9punkt - Die Debattenrundschau

Herrlicher Sonnenaufgang

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2020. Heute ist Hegels 250. Geburtstag. Sein Biograf Klaus Vieweg hält bei rnd.de daran fest: Hegel war ein Philosoph des Universalismus und der Freiheit. Aleida Assmann schildert ihn in der SZ als Rassisten. Slavoj Zizek sieht ihn in der NZZ als Kapitalismuskritiker. Die Zeit schildert das sadistische Kalkül des giftmischerischen Putin-Regimes. In Zeit online schildert die Journalistin Vera Dziadok die Brutalität, mit der Alexander Lukaschenko die Proteste niederschlägt. Die SZ recherchiert zu Rechtsextremismus in der Polizei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.08.2020 finden Sie hier

Ideen

Klaus Vieweg schildert Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner großen und viel besprochen Biografie als einen Philosophen des Universalismus und der Freiheit. Daran hält er auch im Gespräch mit Kristian Teetz in rnd.de fest und erinnert an Hegels Liebe zur Französischen Revolution: "Jedes Jahr am 14. Juli stieß er mit einem Glas Champagner auf die Revolution an. Die Revolution blieb das politische Ereignis seines Lebens. Ungebrochen, bis zu seiner letzten Vorlesung 1830 in Berlin, wo er die Revolution mit einem 'herrlichen Sonnenaufgang' vergleicht." Vieweg insistiert auch, dass Hegel ein "Kritiker jeglichen Nationalismus und  Kritiker des Rassismus" sei. In der Berliner Zeitung schreibt Arno Widmann zur Bedeutung der Französischen Revolution und deren Folgen für Hegel.

Die SZ widmet dem 250. Geburtstag von Hegel ihr gesamtes Feuilleton. Hegel sei "mit seinem begrifflich gezügelten Enthusiasmus für die Vernunft, mit seinem historischen Denken und seinem Zugriff aufs Ganze heute der anstößigste Denker des 19. Jahrhunderts", schreibt Jens Bisky im Aufmacher. 

Aleida Assmann rät im SZ-Dossier, Hegels Texte über Afrika und Sklaverei als Augen öffnende Dokumente "für europäischen Hochmut und die kulturelle Erbschaft, die Hypothek, die wir in uns tragen" zu lesen: "Für ihn ist der Afrikaner ein Noch-nicht-Mensch, weil er sich selbst als das Höchste setzt, mit Zauberei hantiert, der Natur Befehle erteilt und noch keinen Begriff von einer höheren Macht oder Idee gebildet hat. Im Klartext gesprochen, sind die Menschen in dieser Weltgegend für Hegel Menschenfresser und Menschenhändler, die keine sittlichen Empfindungen und keine Achtung vor dem menschlichen Leben haben. Ja mehr noch: Der Charakter des 'Negers' ist 'keiner Entwicklung und Bildung fähig'."

Slavoj Zizek, der gerade erst ein neues Buch über Hegel verfasst hat, braucht in der NZZ nur wenige Sätze, um von Hegel über Corona zur Kapitalismuskritik zu gelangen. Hegel war nicht nur ein absoluter Idealist, sondern ging auch von der Einheit der Gegensätze aus, schreibt er: "Wer die Welt durch Hegels Linsen betrachtet, trifft auf einen weiteren Parasiten: das von Menschen geschaffene Kapital, das sich selbst reproduziert, auf dem ganzen Globus zirkuliert und hierfür auf den menschlichen Geist angewiesen ist, ja ihn eigentlich benutzt, ohne doch insgesamt auf menschliche Schicksale Rücksicht zu nehmen."

Außerdem: In einem weiteren SZ-Text liest der Germanist Iwan-Michelangelo D'Aprile Hegels Rechtsphilosophie als Attacke gegen den Populismus und zitiert: "'Der Mensch gilt, weil er Mensch, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener' ist." Und in der FAZ lobt Jürgen Kaube Hegel für seine Schwierigkeit.
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Politik

Der Westen ist am Ende, sagt der amerikanische Historiker Michael Kimmage im großen NZZ-Interview mit Marc Neumann. Schuld gibt er dem "ethno-nationalistischen" Konzept der amerikanischen Konservativen, aber auch den Liberalen in den USA: "Das Abrücken vom Westen geschah in Raten. In der amerikanischen Linken wächst mit der Schuld über die Verbrechen in Vietnam das Gefühl, dass der Westen ein Hindernis für die multikulturelle Gesellschaft sei. Und dass er die Vereinigten Staaten zum Mittäter bei den Verbrechen des Kolonialismus gemacht habe. Um daheim und außer Landes eine gerechte Gesellschaftsordnung zu erreichen, müsse der Westen notwendig überwunden werden."
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Kulturpolitik

Das British Museum hat zur Wiedereröffnung eine Büste des Biologen und Mediziners Hans Sloane, dessen 71.000 Artefakte umfassende Sammlung den Grundstock für das Museum legte und der Sklaven für sich arbeiten ließ, an einem prominenten Platz neu aufgestellt und mit Erläuterungen versehen, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Die Neuaufstellung der Büste ist Teil einer umfassenden Aufarbeitung der Provenienz sämtlicher Objekte im Zusammenhang mit Kolonialismus und Sklaverei - mit dem Ziel einer möglichen Neupräsentation des gesamten Hauses. So sollen etwa Objekte, die der Seefahrer und Entdecker James Cook von seinen Reisen mitbrachte, mit der Erklärung versehen werden, dass sie bei 'kolonialen Eroberungszügen und Armeeplünderungen' erworben wurden."
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Europa

