9punkt - Die Debattenrundschau

So weit, so hart

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2020. Simone Schmollack (taz) und Gustav Seibt (SZ) kritisieren das sehr strenge Urteil der TU Darmstadt gegen die Soziologin Cornelia Koppetsch, die kritisierten Bücher waren keine Qualifikationsschriften, so Seibt. In der taz verficht der israelische Philosoph Omri Boehm noch einmal seine Idee einer binationalen Republik Israel, die für ihn auch einen neuen Blick der Israelis auf den Holocaust erfordert. Es gibt auch einen muslimischen Rassismus, sagt der schwarze Araber Malcolm Ohanwe bei bento.de. Nein, denn dieser Rassismus ist auch nur ein Reflex des weißen, meint Mohamed Amjahid, marokkanischer Herkunft, in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.08.2020 finden Sie hier

Wissenschaft

Die wegen Pagiatsvorwürfen diskreditierte Soziologin Cornelia Koppetsch wird wohl "nie wieder an einer Uni oder einer anderen wissenschaftlichen Einrichtung wie gehabt arbeiten", vermutet Simone Schmollack in der taz. Aber sie hat Bauchschmerzen, auch weil Medien und Institute Koppetsch kritiklos gefeiert hatten. Und "trotz aller unsauberer Arbeit und unlauteren Verhaltens bleibt ein Restbestand ihrer eigenen Forschung. Als Soziologin, die vor allem mit dem Milieuvergleich arbeitet, weiß sie, wovon sie spricht. Ihr Vater war Briefträger, ihre Mutter Hausfrau. Sie und ihre Schwester haben studiert, sie haben sich also 'aus den Verhältnissen herausgearbeitet'. Das ist mitnichten eine wissenschaftliche Grundlage, mehr noch, es darf nicht mal eine sein. Aber mitunter kann es hilfreich sein, aus eigener Erfahrung zu wissen, worüber man spricht."

"So weit, so hart", kommentiert auch Gustav Seibt in der SZ. Koppetschs vielgefeiertes Buch "Die Gesellschaft des Zorns" sei nun allerdings "keine Qualifikationsschrift, es diente nicht dem Erwerb von Titel oder Lehrerlaubnis. Sein Anspruch war ein zusammenhängender Gedankengang, die Entwicklung einer übergreifenden These. Zu dieser These lässt der Prüfungsbericht nichts verlauten. Ist auch sie abgekupfert? Oder wird sie wertlos, weil Koppetsch sich bei einzelnen Argumenten fremder Erkenntnisse und Formulierungen bedient hat, ohne dies gebührend zu kennzeichnen?" Seibt leugnet nicht, dass Koppetschs eine Menge Zitate allzu wörtlich und allzu wenig belegt übernommen hat - aber er verlangt auch eine "Binnendifferenzierung dessen, was 'wissenschaftliche Praxis' ist".

In der FAZ berichtet Philip Plickert über eine Studie des liberal-konservativen Londoner Thinktanks "Policy Exchange" zur "cancel culture" in der Wissenschaft: Es gibt sie durchaus, stellt die Studie fest. Danach "gibt es zwar in beiden Lagern die Tendenz, die andere Seite zu diskriminieren. Doch die Gewichte an den Universitäten sind ungleich verteilt: Eine überwältigende Mehrheit verortet sich links. 75 Prozent der Hochschullehrer haben laut der Befragung bei den letzten Wahlen für Parteien links der Mitte, vor allem für Corbyns Labour-Party gestimmt, weniger als zwanzig Prozent wählten Tory-Kandidaten. Unter den Sozial- und Geisteswissenschaftlern bezeichneten sich nur sieben Prozent als rechts der Mitte. Zugleich ist die Bereitschaft gewachsen, Andersdenkende auszugrenzen. ... 'Für politische Minderheiten wie Konservative oder genderkritische Feministinnen ist die akademische Freiheit ernsthaft gefährdet', schlussfolgern [die Autoren] Kaufmann und Adekoya."
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Europa

"Verzieh dich, bevor es zu spät ist!" Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat Alexander Lukaschenko zum Rücktritt aufgefordert, meldet unter anderem Spiegel online: "Niemand habe sich eine solche Gewalt in Belarus vorstellen können, sagte sie. 'Wir haben gesehen, wie das in anderen Ländern geschieht, aber bei uns wird auf ein Auto geschossen, in dem sich ein kleines Kind befindet, alles ist voller Blut, es wird eine schwangere Frau geschlagen, Festgenommene werden mit dem Knie gewürgt', sagte sie. Dabei seien die Menschen absolut friedlich - und davon überzeugt, dass Lukaschenko die Präsidentenwahl verloren habe." Mehr von Luke Harding im Guardian. Einen aktuellen Bericht über die jüngsten Ereignisse in Belarus bringt heute unter anderem die Welt.
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Religion

Die tunesische Bloggerin Emna Chargui hatte eine Aufforderung, die Hyieneregeln für Corona einzuhalten, im Stil einer Koransure präsentiert. Das reichte, um ihr den Blsaphemievorwurf einzubringen und sie aus Tunesien zu vertreiben - vorerst hat sie in Deutschland Zuflucht gesucht, während sie in den sozialen Medien unter dem Hashtag #freeemnachargui verteidigt wird, berichtet Hella Camargo in hpd.de: "Obwohl Tunesien - islamistischen Strömungen zum Trotz, die eine solche einfordern - keine Anti-Blasphemie-Gesetzgebung hat, können Menschen wegen Störung der öffentlichen Ruhe oder der öffentlichen Moral, dem Aufruf zum Hass zwischen Religionen, der absichtlichen Störung des Anstandes einer Person oder die Verletzung und Beleidigung in öffentlichen Kommunikationsnetzwerken verurteilt werden. Immer wieder werden diese Möglichkeiten genutzt, um Menschen wegen vermeintlicher Blasphemie zu verurteilen."
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Politik

