9punkt - Die Debattenrundschau

Die amorphen Räume der res publica

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2020. Zornig prangert Arundhati Roy im Guardian die Zustände in Kaschmir an, das vor einem Jahr von der hindunationalistischen Regierung gleichgeschaltet wurde und bis heute unter dem Militärregime leidet. Der Tagesspiegel offenbart einen möglichen Justizskandal in Berlin: Rechtsextreme Sympathien in der Staatsanwaltschaft. Die FAZ schildert die schwierige Lage amerikanischer Museen in Corona-Zeiten. In der taz ruft Ronya Othmann : "Der Kampf gegen den Islamismus ist Teil des antifaschistischen Kampfes."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.08.2020 finden Sie hier

Politik

"Dass das Ganze wohl kein Anschlag war, macht es für die Libanesen nicht weniger politisch", schreibt Karim El-Gawhary zur ungeheuren Explosion in Beirut, die auf schlampige Lagerung eines höchst gefährlichen Stoffs zurückzuführen ist. "Für sie ist es ein weiterer Beweis dafür, dass sie inzwischen in einem völlig gescheiterten Staat leben. Die einstige Schweiz des Nahen Ostens, als die sich der Libanon einst gerne vermarktet hat, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst... Die Verzweiflung ist überall im Land zu spüren. Doch die völlig zerstrittene politische Elite und die regierenden Familienclans sind unfähig, die Krise zu meistern. Sie arbeiten immer noch in den überkommenen konfessionellen Schemata und versuchen, sich durch den üblichen Kuhhandel untereinander durch die Krise zu schmuggeln." Hier Julia Neumann Bericht aus Beirut. Und Stefan Schaafs Erläuterungen zum Ammoniumnitrat.

Die Krisen im Libanon sind "hausgemacht", schreibt auch Andrea Nüsse im Tagesspiegel: "Die Resilienz der Bewohner des Libanon hat ihnen weltweit Bewunderung eingebracht. Doch sie hat auch dazu geführt, dass der Libanon seine Chance zur politischen Reform nach dem Abzug der letzten ausländischen Macht 2005 nicht genutzt hat. Das fragile politische System, das auf einem konfessionellen Proporz basiert, blieb bestehen. Nicht ein Diktator, sondern einige Clans, die sich die staatlichen Institutionen und deren Budgets untereinander aufteilen. Das Ergebnis: Selbst Basisleistungen eines Staates wie die Elektrizitätsversorgung funktionieren nicht. Die Bergungsarbeiten konnten in der Nacht nach der Explosion kaum weitergehen, weil es keinen Strom und damit kein Licht gab."

Vor einem Jahr hat Indien das rebellische Gebiet Kaschmir gleichgeschaltet. Das Internet wurde abgestellt, Tausende landeten im Gefängnis - und viele sind da immer noch, schreibt eine zornige Arundhati Roy im Guardian. "Nur ein paar Monate Lockdown durch Covid haben die Welt in die Knie gezwungen, und das ganz ohne ohne eine militärische Ausgangssperre und strikte Überwachung der Kommunikation… Und nun denken Sie an Kaschmir, das unter dem schärfsten Militärregime der Welt steht. Zu der Last, die das Coronavirus Ihnen auferlegt hat, kommen ein Labyrinth aus Stacheldraht auf Ihren Straßen, Soldaten, die in Ihre Häuuser einfallen, Ihre Lebensmittelvorräte vernichten, Frauen vergewaltigen und Menschen foltern, deren Schreie sie über öffentliche Lautsprecher vervielfältigen."
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Europa

Wie viele andere nicht demokratische Staaten lügt Alexander Lukaschenkos Weißrussland über die wahren Corona-Zahlen. Aber das stellt auch die Präsidentschaftswahlen mit ihrem automatisch eingebauten Wahlsieg Lukaschenkos in ein anderes Licht, kommentiert Barbara Oertel in der taz: "Nicht zuletzt dieser ignorante Umgang mit der Pandemie hat einem wachsenden Teil der Bevölkerung den Zynismus der Staatsmacht wieder klar vor Augen geführt. Es wird nach Kräften gelogen und verschleiert. Lukaschenko geht auch über Leichen, wenn es dem eigenen Machterhalt dient."
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Geschichte

"Heute spricht niemand mehr vom Atomzeitalter. Dabei leben wir mehr als jemals darin", schreibt Arno Widmann in der Berliner Zeitung mit Blick auf den 75. Jahrestag der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki: "Nicht weil es 13.400 einsatzbereite Sprengköpfe gibt - in den Hochzeiten des Kalten Krieges waren es mehr als doppelt so viel - , sondern weil es heute mehr Staaten gibt, die welche zum Einsatz bringen können. Derzeit hat Russland etwas mehr als 6000 Sprengköpfe, die USA  etwas weniger. Dann folgen China, Frankreich, Großbritannien. Es gibt Beobachter, die als eine der größten Gefahren ansehen, dass Pakistan mit 160 Atomsprengköpfen und Indien mit 150 aufeinander einschlagen könnten."

