnungen" eigentlich nur "rechts" zu verorten seien. "Merke: Wenn deutsche Muslime Juden am Schulbesuch hindern; wenn deutsche BDS-Aktivistinnen verhindern wollen, dass koschere Waren aus Israel hier verkauft oder israelische Akademikerinnen eingeladen werden; wenn schwarze und muslimische Rapper die Juden als den Weltfeind ausmachen; wenn jeder Jude in Deutschland befürchten muss, haftbar gemacht zu werden für das, was irgendein Knallkopf für die Verbrechen 'der Juden' - sprich Israels - hält, dann ist das nicht 'real'. Real ist einzig der Judenhass von rechts."

In der taz liest Ze'ev Avrahami den Brief der sechzig Intellektuellen - und stellt sich auf die Seite des Beauftragten der Bundesregierung Felix Klein: "Er hat begriffen, dass das Problem nicht nur an den Rändern der Gesellschaft (bei den Rechten) liegt, sondern auch in ihrer Mitte." Dann sieht er sich die Unterzeichner des offenen Briefs an, die ihre Erwartungen äußern "dass die Bundesregierung ihre Verantwortung im  Sinn der Friedenskräfte wahrnehmen wird, die immer schon Teil der jüdischen Gemeinschaft waren und sind". Avrahami fragt sich, warum so wenige Deutsche unter den Unterzeichnern sind: "Sie mussten es nicht. Ihre Lieblingsjuden haben es für sie getan. Jetzt können sie sagen: 'Schau, ich bin das ja nicht, meine jüdischen Freunde sagen es.' Ich selbst war einige Jahre lang mit einem Paar hier in Berlin befreundet, bis ich herausfand, dass ich ihr Lieblingsjude war. Ja, selbst das jüdische Museum wurde so genutzt. Weil Attacken gegen Juden ein absolutes Tabu sind, wurden Umwege gefunden, um den Antisemitismus auf kleiner Flamme köcheln zu lassen: die unfundierte, unbegründete Kritik an Israel."

Rebecca Blady ist Nebenklägerin in dem Prozess gegen den Attentäter von Halle. Im Gespräch mit Thyra Veyder-Malberg von der Jüdischen Allgemeinen schildert sie ihre Eindrücke vom Prozess und spricht darüber, wie sich ihre anfängliche Irritation über die Prozessführung der Richterin wandelte. Denn die Richterin stellt dem Attentäter Fragen und lässt ihn antworten. Zunächst erschien es Blady unerträglich, dass sie ihm eine Bühne bot: "Dann ist mir klar geworden, dass ihre Strategie es möglich gemacht hat, zu hören, wie er denkt. Wirklich beängstigend war, dass er seine Waffen und Vorbereitungen fast genauso ausführlich geschildert hat wie seinen Hass auf Fremde und arabische und muslimische Geflüchtete. Er war sehr stolz auf seine Waffen. Und diese zwei Gedankenstränge - die Liebe zu Waffen und der Hass auf Minderheiten - sind entsetzlich und offensichtlich tödlich. Das hätten wir nicht erfahren, wenn die Richterin nicht so sorgfältig nachgefragt hätte."

Der SZ-Autor Friedemann Karig beschließt eine Therapie bei Josephine Apraku zu machen, die in ihrem "Institut für diskriminierungsfreie Bildung" ein rassismuskritisches Training anbietet. In einer dreiseitigen Reportage (die allerdings nicht mal für Bezieher des Epapers lesbar ist) will er sich über sein Weißsein aufklären lassen und über die "Vorteile, die an dieser Farbe hängen, die Zuschreibungen und Erzählungen, die darum gewoben sind und das Konstrukt 'Rasse' (weshalb ich das Wort in Anführungsstriche setze) ergeben. Mir war das eher gleichgültig. Uns geht es ja gut damit. Das Problem haben und sind die anderen. Früher dachte ich: Solidarität mit Schwächeren reicht. Heute zweifle ich daran. Was, wenn wir für die Teilung verantwortlich sind?"
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Medien

Die Rechtsextremismusexpertin Natascha Strobl (die im Februar in der FR einen Essay über "Die Rechten und die Sprache" veröffentlichte) ist nach einem Streit mit dem Welt-Kolumnisten Don Alphonso einem Ansturm von Hassmails ausgesetzt. Don Alphonso hatte sie wegen einer Äußerung auf der Website der Sendung "Panorama" angegriffen, im Netz hat er eine gläubige Gefolgschaft, die gern kräftig zubeißt. Im FR-Gespräch mit Viktor Funk sieht Strobl durchaus Parallelen zu den "NSU 2.0"-Hassmails an linke Politikerinnen: "Im globalen Rechtsterrorismus sehen wir, dass solche Stimmungen zu Radikalisierung führen. In irgendwelchen Foren im Internet schießen sich dann die Nutzer auf einzelne Personen ein, diese Person bekommt dann quasi ein Fadenkreuz auf den Kopf. Die Idee in solchen Gruppen ist, dass man sich gegenseitig anstachelt. Und dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert." Die Redaktion von "Panorama" hat ebenfalls zu dem Streit Stellung genommen.

