9punkt - Die Debattenrundschau

Unausstehliche Andersdenkende

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2020. Es gibt einen Protest gegen den weißrussischen Autokraten Alexander Lukaschenko, notiert die taz, und er ist weiblich. Und jugendlich, hofft die Welt. In der FR erklärt Felix Klein, warum er keine Hierarchisierungen einführen will im Kampf gegen Antisemitismus. Es gibt Ärger bei bei Facebook vor den amerikanischen Wahlen - und er geht von kritischen Angestellten der Plattform aus, berichtet Buzzfeed. Jonathan Rauch entwickelt auf der von Yacha Mounk ins Leben gerufenen Plattform Persuasion einen Kriterienkatalog, um kritische Kultur von "Cancel Culture" zu unterscheiden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.08.2020 finden Sie hier

Europa

Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen in Weißrussland äußern sich erstmals substanzielle Proteste gegen den Autokraten Alexander Lukaschenko, unter anderem wegen dessen desaströsen Corona-Managments, berichtet Alexandrina Glagoljewa in der taz. Und alle Symbolfirguren des Protestes sind Frauen "wie Swetlana Tichanowskaja. Sie tritt gegen Lukaschenko anstelle ihres Mannes, Sergej Tichanowski an, der nicht zugelassen wurde und jetzt im Gefängnis sitzt". Ihr haben sich andere Frauen angeschlossen. Barbara Oertel unterhält sich auch mit der Aktivistin Olga Karatsch, die den feministischen Aspekt deutlich hervorhebt: "Vor einer Gruppe von Fabrikarbeitern hat Lukaschenko neulich auch gesagt, dass die Verfassung nicht für Frauen gemacht sei und sie niemals in das höchste Staatsamt kommen würden. Das hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, besonders von gut ausgebildeten Frauen, die in führenden Positionen in der Wirtschaft tätig sind. Es gab mehr als 200 Protestbriefe an die Zentrale Wahlkommission, in denen gefordert wurde, Lukaschenko nicht zur Wahl zuzulassen und ihn wegen Sexismus zu bestrafen. So etwas gab es noch nie." Karatsch rechnet allerdings auch mit einer brutalen Niederschlagung von Protesten nach der Wahl: "Es wird Blut fließen, denn Lukaschenko wird auf die Demonstranten schießen lassen. Daran zweifele ich keine Minute."

Leise Hoffnung setzt in der Welt der in Minsk lebende politische Ökonom Sven Gerst auf die Jugend in Weißrussland, die die staatliche Repression satt hat - die erst Generation, die in einem unabhängigen Belarus aufgewachsen ist: "Die bisher einzige Menschwerdung eines unabhängigen Belarus. Historisch waren die Belarussen nämlich immer Teil anderer Mächte - wie dem Großfürstentum Litauen, der polnisch- litauischen Adelsrepublik, dem russischen Zarenreich und schließlich der Sowjetunion. Während die post-sowjetische Realität für viele Republiken eine Rückkehr zum eigenen nationalen Narrativ bedeutete, musste man sich in Belarus auf Identitätssuche begeben. Diese Suche nach 'dem Belarussischen' konnte jedoch nie wirklich beginnen. Konfrontiert mit den sozioökonomischen Umwälzungen der eigenen Unabhängigkeit setzte man in Belarus auf das irdisch Vertraute und vertagte das abstrakt Metaphysische der Identitätsfindung. Daraus wurde der Vintage-Sowjetstil des Alexander Lukaschenko geboren."
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Gesellschaft

Im großen FR-Interview mit Jan Sternberg bezieht der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein Stellung zum dem offenen Brief von sechzig Intellektuellen, in dem ihm vorgeworfen wird, einen "inflationären Antisemitismusbegriff" zu verwenden (Unsere Resümees): "Meine Strategie ist, dass wir keine Hierarchisierungen einführen sollten im Kampf gegen Antisemitismus. Ob linker, rechter oder islamistischer Antisemitismus - ich halte jede Form für gefährlich, und auch den in der Mitte der Gesellschaft. Das alles benenne ich, dafür bin ich Beauftragter. Es greift zu kurz, wenn man nur den eindeutigen Antisemitismus von ganz rechts benennt. Den zu bekämpfen, darauf können sich alle in der Mitte der Gesellschaft einigen. Wir dürfen aber nicht nur auf andere zeigen. Auch Linke, auch Intellektuelle müssen in ihrem eigenen Umfeld und bei sich selbst schauen, wie sie Antisemitismus bekämpfen können. Der linksliberale Antisemitismus ist sehr subtil. Gerade wenn er sich gegen Israel richtet, ist er sehr verbreitet. Oft ist es eine Umweg-Kommunikation: Man greift Israel an, obwohl man eigentlich Juden meint."