Deutsche Historiker konzentrieren sich allein auf die deutsche NS-Täter-Geschichte, konstatiert der polnische Holocaust-Historiker Jan Grabowski im Freitag. Das berge die Gefahr der Geschichtsverfälschung, meint er: "Damit nehmt ihr uns Polen, Ungarn, Franzosen, uns Bürgern so vieler anderer Nationen, das Recht und die Pflicht, die Schuld für unsere eigene, problematische und dramatische Geschichte zu übernehmen. Ja, ihr Deutschen, eure Vorväter haben den Masterplan geschaffen, ihr habt die Räder in Bewegung gesetzt und den schrecklichen Plan ausgeführt - daran ist kein Zweifel. Aber könnt ihr uns anderen Europäern das Recht verweigern, uns unserer eigenen Vergangenheit zu stellen? Als Pole habe ich das Recht, nein, die Pflicht, alle polnischen Juden zu zählen und zu berücksichtigen, die mit Hilfe meiner Landsleute ausgeraubt, ermordet, denunziert wurden. Es gehört zu unserer Bürgerpflicht, über die Leute zu reden und nachzudenken, die den deutschen Plan zur Vernichtung bereitwillig, mit Enthusiasmus unterstützten."
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Gesellschaft

Der Bestandsaufnahme über Rechtsextremismus in Behörden ist noch nicht abgeschlossen. Im Tagesspiegel berichtet Alexander Fröhlich über einen möglichen veritablen Justizskandal in Berlin. Die Berliner Generalanwaltschaft hat die Ermittlungen zu rechtsextremistischen Straftaten in Neukölln an sich gezogen, weil dort offenbar eher mit den Tätern sympathisiert wird. Ans Licht kam das durch ein versehentlich bekannt gewordenes Protokoll  aus der Telefonabhörung eines Täters, wo dieser erzählt, "wie er vom Leiter der Berliner Staatsschutzabteilung vernommen worden sei. Dabei soll ihm der Staatsanwalt erklärt haben, dass er sich keine Sorgen machen brauche, er sei selbst AfD-Wähler. Auch der ermittelnde Staatsanwalt soll von dem Abhörprotokoll gewusst haben, aber nicht eingeschritten sein. Auch die mit dem Fall betrauten Ermittler der Polizei sollen diese Information nicht an ihre Vorgesetzten weitergegeben haben."

Äußerst kulturpessimistisch zeichnet Reinhard Mohr in der NZZ die Vereinnahmung des öffentlichen Raums vom Verweilen in den Straßencafes zwischen Paris und Paderborn über die Proteste in den Sechzigern und die Massen auf den Straßen nach dem Mauerfall bis hin zu den Krawallen in Stuttgart oder Frankfurt nach: "Die 'Auszehrung der Öffentlichkeit' durch eine 'Tyrannei der Intimität' (Richard Sennett) hat inzwischen zu einem clanartigen Tribalismus der Identitäten geführt, der nur noch seine eigenen Territorien reklamiert. So wie in der politischen Sphäre die Mitte zugunsten der Extreme ausdünnt, so schrumpft auch die Agora, jener Platz, auf dem bei allem Streit gegenseitiger Respekt garantiert sein sollte. Stattdessen dominieren die populistischen Schreihälse, Demokratie- und Staatsfeinde aller Couleur und erobern die amorphen Räume der res publica, die sie zutiefst verachten."
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Kulturpolitik

Vermutlich im August können auch amerikanische Museen wieder öffnen, mit erhöhten Eintrittsgeldern, schreibt Frauke Steffens in der FAZ. Aktuell dürften die Museen zusammen 33 Millionen Dollar pro Tag verlieren, ergänzt sie und fürchtet, dass Museen sich in Folge der Krise "noch mehr auf private Geldgeber konzentrieren und diesen auch häufiger eine Vorzugsbehandlung anbieten. (…) Das Papier einer Beratungsfirma für das Kindermuseum schlägt exklusive Öffnungszeiten für Förderer an jedem Tag vor. Dessen Autorin Lisa Podos denkt auch über eine Strategie nach, die das Museum als 'Quasi-Mitgliederclub' neu positionieren könne. Unternehmen, die gespendet hätten, könnten dann sogenannte 'take-over days' buchen, an denen nur ihre Mitarbeiter mitsamt deren Familien Zutritt hätten. Immerhin will man Krankenhauspersonal an einzelnen Tagen den Eintrittspreis erlassen."
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Stichwörter: Museen, USA, Coronakrise