Ganz frisch ist die Guardian-Meldung, dass Rupert Murdochs Sohn James seinen Rücktritt aus  dem Vorstand des Medien-Imperiums erklärt - und zwar weil er politisch mit den Positionierungen des Alten und vor allem mit dessen Ansichten zum Klimawandel nicht einverstanden sei.
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Ideen

Amerika hat zur Zeit nur zwei Themen, die auf komplizierte Weise verwoben sind: Trump und Rassismus. Sehr schön dokumentiert das Dwight Garners hymnische New-York-Times-Besprechung von Isabel Wilkersons Essay "Caste", der für ihn ein "instant American classic" und überhaupt das "entscheidende amerikanische Sachbuch des bisherigen Jahrhunderts" ist (nebenbei ist sie eine Kollegin, die ebenfalls für die Times schreibt). Die Argumente Wilkersons, die er zitiert, klingen dann aber nicht unbedingt, als sei hier gerade der neue Kant geboren: Unter anderem stelle sie sich wie viele andere die Frage, warum die armen Weißen gegen ihre Interessen stimmten, als sie für Trump votierten. "Sie geht mit dem Begriff des weißen Vorurteils weiter als alle bisherigen Kommentatoren es getan haben oder tun wollten, und der Saft ihrer Argumente folgt dem Schnitt ihres Messers. Was diese Experten nicht bedacht hatten, schreibt Wilkerson, 'ist, dass die Leute, als sie so stimmten, durchaus ihren Interessen folgten. Das Kastensystem zu erhalten, wie es war, hatte immer in ihrem Interesse gelegen. Und einige waren willens, kurzfristige Unannehmlichkeiten zu ertragen, auf Krankenversicherung zu verzichten, die Verschmutzung von Wasser und Luft zu ertragen, ja zu sterben, um ihr langfristiges Interesse an der Hierarchie, wie sie sie kannten, zu schützen."
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Geschichte

Arno Widmann liest in der FR Brendan Simms' Hitler-Biografie und kann dessen Thesen einiges abgewinnen: "Die Propaganda des seit Herbst 1919 überaus erfolgreichen Redners erst der Deutschen Arbeiterpartei, dann der aus ihr hervorgegangenen NSDAP, richtete sich - das ist eine der zentralen Beobachtungen von Simms - gegen Großbritannien und die USA. Der frühe Antisemitismus Hitlers war ein Antikapitalismus. Es ging gegen 'den Tanz ums goldene Kalb' in Berlin und an der Wall Street."
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Politik

Der Schlüssel zur Wahl in Amerika im November ist das Wahlsystem, schreibt Verena Lueken in der FAZ, und dieses bietet einige Tücken, die Donald Trump ausnutzen zu wollen scheint, etwa wenn die Briefwahlauszählung sich in die Länge zieht und umstritten bleibt: "Ein Wahlergebnis wie jenes bei der Wahl von George W. Bush im Jahr 2000, als Al Gore zunächst als Sieger ausgerufen wurde und später seine Niederlage anerkannte, wäre ein Desaster. So hat es Lawrence Douglas, Juraprofessor an der Universität von Amherst, in seinem Buch 'Will He Go?' beschrieben. Wären der Kongress, die Gerichte in der Lage, eventuelle Unklarheiten über den Wahlausgang zu bereinigen? In diesem Jahr gibt es keinen Gentleman wie Al Gore, so Douglas, der das Land vor einem vollständigen Zusammenbruch des Wahlsystems und vor gewalttätigen Unruhen bewahren könnte, die ihm folgten."

Jedenfalls sollte man sich nicht allzusehr über die offenkundige Absurdität vieler Äußerungen Trumps, sei es zu Corona, sei es zu Briefwahlen, freuen, warnt Armin Nassehi im Tagesspiegel - es ist gerade deren Abstrusität, die seine Gegner entwaffnet - so war's schon 2016, erinnert Nassehi: "Die Situation damals war ähnlich wie heute. Je idiotischer Trumps Reden und Debattenbeiträge aussehen, desto stärker sind sie in der Lage, die Debatte zu bestimmen und desto schwächer machen sie das Gegenargument... Ein wenig hoffnungsvoll stimmt die Tatsache, dass Joe Biden und die Gegner von Trump bis dato auf allzu viel Kommunikation verzichten. Vielleicht haben sie gesehen, dass der beste Beweis für fehlende Anschlussfähigkeit im fehlenden Anschluss liegt."
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Europa

Thilo Sarrazin wurde gestern nach jahrelangen Traktationen aus der SPD ausgeschlossen, endlich, seufzt Timo Lehmann in Spiegel online: "Die Hürden für einen Parteiausschluss sind zurecht hoch. Die Schiedsgerichte sollen gerade nicht dafür genutzt werden, innerparteiliche Konflikte auszutragen. Doch bei Sarrazin ging es nicht um eine Strömung in der Partei, sondern um die Frage, ob da jemand grundsätzlich gegen die SPD agiert, die sich den Kampf gegen Rassismus seit Beginn ihres Bestehens auf die Fahne schreibt. Sarrazin ist mehr als ein 'Islamkritiker', mehr als ein ungemütlicher Bedenkenträger."
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