Nein, es hat keinen Sinn, mit Corona-Leugnern zu reden, so wenig wie es Sinn hat, mit Leugnern des Klimawandels oder anderen Vertretern alternativer Wahrheiten zu reden, ruft Sieglinde Geisel in Dlf Kultur: "Demokratie lebt vom Streit, so heißt es oft, doch was wir in den letzten Jahren erleben, ist ein Pseudostreit. Die Gegenaufklärer haben ein bemerkenswertes Geschick darin entwickelt, die Errungenschaften der Demokratie als Waffe gegen die Demokratie zu benutzen. Wir wiederum wollen uns das Spektakel nicht entgehen lassen. Wir empören uns über jeden ihrer Ausfälle und werden damit zu Komplizen, denn von dieser Empörung ernährt sich ihr Widerstand."
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Internet

Es gibt viel internen Ärger bei Facebook, unter anderem, weil Facebook-Angestellte fürchten, dass die Plattform rechte Medien wie Breitbart bevorzuge, berichten Craig Silverman und Ryan Mac bei Buzzfeed. Breitbart gehört immer noch - wie etwa Buzzfeed selbst - zu den "Medienpartnern" bei Facebook, das heißt zu den Medien, die von Facobook für News, die sie bringen, bezahlt werden. "Einige Facebook-Mitarbeiter haben Belege gesammelt, die zeigen sollen, dass Breitbart - wie andere rechtsgerichtete Organisationen und Persönlichkeiten... - eine besondere Hilfestellung erhalten hat, die ihm geholfen hat, nicht mit den Leitlinien der Platform in Konflikt zu geraten. Sie sehen sie als Teil einer Vorzugsbehandlung für rechte Verleger und Seiten, von denen allerdings viele sagen, das soziale Netzwerk sei gegen Konservative voreingenommen."
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Ideen

Jonathan Rauch entwickelt auf der von Yascha Mounk ins Leben gerufenen Plattform Persuasion einen Kriterienkatalog, um kritische Kultur von "Cancel Culture" zu unterscheiden. Eines seiner Kreterien ist "Deplatforming": "Eine kritische Kultur toleriert Dissens, statt ihn zum Schweigen zu bringen. Sie versteht, dass Dissens unausstehlich, schädlich, hasserfüllt und, ja, unsicher erscheinen kann. Um unnötigen Schaden zu minimieren, unternimmt sie große Anstrengungen, damit die Menschen sich in zivieler Weise äußern. Sie versteht aber auch, dass selbst ein unausstehlicher Andersdenkender von Zeit zu Zeit Recht hat - und lehnt es daher ab, ihn zum Schweigen zu bringen und von der Plattform zu verbannen. Cancel Culture hingegen versucht, ihre Ziele niederzuschreien. Ihre Anhänger definieren den bloßen Akt der Uneinigkeit mit ihnen oft als eine Bedrohung ihrer Sicherheit oder sogar als einen Gewaltakt."

In der NZZ fühlt der Literaturwissenschaftler Hans-Dieter Gelfert dem tief verwurzelten Erbe des amerikanischen Puritanismus auf den Zahn. War der ursprüngliche Puritanismus noch von Intellektualität geprägt, zeichnet er sich heute durch eine "erschreckende geistige Dürftigkeit" aus, schreibt Gelfert etwa mit Blick auf das amerikanische Gesundheitssystem: "Die Puritaner waren gemäß der calvinistischen Prädestinationslehre einerseits von der Hoffnung beseelt, zu den von Gott Erwählten zu gehören, während sie andererseits in der Ungewissheit lebten, ob dies auch wirklich der Fall sei; denn sie selber konnten gemäß der Lehre nichts zur Erlangung dieses Gnadenstands beitragen. So bildete sich früh die Überzeugung heraus, dass irdischer Erfolg ein göttliches Zeichen für Erwähltheit sei; denn weshalb sollte Gott Erfolg an Menschen verschwenden, die er für die Hölle bestimmt hatte? Durch diese Überzeugung wurde der Puritanismus zum Motor der kapitalistischen Marktwirtschaft, deren Wettbewerbscharakter nirgendwo so extrem ausgeprägt ist wie in den USA. Ein so universaler, das ganze Leben bestimmender Wettbewerb setzt aber voraus, dass keine menschliche Instanz und schon gar nicht der Staat in ihn eingreift und damit unfaire Bedingungen schafft."