Im Gespräch mit taz-Redakteur Bernd Pickert verficht der israelische Philosoph Omri Boehm noch einmal seine Idee einer binationalen, nicht ethnisch definierten Republik Israel. Sie erfordert für ihn auch einen anderen Blick Israels auf den Holocaust: "Die Erinnerung an den Holocaust sollte in Israel eine bürgerliche, patriotische Pflicht aller Bürger sein - und eine feste Bindung an den Universalismus. Im Gegensatz dazu befördert die Holocausterinnerung derzeit eine Identitätspolitik nur für die Juden, nicht für alle Bürger, und ein mythisches Verständnis des jüdischen Staates als heiliges Gebilde. Das steht der Eigenschaft der Staatsbürgerschaft als demokratischem, vereinigendem Prinzip von Juden und Arabern im Weg. Wir müssen uns auch erinnern, dass unser Konflikt mit den Palästinensern kein Konflikt mit den Nazis ist. In diesem Land, wo Juden und Araber das Zusammenleben werden lernen müssen, werden sie auch lernen müssen, gemeinsam zu erinnern."
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Gesellschaft

Der Antirassismus ist eine ethnozentrische Ideologie. Der Rassismus in muslimischen Gesellschaften wird dagegen kaum thematisiert, schreibt der schwarze Araber Malcolm Ohanwe bei bento.de: "Fast jeder nicht-schwarze Muslim und/oder Araber hat schon mal mitbekommen, dass die Tochter bloß keinen Schwarzen Freund nach Hause bringen darf, weil das unsittlich wäre. Was aber viel zu wenige Leute mitbekommen: Wie grausam der 1.300 Jahre lang andauernde muslimische Sklavenhandel war. Wie im Libanon oder den arabischen Emiraten noch heute Menschen mit dunklerer Haut auf widerlichste Art für ihre Arbeit als Kindermädchen oder Bauarbeiter ausgebeutet und ihrer Menschenrechte beraubt werden. Oder wie verschwiegen wird, dass viele bedeutsame Errungenschaften in der 'Islamischen Welt' auf Schwarze Personen zurückgehen."

Das sieht Mohamed Amjahid, Autor des Buchs "Unter Weißen - Was es heißt, privilegiert zu sein" und selbst marokkanischer Herkunft, anders. Selbst arabischer Rassismus ist für ihn nur ein abgeschwächter Reflex des weißen, schreibt er in der taz: "Die Kehrseite von Rassismus sind .. weiße Privilegien. Sie gelten überall auf der Welt. Denn der Kolonialismus und die postkoloniale Weltordnung danach haben eine konstruierte Hautfarbenskala global etabliert: weiß = privilegiert, nichtweiß = weniger oder gar nicht privilegiert. Deswegen versuchen viele Nichtweiße, Weißsein zu performen. Zum Beispiel beim antischwarzen Rassismus in nordafrikanischen Gesellschaften, die sich angesichts Schwarzer Geflüchteter als 'weißer' konstruieren."

Aber Diskriminierung ist schließlich überall, selbst in den wohlgeordneten nordischen Ländern, erzählt der estnische Komponist Jüri Reinvere in der FAZ: "Die Liste ist endlos; man kann ein amüsantes Scherzo daraus machen oder eine Valse triste..." Und schreibt über ein paar Erfahrungen, die er in Finnland, Schweden und auch Deutschalnd machte. "Ich kann die Beispiele sprudeln lassen wie die Fontäne im Genfer See: Zu einer Zeit, da es in Schweden niemand für etwas Skurriles hielt, dass Liv Ullmann mit norwegischem Akzent in den Filmen von Ingmar Bergman spielte, untersagte man mir, im finnischen Radio zu sprechen - wegen meines estnischen Akzents. Das wurde mir offen mitgeteilt, das blieb nicht im Geheimen. Ich will damit keinesfalls behaupten, dass der Rassismus einseitig gewesen wäre. Umgekehrt nämlich haben die Esten ein durch und durch zynisches Verhältnis zu den Finnen. Sie sehen sie nur als kulturlos-prollige cash cows, die über den Tourismus - und den Alkoholkonsum - Riesenmengen an Geld ins Land bringen."

Yascha Mounk hat sein Online-Magazin Persuasion gegründet, um mit Vernunft auf kommunitaristische Diskurse antworten zu können. Drei Mediziner wehren sich heute gegen die Behauptung, der "Body Mass Index" sei eine rassistische Erfindung, die der Demütigung einer Gruppe diene. Gerade bei Schwarzen in Amerika werde die Diagnose der Adipositas für rassistische Schlussfolgerungen missbraucht. Dies sei zwar nicht zu bestreiten, so die Autorinnen. "Wie die meisten medizinischen Messgrößen ist der BMI ein unvollkommener Indikator für das Risiko einer schweren Erkrankung oder Sterblichkeit und muss mit anderen Informationen kombiniert werden, um eine individuelle Beurteilung zu ermöglichen. Aber die Behauptung, der BMI solle auf den Müllhaufen der Medizingeschichte geworfen werden, ist dennoch gefährlich falsch. Weit davon entfernt, den Schwächsten zu schaden, ist er ein entscheidendes Instrument zum Schutz der Gesundheit der schwarzen Bevölkerung und anderer Minderheiten."
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