Medien

Eine Zeitlang setzten  die Leitmedien auf Jugendableger wie Bento (Spiegel) oder ze.tt (in der Zeit), um mit diesem lästigen Internet fertig zu werden. Aber Bento ist inzwischen abgeschafft und ze.tt verkleinert - Aurelie von Blazekovic zitiert in sueddeutsche.de die frustrierte Ze.tt-Chefredakteurin Marieke Reimann: "Würde man ein Feuilletonressort aus einer Zeitung ausgliedern und versuchen, das rentabel zu machen, wäre das auch eine große Herausforderung. Warum hat man bei sehr jungen Medien, auch vom Gründungsdatum sehr jungen Medien, diesen Anspruch, dass sie in Windeseile refinanzierbar sein müssen?" Sie sollte sich damit trösten, dass auch die Feuilletons in den letzten Jahre gehörig gerupft wurden.
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Stichwörter: Medienwandel, Zeitungskrise

Ideen

Die junge Autorin Ronya Othmann predigt in der taz  zu jenen, zu denen sie gehören möchte, und die doch ihre Kritk am Islamismus nicht hören wollen: "Der Kampf gegen den Islamismus ist Teil des antifaschistischen Kampfes." Othmann, die aus eine deutsch-jesidischen Familie kommt, hält all jenen, die vor allem "antimuslimischen Rassismus" fürchten, entgegen:  "Auch in Antira- und Bipoc Communitys wird geschwiegen und relativiert, etwa mit dem Argument, es gebe weitaus mehr Todesopfer rechter als islamistischer Gewalt in Deutschland. Ich finde es zynisch, Todesopfer gegeneinander aufzurechnen. Oft habe ich Muslim*innen klagen hören, es werde zu viel über den 11. September, den Terror des 'Islamischen Staats' in Irak und Syrien geredet. Das würde doch nur antimuslimische Ressentiments verstärken. Auch das finde ich als Ezîdin, deren Familie von diesem Terror betroffen ist, zynisch." Othmann veröffentlicht demnächst ihren ersten Roman, in dem es auch um diese Thematik geht.

Wie ein Maulwurf wühlt der Hegelsche Weltgeist im Erdreich der Geschichte, schreibt Thomas Assheuer in einem Zeit-Essay zum 250. des Philosophen, oder auch wie ein Virus und bringt am Ende das Gute hervor: "Wenn nicht alles täuscht, dann sind es die Folgen des Coronavirus, die unterdrückte Konflikte ans Licht holen. Gewiss, das Virus ist nicht der Weltgeist, aber es befeuert eine globale Revolte. Das Verlangen nach einer sozialen Demokratie, hätte Hegel gesagt, ist die 'Rose im Kreuz' der Gegenwart."

In einem seltsamen FAZ-Essay über das Sterbehilfe-Urteil des Bundesverfassungsgrichts vom Febraur beschwert sich Edo Reesnts über den seiner Meinung nach gefühllosen Säkularismus der Richter: "Ein Verfassungssystem, das auch in Gerichtssälen keine Kreuze mehr zulässt, kann sich um einen geistigen Überschuss, ob nun philosophischer oder religiöser Art, nicht mehr kümmern... Ungerührt hat Karlsruhe die letzten Reste eines metaphysischen Schleiers entfernt, den die Menschen noch um Fragen des Lebens und des Sterbens gehüllt haben mögen."
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Internet

Im Aufmacher der SZ-Feuilletons testet Michael Moorstedt die KI "GPT-3", eine Software, die ohne menschliche Hilfe Kurzgeschichten, Bilanzanalysen, Artikel oder Abhandlungen schreibt, im Selbstversuch: "Um einen Text zu verfassen, ermittelt die KI, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Wort auf das vorherige folgt. Denn wie alle anderen Deep-Learning-Systeme versucht GPT-3, Muster in den ihm vorliegenden Daten zu erkennen", erklärt er und verweist auf die Gefahren: "Weil Open AI das Modell mit Text trainiert hat, der frei im Internet zugänglich ist, kann es passieren, dass die Software nun alle Vorurteile und Verknüpfungen wiedergibt, die von Menschen zuvor ins Internet geschrieben wurden. In dem Paper, in dem GPT-3 beschrieben wird, widmen sich die Entwickler daher auch Fragen zu sexistischen oder rassistischen Vorurteilen, die von dem Modell reproduziert werden. Männliche Pronomina verknüpft das Modell etwa mit Wörtern wie lustig, fantastisch oder stabil, weibliche Fürwörter dagegen mit Adjektiven wie zierlich, wunderschön, unanständig oder schwanger. Die gleichen Probleme tauchen auch hinsichtlich Hautfarbe oder Religion auf - das Wort Islam wird mit Terrorismus assoziiert, Judentum mit Rassismus."
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