Warum Gift, fragen Alice Bota und Julia Smirnova in der Zeit: "Gift ist effizient. Der sowjetische Geheimdienst KGB, schreibt das russische Autorenduo Andrej Soldatow und Irina Borogan in ihrem Buch 'The Compatriots', kannte viele Wege, politische Gegner einzuschüchtern. Aber Gift stach ganz klar hervor. Das Opfer sterbe nicht allein. 'Verwandte und Freunde teilen diese fürchterliche Erfahrung, wie der geliebte Mensch stirbt. Auf eine Art ist das der Kern der Nachricht.' Angehörige und Weggefährten wohnen dem Verfall des Opfers bei. Und sie verstehen: Auch sie sind gemeint. Selbst wenn das Opfer überlebt, verbreitet sich die Botschaft."

Erschütternd liest sich, was die weißrussische Dolmetscherin und Journalistin Vera Dziadok bei Zeit Online von den Protesten in Belarus berichtet: "Die Festgenommenen bekommen zwei Tage lang nichts zu essen und kaum etwas zu trinken. Die Zellen sind überfüllt. Einige werden so heftig verprügelt, dass sie Knochenbrüche erleiden. Hilfe wird ihnen verweigert. Polizisten seien davon ausgegangen, dass Protestierende über den Chatdienst Telegram aus dem Ausland manipuliert und für das Demonstrieren bezahlt würden. Also hätten sie in den Handys der Festgenommenen nach Beweisen dafür gesucht. Sie glaubten offenbar an die eigene Straflosigkeit."

Russische Journalisten entern belarussische Staatsmedien, deren Journalisten oft gegangen sind, berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Und die Gleichschaltung beginnt schon, schreibt sie unter Bezug auf die belarussische Journalistin Xenia Luzkina: "Beispielsweise werde Belarus, dessen Staatsname in der Verfassung verankert ist, plötzlich wieder russisch 'Belorussia' genannt, berichtet Luzkina. Außerdem behaupteten die Staatsmedien nun, die Opposition drohe damit, dass der Schulunterricht bald nur noch auf Belarussisch stattfinden dürfe. Diese Leute verstünden die belarussische Mentalität nicht, sagt Luzkina, die Menschen in ihrem Land seien durchweg zweisprachig, niemand habe Angst vor belarussischem Schulunterricht."

In der NZZ schildert Felix Ackermann, wie Lukaschenko eine militärische Bedrohung des Landes durch den Westen inszeniert: "Das staatliche Fernsehen BT lässt eine weinende Frau zu Wort kommen: 'Wir wollen unseren Präsidenten, und wir sind gegen die Faschisten!' Das Zauberwort 'Faschisten' soll bei den Zuschauern eine Seite zum Klingen bringen, die bereits seit den ersten und einzigen freien Präsidentschaftswahlen von 1994 in Lukaschenkos Repertoire ist. Die Unterstellung, die Opposition kämpfe in Kontinuität mit dem Nationalsozialismus gegen die eigenen Einwohner, wird stets mit Bildmaterial der deutschen Besetzung illustriert, an der sich weißrussische Kollaborateure in der falschen Hoffnung auf einen eigenen Staat beteiligt hatten."

Der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat eine geplante Demo von Coronaleugnern am Samstag verboten. Die taz ist sich uneins, ob das richtig ist. Ja, findet Lea Fauth. Zwar hätten auch Rechtsextreme Meinungsfreiheit: "Trotz dieses Dilemmas ist das Verbot ein richtiger Schritt. Ein Nazi-Aufmarsch wie 2018 in Chemnitz, wo es rassistische Jagden auf Menschen gab, könnte auch bei dieser Großmobilisierung ein Szenario sein. Das gilt es zu unterbinden. Es gab und gibt zu viele Fälle, in denen nichts gegen rechtsextreme Gefahren unternommen wurde." Nein, findet Erik Peter: "Über den polizeilich nicht durchgesetzten Infektionsschutz bei der vergangenen Verschwörer*innendemo hatte Geisel noch in der taz gesagt, das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit stehe höher als die dort begangenen Ordnungswidrigkeiten. Dies hätte auch jetzt gelten müssen. Richtig wäre es gewesen, vor Ort darauf zu regieren, wenn die Teilnehmer*innen das Tragen von Masken und den Mindestabstand verweigern. Die Polizei hätte es in der Hand, die Demo dann nicht laufen zu lassen."

Markus Reuter kritisiert das Demo-Verbot bei Netzpolitik: "Wer Grundrechte verteidigen will, muss das für alle Menschen und alle politischen Farben tun. So schwer das auch persönlich fällt und so ungemütlich sich das anfühlt."

Die unheimliche Frage, wie stark sich der Rechtsextremismus in der Polizei und anderen Behörden ausgedehnt hat, ist bisher nur lückenhaft beantwortet. Florian Flade und Ronen Steinke haben für die Süddeutsche herausgefunden, dass nicht nur von hessischen Computern Anfragen über missliebige Personen kamen: Und "in Hessen ermittelt das Landeskriminalamt zum Fall 'NSU 2.0', bislang ohne Erfolg. Die Täter nutzen häufig Verschlüsselungstechnologien, um ihre Identität zu verschleiern. In Berlin werden bislang keine eigenen Ermittlungen geführt. In der Hauptstadt hat es zuletzt Fälle von Polizisten gegeben, die sich rechtsextrem äußerten."
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