9punkt - Die Debattenrundschau

Eine neue Technologie des Protestes

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2020. Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch singt in der FAZ ein Loblied auf die protestierenden Frauen von Belarus. "Europa muss verstehen, dass es allein ist", wenn es darum geht, die Proteste in Minsk zu unterstützen, schreibt Bernard-Henri Lévy in La Règle du Jeu, denn auf Amerika kann es nicht mehr zählen. In der SZ propagiert der  afroamerikanische Philosoph Frank Wilderson seinen "Afropessimismus": Erst gemeinsam am Abgrund werden wir frei. In der FAZ warnt Roberto Saviano: Corona nützt der Mafia.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.08.2020 finden Sie hier

Europa

In Belarus übernahmen Frauen die Rollen ihrer Männer, und auch bei den Demos in Minsk und anderen Städten ist die Präsenz der Frauen sehr auffällig. Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch singt im Gespräch mit Kerstin Holm in der FAZ ein Loblied auf die protestierenden Frauen: "Mich begeistert an diesen Kundgebungen aber auch die Kraft der Schönheit im Angesicht einer gewaltbereiten Macht. Dieser grausamen Gewalt kann man nur Liebe und Schwäche entgegensetzen. Nach den ersten Protesten war klar, dass jeder Mann, der auf die Straße geht, ins Gefängnis kommen und schrecklich gefoltert werden kann. Aber die Frauen, die Blumen verschenkten, ihre Barmherzigkeit, dagegen waren die Machthaber machtlos, das war stärker als physische Stärke. In ihrer Verzweiflung entwickelten diese Frauen eine neue Technologie des Protestes und waren plötzlich unbesiegbar."

Bernard-Henri Lévy fordert in La Règle du Jeu europäische Solidarität für Belarus. Und die ist dringender denn je: "Europa muss verstehen, dass es allein ist, auf seine eigenen Kräfte zurückgeworfen ohne Unterstützung der Republikaner in Amerika, die mit dem antitotalitären Erbe des Präsidenten Reagan gebrochen haben. Europa muss den gigantischen Erdrutsch verstehen, der es auch selbst betrifft und der vom Geist Jan Patockas und Bronislaw Geremeks zu den Salvinis, Orbans, Kaczynskis und Erfindern des Brexit führte. Es kommt auf Europa an, damit das Ereignis zu einer samtenen Revolution in der Art Vaclav Havels wird und nicht zu einem Blutfrühling wie in Prag 1968, in dem die Panzer Putins ihre postsowjetische Ordnung wiederherstellen."

Die Coronakrise und die damit entstehende Krisenökonomie öffnen mafiösen Organisationen unendliche Möglichkeiten, warnt Roberto Saviano in der FAZ: "Wer sorgt dafür, dass die Côte d'Azur oder die Costa del Sol, die wegen der Tourismuskrise 2020 in die Knie gegangen sind, wieder auf die Beine kommen? Was wird aus den Berliner Restaurants und den Londoner Pubs, die wegen des Lockdown wochenlang geschlossen waren? Was geschieht mit den nicht vermieteten Häusern in den Hauptstädten Europas? Wer nutzt sie für Erwerb und Spekulation? Dem schmutzigen Geld standen noch nie so viele Türen so weit auf wie heute, Kontrollen gibt es derzeit kaum."

In Graz hat ein junger Syrer einen Rabbiner mit einem Stuhlbein angegriffen. Es wird Zeit, auch den muslimischen Antisemitismus zu benennen, fordert Alan Posenr in der Welt: "Allzu lange hat man auf linker und liberaler Seite versucht, den muslimischen Antisemitismus in Europa wegzudefinieren als 'Auswirkung des Nahost-Konflikts'. Als ob der Krieg gegen die Juden in Israel einen Krieg gegen die Juden in Europa rechtfertigen könnte."
Archiv: Europa

Urheberrecht

Südafrika muss wohl auf Druck der USA und der EU seine Urheberrechtsreform überdenken, berichtet Justus Dreyling von der Wikimedia-Bewegung bei Netzpolitik. Bisher sah das Reformvorhaben eine "Fair-Use"-Regel vor, die etwa - in Grenzen - freie Nutzung von Inhalten für Bildungszwecke erlaubt. Auch in den USA gibt es eine Fair-Use-Regel. Aber Rechteinhaber "beklagen, dass Fair Use den ihrer Meinung nach unzureichenden Schutz geistigen Eigentums in Entwicklungsländern zusätzlich aufweiche. Dass durch die Einführung von Fair Use tatsächlich Gewinneinbußen zu erwarten wären, ist aber mehr als fraglich: In den USA gilt Fair Use sogar als einer der Gründe für das Wachstum der Digitalwirtschaft."
Archiv: Urheberrecht

