9punkt - Die Debattenrundschau

Zur Normalität verklärte Mehrheitskultur

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2020. Auch Berliner Lehrerinnen dürfen künftig mit Kopftuch unterrichten - das Berliner Neutralitätsgesetz ist in dieser Frage nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts hinfällig. Tagesspiegel, Migazin und die Welt bringen begeisterte Kommentare. Die Staatsanwaltschaft ermittelt laut Berliner Zeitung immer noch gegen die beiden Financial-Times-RedakteurInnen, die bereits Skandale bei Wirecard aufdeckten, als Politik, Wirtschaftsprüfer und deutsche Medien das Unternehmen noch für hoch seriös hielten. BuzzFeed bringt neue Informationen über immer neue Lager für Uiguren in China.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.08.2020 finden Sie hier

Europa

Auch das Land Berlin muss jetzt Lehrerinnen mit Kopftuch zulassen, berichtet Susanne Memarnia in der taz. Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass sich Berlin dem dementsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts unterwerfen muss. Das Berliner Neutralitätsgesetz ist hier hinfällig. In der Berliner rot-rot-grünen Koalition war es darüber zu Konflikten gekommen: "Die SPD wollte das Gesetz bisher unverändert lassen. Ihr Hauptargument: Bei den sich häufenden Religionskonflikten an Berliner Schulen könnten kopftuchtragende Lehrerinnen nicht die gebotene überparteiliche Rolle einnehmen; insbesondere Mädchen, die von der Familie und/oder muslimischen MitschülerInnen zum 'Tuch' gedrängt würden, könnten von einer Kopftuch-Lehrerin kaum Hilfe erwarten. (...) Die Grünen, allen voran Justizsenator Dirk Behrendt, vertreten mehrheitlich die Gegenposition. Die besagt im Kern: Das Gesetz bedeutet de facto eine Verletzung der Religionsfreiheit und eine Diskriminierung von Musliminnen und gehört daher abgeschafft." Mehr hier.

Das Neutralitätsgesetz hat eine "weiche Stelle" bekommen, freut sich Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel: "Zu verdanken war das alles auch einer ungenügenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die das Auftauchen des Kopftuchs im Lehramt als Gefahr beschrieb. Doch vor einigen Jahren korrigierte Karlsruhe die Ansage. Seitdem können pauschale Verbote nur noch begründet werden, wenn der Schulfriede in Gefahr gerät. In eine konkrete Gefahr. Es muss also echtes Ungemach drohen. Es liegt ein Verhängnis darin, dass die Verantwortlichen seitdem viel dafür getan haben, solche Gefahren herbeizureden."

Begeistert kommentiert auch Fabian Goldmann in dem auf Migrationsfragen spezialisierten Migazin, der die freiwillige Unterwerfung unter das Kopftuch auch als ein kraftvolles Zeichen gegen die "Privilegien" der Mehrheitsgesellschaft deutet: "Ob 'göttliche Ordnung', 'Naturzustand', 'Volksempfinden' oder 'der gesunde Menschenverstand': Dominante Gruppen berufen sich gern auf vermeintlich objektive Zustände, wenn es darum ging, die eigenen Privilegien zu sichern. Privilegien, die heute so groß sind, dass viele sie nicht einmal mehr wahrnehmen. Denn hinter 'weltanschaulich-religiöser Neutralität' verbirgt sich nichts anderes als die zur Normalität verklärte Mehrheitskultur." Und auch Alan Posener freut sich in der Welt über diese Zulassung religiöser Zeichen an Berliner Schulen: "Als seien mündige Bürger nicht in der Lage, zwischen den zwei Körpern des Staatsdieners zu unterscheiden, dem offiziellen und dem privaten. Als seien Richterin, Lehrer und Polizistin nicht in der Lage, diesen Unterschied zu erläutern." Eine kritische Kommentierung des Urteils war heute nicht zu finden.

Nach dem Sturz Lukaschenkos werden die Probleme in Weißrussland noch größer, unkt Slavoj Zizek in der Welt - denn dann fehle der "Tyrann", den man für alles verantwortlich machen kann: "Die andauernden Proteste in Weißrussland sind Nachhol-Proteste, die darauf abzielen, Weißrussland in den liberal-kapitalistischen Normalzustand des Westens zu überführen. Die Probleme, die jene westlichen Länder heutzutage umtreiben, werden dabei ausgeblendet. Und so darf man die Prognose wagen, dass eben diese Probleme im Falle eines erfolgreichen Ausgangs der Proteste, sobald die erste Euphorie vorüber ist, sofort ans Tageslicht treten werden. So ist nicht auszuschließen, dass am Ende der Proteste eine neue, noch national-konservativere Figur steht als Lukaschenko, eine weißrussische Version eines Orban oder Kaczynski."

Ab und an mal ein paar Sanktionen und ein bisschen Kritik  - das ist alles, was die EU gegen Russland wagt, ärgert sich Carolin Emcke in der SZ: "Da lohnt es sich doch, weiterhin russische Kritiker und Dissidenten zu ermorden oder international antidemokratische Bewegungen zu stützen, wenn es nur ein bisschen Leugnen, ein bisschen Gegenpropaganda, ein bisschen Gas braucht, um schärfere europäische Reaktionen zu verhindern. Solange die EU sich nicht entschließt, als Reaktion auf russische Vergehen ihre Importe von russischem Gas auch mal um zehn bis 20 Prozent zu reduzieren, so lange bleibt moralische Empörung eine inflationäre Währung. Um auch die russische Elite wirklich zu treffen, könnte zusätzlich die Liste der Personen erweitert werden, denen kein Einreisevisum für die EU erteilt wird."