Ebenfalls in der NZZ versucht Eduard Kaeser zu erklären, weshalb Staaten wie USA, China oder die Türkei die "guten alten Zeiten" beschwören: "Gerade in der globalen Dynamik, die althergebrachte Futterale der Identität auflöst, stellen heute viele Menschen einen Identitätsmangel fest, und diesen Mangel suchen sie mit Geschichten über eine fiktive Identität zu beheben, die sie früher zu haben glaubten, in ihrer Familie, Kultur, Religion, Nation. Dieses Phantasma einer reinen und homogenen Gruppe, in der man aufgehoben war, ist zugleich Balsam und Gift."
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Kulturpolitik

Auf gerade mal zwei Seiten stauchten die Gutachter des Wissenschaftsrates zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Arbeit des Staatlichen Instituts für Musikforschung und des Berliner Musikinstrumentenmuseums zusammen, weiß Frederik Hanssen im Tagesspiegel: "Die drei Abteilungen des Hauses stünden 'weitgehend unverbunden nebeneinander', 'die Kooperationen des Instituts sind schwach ausgeprägt und konzentrieren sich vorrangig auf Berlin'. Eine 'überzeugende Strategie zur Entwicklung von Forschungsfragen' vermisst das Gremium ebenso wie Erfolge bei der Einwerbung von Drittmitteln." Institutsdirektor Thomas Ertelt verteidigt sich: "Wir sind ein Institut, das ein Museum hat". Seit 1935, als beide Teile zur institutionellen Einheit verschmolzen wurden, hab sich die heutige Aufteilung etabliert, bei der die Wissenschaft im Vordergrund steht."
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Politik

Im Interview mit Tomasz Kurianowicz (Berliner Zeitung) spricht der libanesische Fotograf Marwan Tahtah über die Zustände in Beirut, das Gerücht, die Explosion sei ein Angriff Israels gewesen, die Inflation und über das Sterben jeglicher Hoffnung der Menschen vor Ort nach Wirtschafts- und Coronakrise. Schuld gibt er der Regierung: "Seit 30 Jahren ist das System korrupt. Seit dem Bürgerkrieg, der 1990 endete, verrottet das ganze politische System. Das sieht man selbst jetzt nach der Explosion. Die Regierung reagiert mit Nichtstun. Sie versteckt sich. Die Menschen werden sich selbst überlassen. Klar, die Armee wurde zu Hilfe geschickt. Aber die ganze Wirtschaftskrise? Die Regierung hat sie zu verschulden. Sie scheren sich nicht um das Volk."
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Kulturmarkt

Kleiner Streit in der Buchbranche. Die großen Gebrauchtbuchhändler wie Momox oder Amazon Marketplace werden zu einer Gefahr für die Branche meint Urs Erdle, ehemals Verkaufsleiter bei Verlagen wie Campus oder Dumont, im Börsenblatt: "Solche Giganten wie Momox oder reBuy sind zu dominanten Playern geworden, die jetzt auch der Buchbranche, vergleichbar mit der digitalen Disruption im Tonträgerhandel, deren Geschäftsmodell unterminieren. Denn Schaden entsteht nicht nur den Verlagen und Autoren, sondern auch dem Bucheinzelhandel vor Ort, der durch die Preisbindung von 'neuen' Büchern bislang - im Sinne des 'Kulturgutes Buch' - seine Konkurrenzfähigkeit wenigstens in Bezug auf den Preis bewahren konnte, was sich jetzt in einen Wettbewerbsnachteil verkehrt." Endle schlägte eine Beteiligung der Autoren an den Erlösen über Ausschüttungen der VG Wort vor.

Dem widerspricht recht trocken Susanne Barwick, stellvertretende Justiziarin des Börsenvereins: "Der Gebrauchtbuchverkauf, der im übrigen eine lange Tradition hat, ist gesetzlich geregelt: das Verbreitungsrecht des Autors erschöpft sich gemäß § 17 Abs. 2 UrhG, nachdem das Buch erstmalig in den Verkehr gebracht wurde. Der Urheber wurde für sein Werk mit dem ersten Verkauf vergütet."
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