Ideen

Nicht nur in Deutschland lockt die Idee des Liberalismus leider niemanden so recht mehr hinterm Ofen hervor. Dabei wäre sie angesichts der konvulsivischen Debatten heutzutage ein heilsames Gegenmittel. Darum erinnert Richard Herzinger in seinem Blog an Raymond Aron und zeigt, dass Liberalismus nicht ohne Antitotalitarismus auskommt: "Dabei setzte Aron die beiden Systeme aber keineswegs gleich, sondern arbeitete im Gegenteil detailliert ihre Unterschiede heraus - sowohl was ihre ideologischen Wurzeln, als auch was die Funktionsweise ihrer Herrschaftssysteme betrifft. Eine substanzielle Gemeinsamkeit zwischen ihnen erkannte er allerdings unter anderem darin: Beide Systeme waren 'revolutionär' in dem Sinne, dass sie radikal mit der Vergangenheit und allen geschichtlichen Konventionen brechen wollten, wohingegen liberale Demokratien, so Aron, 'in dem Sinne grundsätzlich konservativ sind, dass sie die überkommenen Werte bewahren wollen, auf die unsere Zivilisation gegründet ist.'"

Uff, das ist heute der Tag der gequälten Männerseelen. Erst Maxim Biller in der NZZ (unser Resümee) und jetzt der afroamerikanische Philosoph Frank Wilderson, der in der SZ seinem "Afropessimismus" (mehr dazu in unserer Magazinrundschau) Luft macht: Danach waren die Schwarzen seit Anbeginn der Erde Sklaven, weil ihre Versklavung und die damit einhergehende Erniedrigung konstitutiv war für die Entstehung einer "weißen" Rasse. Und darum sind sie auch heute noch Sklaven, selbst wenn sie als Professoren an der Universität von Kalifornien lehren. Wildersons Traum ist "die Explosion der Zivilgesellschaft, damit die Leute von allem frei werden, was ihr Leben möglich macht. Wir müssen alle gemeinsam am Abgrund stehen, an einem Abgrund, auf deren gegenüberliegender Seite es keine Weißen, keine Schwarzen gibt. Wir dürfen uns nicht vorstellen können, was jenseits dieses Abgrunds liegt. Aber so frei möchte niemand sein."

Ohne das an einzelnen Fällen zu exemplifizieren sieht Isolde Charim in ihrer taz-Kolumne den Streit zwischen Anhängern der "Cancel Culture" und ihren Kritikern als einen Streit zwischen "neuer" und "alter Kritik": "Die alte Kritik beruht ihrem Selbstverständnis nach auf rationalen Argumenten. Sie will überzeugen. Ihr Medium ist die Debatte bis hin zum Streit. Die neue Kritik hingegen, die 'Cancel Culture', funktioniert völlig anders. Geradezu gegenteilig. Statt zu überzeugen, will sie den Gegner strafen. Statt mit ihm zu debattieren, will sie ihn isolieren und stigmatisieren."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

In der Berliner Zeitung stimmt auch der Historiker Götz Aly in das Lob für die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum in Berlin ein: "Trotz all dem, was zum Gestern und Heute gesagt werden muss und an entscheidenden Stellen mal minimalistisch, mal massiv sichtbar wird, fehlt in der viele Jahrhunderte übergreifenden Darstellung der geschichtspädagogische Zeigefinger. Nirgendwo wird der Betrachter bevormundet." Der Besuch lohne sich auch deshalb, weil das Judentum nie in einer Lehre erstarrt sei: "Am Anfang und Ende der Ausstellung steht die Thora mit ihren ewig glühenden 79.976 Wörtern und 304.805 Buchstaben. Diese sind von jedem einzelnen Leser immer wieder neu zu befragen, und zwar individuell, nicht gemäß dogmatischer Vorgaben oder den Leitlinien eines Vorbeters. Jüdischsein beinhaltet geistige Bewegungslust."

Die Stiftung Topographie des Terrors in Berlin hatte im Jahr 2019 zwar 1,3 Millionen Besucher, eine stattliche Zahl, aber sie leidet unter akutem Personalmangel, berichtet  Birgit Rieger im Tagesspiegel. Die neue Chefin Andrea Riedle wolle vor allem die wenig besuchten Außenbereiche des großen Areals in Kreuzberg besser ins Spiel bringen: "Momentan gebe es ein 'Orientierungsproblem' auf dem Areal, so Riedle. Ihre Idee ist es, beispielsweise die ehemaligen Küchenkeller oder die Hausgefängniszellen temporär zu markieren und direkt am Ort zu erklären. Historische Spuren sollen besser lesbar gemacht werden."
Archiv: Kulturpolitik