9punkt - Die Debattenrundschau

Die Jungen haben Putin satt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2020. In der NZZ ist der weißrussische Journalist Artjom Schraibman überzeugt, dass Putin nicht in Belarus  einmarschieren wird - sofern sich eine Revolution nicht gegen seinen Einfluss richtet. In Le Monde spricht der belarussische Oppositionelle Alexander Milinkewitsch über den völlig uneinsichtigen Alexander Lukaschenko. Im Blog starke-meinungen.de kritisiert die Ur-Grüne Eva Quistorp Achille Mbembe und die mit ihm verbündeten Professoren für ihre Ferne von tatsächlichen sozialen Kämpfen. Während Stefanie Carp, die scheidende Intendanten der Ruhrtriennale, in Dlf Kultur (transkribiert von den Ruhrbaronen) nochmal betont, welch "ganz infamer Intrige" sie und Achille Mbembe zum Opfer gefallen seien. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.08.2020 finden Sie hier

Europa

Der russische Bürgerrechtler Wladimir Kara-Mursa wurde zwei Mal vergiftet. Er hatte die selben Symptome wie Nawalny und überlebte nur knapp. Seine Familie lebt jetzt in Amerika, aber er selbst reist wieder durch Russland und engagiert sich politisch, erzählt er im Interview mit der SZ. Aufgeben? "Das wäre das größte Geschenk, das man dem Kreml machen könnte! Es gibt eine große Unzufriedenheit in Russland. Seit Wochen demonstrieren die Menschen in Chabarowsk. Die Verfassungsänderungen, die Putin zwei weitere Amtszeiten erlauben, wären ohne massive Fälschungen bei der Abstimmung Ende Juni nie angenommen worden. Vor allem die Jungen haben Putin satt. Für die sind wir Oppositionsführer wichtig, als Organisatoren, als Beispiele, dass man etwas tun kann. Da können wir sie nicht einfach im Stich lassen."

Für Belarus' Präsidenten Alexander Lukaschenko müssen sich die jüngsten Ereignisse in seinem Land wie eine "wirkliche persönliche und völlig unerwartete Tragödie" darstellen, sagt der Oppositionspolitiker Alexander Milinkewitsch im Gespräch mit Piotr Smolar in Le Monde: "Die Streiks in den Fabriken mit Arbeitern, die freie Wahlen und die Befreiung der Gefangenen forderten, waren völlig überraschend. Lukaschenko versucht, den Anführern Angst zu machen, sie zu entfernen. Aber sie halten stand. Wie lange noch, wenn ihre Gehälter gefährdet sind? Lukaschenko wird keinerlei Kompromiss akzeptieren. Im Fernsehen hat er abtrünnige Journalisten durch Russen ersetzt, um Propaganda zu machen. Das ist eine hybride Invasion."

In der NZZ ist der weißrussische Journalist Artjom Schraibman überzeugt, dass Russland nicht einmarschieren wird in Belarus. Zehn Gründe nennt er für diese Annahme, die sich fast alle darum drehen, dass ein Einmarsch gar nicht im Interesse Russlands wäre. Punkt 8: "Die Demonstranten rufen keine antirussischen oder prowestlichen Losungen. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Der Kreml ist nicht blind und sieht das. Russland hat die Folgen der Revolutionen in Kirgistan und Armenien akzeptiert, wo es auch keine außenpolitischen Ziele gab. Moskau orientiert sich immer an der gerade gewinnenden Seite. Und versteht vor allem, dass diese Seite nicht feindlicher ist als jene Regierung, die russische Staatsbürger zu Geiseln ihres Wahlkampfes gemacht hat." Die NZZ hat den Text von der Webseite Dekoder übernommen.

Ein Jammer, dass die EU so wenig Unterstützung für die Demonstranten in Belarus zeigt, meint Simon Tisdall im Guardian: "Für die mutigen Demonstranten in Minsk, die ein Ende der Diktatur anstreben, muss die Vorsicht Europas sicherlich eine große Enttäuschung sein. Es wird oft gesagt, dass die meisten Weißrussen mit einer engen Beziehung zu Russland zufrieden sind. Diese Behauptung verdient eine genauere Prüfung. Eine Umfrage aus dem Jahr 2019 ergab, dass 89 Prozent der Befragten eine positive oder neutrale Meinung von der EU haben. Das Vertrauen ist hoch. Die gestohlene Wahl in diesem Monat war keine Abstimmung für den Beitritt zu Europa. Aber es war eine Abstimmung für die Werte Europas."

In der Türkei gibt es starke Bestrebungen aus der ausgerechnet in Istanbul verabschiedeten "Istanbul-Konvention" zum Schutz von Frauen vor Gewalt auszusteigen. Selbst Frauen in der AKP sind massiv gegen einen solchen Ausstieg, berichtet Rainer Hermann in der FAZ. Aber islamistische Bruderschaften wie die Gemeinschaft der Ismailaga-Moschee im Istanbuler Stadtviertel Carsamba erzeugen einen starken Druck: "Mit ihren Führern stand Erdogan über viele Jahre in Kontakt. Und jetzt fordern sie von ihm, dass sich die Türkei aus der Istanbul-Konvention zurückzieht. Am Schluss einer Erklärung auf der Website der Gemeinschaft heißt es, die Konvention sei eine Kriegserklärung an die 'islamischen Werte'. Sie stehe im Widerspruch zum Zweck der Schöpfung, sie zerstöre die Moral und die Familienstruktur, die man von den Vorfahren übernommen habe und an die Kinder weitergeben müsse."

