9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kontrolle des Hafens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2020. In der taz erklärt Selim Nassib, dass sich im Libanon eine geradezu homerische Wut aufstaut. Die SZ berichtet von einer Meuterei der Museumsdirektoren in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. In der Welt verteidigt Slavoj Zizek die Aufklärung gegen die Identitätspolitik. In der NZZ erklärt Hans Ulrich Gumbrecht die Geschichte der Intellektuellen für beendet. Und die New York Times steigt hinter die Barrikaden von Seattle und begegnet dort der Black Lives Matter Community Patrol.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.08.2020 finden Sie hier

Politik

Der Autor und frühere Libération-Korrespondent Selim Nassib schreibt in der taz von einer "homerischen Wut", die sich gerade im Libanon Bahn breche und sich gegen die Machthaber aller Konfessionen richte. Denn die Gesellschaft haben sie vielleicht gespalten gehalten, aber den großen Kuchen aufgeteilt haben sie sich gemeinsam. Und: "Jede Reform des libanesischen Systems stößt unweigerlich an die Frage der Waffen der Hisbollah, die die schiitische Organisation behauptet zu bewahren, komme was wolle. Nun hat der alternde (christliche) Präsident der Republik, Michel Aoun, genau wie sein gieriger Schwiegersohn, der davon träumt, ihn zu ersetzen, einen Bund mit der Hisbollah geschlossen und hat damit eine Machtstruktur zementiert, die fast unmöglich aufzubrechen ist - während die Leute auf der Straße Hunger haben. Die Kontrolle des Hafens hat der 'Partei Gottes' auch erlaubt, wesentliche Vorteile daraus zu schlagen, dass das Gros der im Libanon verbrauchten Produkte über diesen Weg eingeführt wird. Da sie für den Tatort, den Hafen, wo sich die entsetzliche Explosion ereignet hat, zuständig ist, hat die schiitische Partei infolgedessen eine besondere Verantwortung. Eine in den sozialen Medien weit verbreitete Karikatur zeigt das Bild der champignonförmigen Explosion frisiert mit dem Turban der Ajatollahs - und dem Untertitel: 'Raus!'"
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Ideen

Seit zweieinhalb Jahrhunderten hätten die Intellektuellen nicht so ein klägliches Bild abgegeben wie in diesem Sommer, dröhnt Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ und möchte gleich einen Schlussstrich unter ihre Geschichte ziehen: "Zwischen New York und Los Angeles haben die brutalen Bilder von der Ermordung George Floyds aber auch einen heißen Sommer von Protesten ausgelöst. Statt teilzunehmen - und angeblich zur Unterstützung hochfliegender politischer Ziele, die kaum je konkret in den Blick kommen -, haben akademische Intellektuelle an den amerikanischen Universitäten ein Regime des Meinungsterrors etabliert. Wie in den jakobinischen Jahren zwischen 1792 und 1794 werden Denkmäler gestürzt, Gebäude umbenannt, Kollegen geächtet und in der Folge gefeuert, die sich nicht laut genug zu den dominierenden Tugenden bekennen (wie etwa ein Theologe am berühmten Massachusetts Institute of Technology, der seine Stelle verlor, weil er in einem Seminar darauf bestand, die Vorstrafen von George Floyd in eine Analyse der Bedingungen seines Todes einzubeziehen). Inzwischen hat auch der freundlich-imperativische Slogan 'Black Lives Matter' eine weltweite Resonanz gefunden, die wir beständig erneuern und bedienen, so als bedrohe wirklich ein expliziter Rassismus das globale Zusammenleben an seiner Wurzel."

Im Welt-Interview mit Jan Küveler träumt Slavoj Zizek von einer "linken Margaret Thatcher" und hält mit Descartes die Fackel der Aufklärung gegen die Identitätspolitk hoch ("Das Cogito hat kein Geschlecht"): "Für mich gibt es zwei historische Ereignisse. Erinnern Sie sich an den Weißen, der im Zuge der Proteste verletzt und von einem Schwarzen getragen wurde? Die rechten Regierungen, das ist hier in Slowenien genauso, ignorieren diese Realität. Und sie diffamieren die Proteste, indem sie sagen, sie leisteten Coronainfektionen Vorschub. Wo explodieren jetzt aber die Fälle? Nicht mehr in New York, wo es die Proteste gab, sondern in den republikanischen Staaten wie Texas oder Florida. Die Lektion für uns Europäer sollte sein: Ja, wir haben schreckliche Dinge getan. In Mexiko starb nach dem Eintreffen von Kolumbus die Hälfte der Bevölkerung, vor allem natürlich an eingeschleppten Krankheiten. Auf der anderen Seite sollten wir uns stetig vor Augen halten, dass uns allein die europäische Aufklärung die Mittel an die Hand gab, unseren eigenen Rassismus zu bekämpfen."
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Kulturpolitik

Meuterei! In der SZ berichtet Jörg Häntzschel von einem Offenen Brief, mit dem die Direktoren der Staatlichen Museen zu Berlin aufbegehren. Es geht um die Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die der deutsche Wissenschaftsrat der "strukturell überforderten" Institution dringend empfohlen hatte: "Was die Museumsdirektoren nun empört, ist, dass diejenigen den Reformprozesses leiten sollen, die die Missstände jahrelang mitverantwortet haben. Dass also die Reform der zentralistisch organisierten SPK ebenfalls zentralistisch vollzogen wird. Genau so wird es wohl kommen. Bei der Stiftungsratssitzung am 19. August soll eine für die Reform zuständige Arbeitsgruppe eingesetzt werden, der außer Kulturstaatsministerin Monika Grütters und Stiftungspräsident Hermann Parzinger nur noch dessen Vize Gero Dimter und eine 'Person X' angehören. Der machtbewusste Parzinger leitet die Stiftung seit zwölf Jahren und scheint dies auch noch viele Jahre tun zu wollen."
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Gesellschaft