Marija Latković beklagt sich in der SZ anlässlich der Berichterstattung über Corona-Infizierte aus Kroatien bitter über Vorurteile gegen den Balkan. Die Menschen dort seien herzlich, aber eben auch enttäuscht - von ihren Regierungen und der EU. Die warte, bis sich Russland oder China engagieren, mache dann einen Gipfel, gebe Geld und gucke wieder weg: "22 Milliarden gehen allein an Kroatien, doppelt so viel wie erwartet. Mal sehen, wie viel von den 22 Milliarden diesmal nicht bei der Bevölkerung ankommt, fragten sich kroatische Twitter-User. Brüssel hätte im Gegenzug mehr Transparenz verlangen müssen, mehr Demokratie und Freiheitsrechte, kritisierten politische Kommentatoren. Das mag stimmen. Es stimmt aber auch, dass in solchen Forderungen genau jene Haltung durchklingt, die viele Menschen in den Balkanstaaten stört: Erst hinsehen, wenn andere Kräfte in 'Europas Hinterhof' auftauchen, dann eilig versuchen, das eigene Revier zu markieren."
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Politik

Im Iran werden antisemtisische Verschwörungstheorien zur Coronokrise verbreitet, und zwar von höchster Stelle, schreibt Stephan Grigat in der taz: "Nachdem Ali Chamenei im Zusammenhang mit der Coronapandemie in seiner mittlerweile legendären 'Dschinn-Rede' zum iranischen Neujahrsfest verkündet hatte, der Iran habe sowohl 'menschliche' Feinde als auch solche, die 'Geister' oder 'Dämonen' seien, wurde auf der offiziellen Website des obersten geistlichen Führers erläutert, es gebe 'keinen Zweifel', dass 'Juden und insbesondere die Zionisten' eine lange Geschichte der 'Beziehung zum Teufel und zu Geistern' hätten. Nachdem derartige Äußerungen selbst in iranischen Regimekreisen zu leichten Zweifeln geführt hatten, boten die Revolutionsgarden einen Geistlichen auf, der nochmals bekräftigte, 'die Juden' seien 'Experten in Zauberei und der Herstellung einer Verbindung mit Geistern'."

In Mali ist der Präsident Ibrahim Boubacar Keita vom Militär aus dem Amt geputscht worden. Obwohl er ein schlechter Präsident war, wirft der Putsch ein bezeichnendes Licht auf die Länder des frankophonen Westafrikas, meint im Guardian der in Leiden forschende Politologe und Historiker Rahmane Idrissa. "Die Militärputschisten haben ihre Tat mit minimalem Schaden ausgeführt. Nachdem sie IBK zum Rücktritt gezwungen hatten, sprechen sie nun von Wahlen und einer Übergangsregierung und scheinen einen Ausweg aus einer harten Pattsituation gefunden zu haben. Aber für Malis Leiden ist nicht allein IBK verantwortlich, und sein Sturz wird nicht alles in Ordnung bringen. ... Die umfassendere Frage ist die nach der politischen Kultur, die einen IBK überhaupt erst geschaffen hat. Diese Kultur der sorglosen Regelverletzung und des zügellosen Missbrauchs politischer Institutionen scheint heute typisch für das frankophone Westafrika zu sein. Im Gegensatz zum frankophonen Zentralafrika, wo die Diktaturen nach wie vor fest etabliert sind, hatte sich das frankophone Westafrika in den 1990er Jahren weitgehend demokratisiert (Togo ist die Ausnahme). Doch Spitzenpolitiker versuchen, die Geschichte auszutricksen, indem sie die Demokratie von innen sabotieren."
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Ideen

Im Blog starke-meinungen.de kritisiert die Ur-Grüne Eva Quistorp Achille Mbembe und die mit ihm verbündeten Professoren für ihre Ferne von tatsächlichen sozialen Kämpfen: "Kein Wort gibt es vom Mbembe des Weiteren zur nötigen Geburtenbeschränkung und Freiheit der Verhütung von zu viel Geburten für afrikanische Frauen, kein Wort zu Bildungsprogrammen für Mädchen und gegen Aids und Ebola und Malaria. Eine Art Welt- und Politikverdruss zeigt sich für mich in der Rede Mbembes, in der die Politikgeschichte reduziert wird auf ein Klischee von Staaten, die anscheinend alle gleich asozial und alle gleich undemokratisch sind."

Letzte Woche ist Stefanie Carp, die scheidende Intendanten der Ruhrtriennale, bei Deutschlandfunk Kultur interviewt worden. Thomas Wessel hat sich das Gespräch, das bei Dlf Kultur nur sehr kursorisch resümiert war, für die Ruhrbarone nochmal angehört und macht sich die Mühe, längere Passagen zu transkribieren. Carp nimmt äußert sich demnach noch einmal in aller Deutlichkeit zur Mbembe-Debatte: "Die Beschuldigung, er sei antisemitisch oder BDS-Unterstützer und was auch immer, war absolut infam und gelogen. Eine ganz infame Intrige auch seitens des Antisemitismus-Beauftragten, der sich dafür hat funktionalisieren lassen. Das nur mal am Rande. Und darum hat Achille Mbembe dann auch, weil ja ihm natürlich der ganze rassistische Hintergrund, der ja ziemlich offensichtlich war, sehr verletzt hat, beschlossen, erst einmal in Deutschland nicht mehr aufzutreten." Im wesentlichen ging es in der Debatte laut Carp aber um ihre Person: "Im Fall von Achille Mbembe war es die pure Intrige einiger weniger Personen, die ich auch nennen könnte, die mich persönlich beschädigen möchten, also mich beruflich beschädigen möchten, und sich dafür nun Achille Mbembe ausgesucht hatten. Ich hab da richtig Schuldgefühle ihm gegenüber."
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