Ziemlich verrückt erscheint, was die New York Times aus Seattle berichtet, wo der Stadtteil Capitol Hill für Wochen zum autonomen Gebiet erklärt worden war und keine Polizei mehr hinter die Barrikaden gelassen wurden. Mehrere Ladeninhaber haben nun dagegen Klage erhoben, darunter auch Faizel Khan, ein - wie kann es anders sein - schwuler migrantischer Barrista: "Eines Morgen Mitte Juli schrubbten Arbeiter in orangen Westen die Bürgersteige und Graffiti von den Hauswänden. Zwei Glaser sagten, sie hätten für die nächsten Wochen alle Hände voll zu tun. Zerbrochene Straßenlampen mussten entfernt und ersetzt werden. Eine irritierende Zahl von Sicherheitsdiensten zog herum, mit Pistolen und Gewehren bewaffnet. Einige trugen offiziell aussehende Uniformen, andere legere Kleidung und Bänder, die sie als Unterstützer von Black Lives Matter auswiesen. Eine dritte Gruppe war ganz in Schwarz gekleidet, ohne jede Identifizierung, und weigerte sich, ihre Zugehörigkeit zu nennen. Als sich ein großer Mann in Trenchcoat und Wanderstiefel näherte und Khan befargen wollte, öffnete er seinen Mantel und offenbarte dabei einen Gürtel von Pistolen um Bruste und Hüfte. Auf seinem Abzeichen stand 'Black Lives Matter Community Patrol'."

Meron Mendel antwortet in der FR auf ein Interview, in dem sein "Doktorvater und langjährigen Freund" Micha Brumlik einen neuen McCarthyismus in der Antisemitismusdebatte ausmachte (unser Resümee): "Angesichts des dramatischen Tons überrascht in der Debatte immer wieder, wie relativierend gleichzeitig über Antisemitismus gesprochen wird - bei Rassismus würde man es nicht akzeptieren. Soeben hat Wolfgang Benz einen Sammelband herausgegeben, der nahezu alle prominenten Vorfällen der letzten Jahre als Dumme-Jungen-Streiche entschuldigt - Alltagsantisemitismus existiert in dieser Welt einfach nicht.Wohlgemerkt: Auch viele BDS-Kritiker und -Kritikerinnen sollten in ihrer Sprache Mäßigung walten lassen. Dass jegliche Kontaktschuld immer sofort zu Ausladungen und Entlassungen führen muss, ist eine unheilvolle Tendenz, die BDS-Gegner und -Gegnerinnen wie Klein-Kritiker und -Kritikerinnen eint. Wenn Brumlik zu Recht die Anwendung von Kontaktschuld im Kontext von BDS beklagt, reproduziert er gleichzeitig diese Logik, wenn er eine Verbindung zwischen dem Mossad, Shalicar und Felix Klein insinuiert."
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Medien

Jenni Thier berichtet in der NZZ, wie sich das soziale Netzwerk Parler zum Hort der Meinungsfreiheit stilisiert und damit vor allem rechte Kreise an sich bindet, seit Facebook und Twitter gegen Fake-News und Hetze vorgehen: "Ende 2018 zählte Parler knapp 60.000 Nutzer. Ein Jahr später waren es immerhin schon mehr als eine halbe Million. Nun sind es bereits rund drei Millionen. Seit Mai kommen laut Matze Hunderttausende von neuen Nutzern pro Woche dazu. Die Parler-App ließ in Apples App-Stores sogar Twitter teilweise hinter sich. Parlers Nutzerzahlen sind zwar im Vergleich zu Twitter mit seinen 1,3 Milliarden Accounts und 330 Millionen monatlich aktiven Nutzer immer noch gering, aber das Wachstum vor allem bei politischen Schwergewichten aus dem rechten Lager in den USA ist bemerkenswert. Wie politisch unausgewogen die Plattform ist, wird jedem schnell klar, der sich dort registriert. Parler schlägt Neulingen sowohl Nutzer als auch Medien vor. Bei Letzteren steht das rechte Online-Medium Breitbart an erster Stelle (800 000 Follower). Bei den Nutzern sind es Dan Bongino, ein bekannter amerikanischer Radio- und Podcast-Talkmaster und Trump-Anhänger (1,2 Millionen Follower), Trumps Kampagnen-Account Team Trump (1,2 Millionen Follower) und Eric Trump (970 000 Follower)."

Bei Tripadvisor rangiert ein Steakhouse am Stadtrand als bestes Lokal von Frankfurt, in der FAZ schäumt Jakovb Strobel y Serra vor Wut über die fingierten Bewertungen auf dem Portal, mit denen Klitschen hochgejubelt und Spitzenrestaurant niedergeschrieben werden: "Auch wenn die Bewertungsportale oft groben Unfug verbreiten, nimmt sie jeder Gastronom ernst. Im Français und Lafleur geht man sogar so weit, auf viele Urteile direkt zu reagieren - mit Danksagungen bei positiver Resonanz und Widerspruch oder Bedauern bei negativen Bewertungen. Das geschieht nicht nur, um die Zufriedenheit und Bindung der Gäste zu erhöhen oder Fehlurteile zu korrigieren, sondern auch, um sich den fragwürdigen Regularien von Tripadvisor zu fügen. Denn eine hohe Zahl von Antworten auf Bewertungen verbessert die Position im Ranking - ganz gleich, wie gut oder schlecht das Essen ist."
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