Wie würde die Außenpolitik einer grün-rot-roten Koalition aussehen, fragt Richard Herzinger im Perlentaucher. Nun, man würde sich Russland annähern und den bereits von der Schwesterpartei Die Linke formulierten Devisen folgen. Die SPD bekenne sich zwar noch zur westlichen Verteidigungsallianz. "Doch angesichts ihres Widerstands gegen die Realisierung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO sowie ihrer jüngst erhobenen Forderung, die USA sollten ihre in Deutschland gelagerten Atomwaffen abziehen - verbunden mit dem Ausstieg Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe im Rahmen des transatlantischen Bündnis -, klingt dies zunehmend nur noch wie ein Lippenbekenntnis."
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Medien

Aus Protest gegen den drohenden Verlust der journalistischen Unabhängigkeit und in Folge der Kündigung ihres Chefredakteurs Szabolcs Dull hat fast die gesamte Redaktion der ungarischen Nachrichtenseite index.hu ihren Job hingeschmissen, meldet Cathrin Kahlweit in der SZ. Ein weiterer Schlag gegen die Medienfreiheit in Ungarn, schreibt sie: "Fidesz-loyale Oligarchen, schreibt etwa András Földes für die Heinrich-Böll-Stiftung in einer aktuellen Analyse, hätten bereits Hunderte privater Medien übernommen oder aber eingestellt: Tageszeitungen, Webseiten, TV- und Radiosender und alle Regionalzeitungen. 2018 habe eine Gruppe von Oligarchen, unterstützt von Orbán, ihre Portfolios an eine Holding namens Central European Press and Media Foundation übertragen. Mehr als 80 Prozent der ungarischen Medien stünden mittlerweile direkt oder indirekt unter Regierungskontrolle, schätzt auch das Investigativportal Atlatszo.hu. Derzeit versuche die Regierung ihren Einfluss auf Medien in den Nachbarländern auszuweiten."

Noch immer ermittelt die deutsche Staatsanwaltschaft gegen die beiden Financial-Times-RedakteurInnen, die bereits über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard berichteten, als Politik, Wirtschaftsprüfer und deutsche Medien das Unternehmen noch für hoch seriös hielten, meldet Kai-Hinrich Renner in der Berliner Zeitung. Die dem Finanzministerium unterstellte Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) hatte sie angezeigt: "Bisher hat sich das Ministerium von dem Vorgehen der Bafin nicht distanziert. Seine Pressestelle weist vielmehr darauf hin, die Bafin habe laut Wertpapierhandelsgesetz 'die gesetzliche Pflicht, beim Vorliegen' von 'Tatsachen, die zum Beispiel den Verdacht auf Insidergeschäfte begründen, Anzeige zu erstatten'. Aus der Stellungnahme geht nicht hervor, ob das Ministerium die Stichhaltigkeit dieser 'Tatsachen' geprüft hat."
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Politik

BuzzFeed bringt ein Riesendossier mit neuen Informationen zu Lagern in Xinjiang und der genozidalen chinesischen Politik gegen die Uiguren - offenbar werden Provisorien jetzt in feste Institutionen umgewandelt: "China hat in den vergangenen drei Jahren insgeheim zahlreiche neue massive Gefängnis- und Internierungslager gebaut und damit seine Kampagne gegen muslimische Minderheiten dramatisch verschärft, obwohl es öffentlich behauptete, die Gefangenen seien alle freigelassen worden. Der Bau dieser speziell errichteten Hochsicherheitslager - von denen einige Zehntausende von Menschen beherbergen können - signalisiert eine radikale Abkehr von der früheren provisorischen Nutzung öffentlicher Gebäude wie Schulen und Altenheime hin zu einer riesigen und dauerhaften Infrastruktur für Masseninhaftierungen." Für einen zweiten Artikel sammeln Megha Rajagopalan und Alison Killing Zeugenaussagen.

Und in einem dritten Artikel erläutert das Autorenteam, wie es den Lagern auf die Spur kam: durch die Feststellung, dass der Kartendienst der chinesischen Suchmaschine Baidu an bestimmten Stellen graue Kacheln anzeigte: "Nach dem wir feststellten, dass wir auf diese Weise in ganz Xinjiang Lager identifizieren konnten, untersuchten wir alle Maskierungskacheln, die eine eigene Schicht in der Baidu-Karte bilden. Dann analysierten wir die maskierten Orte, indem wir sie mit aktuellen Bildern aus Google Earth, dem Sentinel Hub der Europäischen Raumfahrtagentur und Panet Labs abglichen."
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Gesellschaft

Tilman Baumgärtel plädiert in der taz dafür, die abstrusen Verschwörungstheorien der QAnon-Anhänger als einen Protest gegen Ungleichheit zu deuten: "Leider finden sich immer auch Beispiele, die solche - oft antisemitisch konnotierten - Ansichten scheinbar unterfüttern. Der Banker Jeffrey Epstein konnte wirklich jahrzehntelang Minderjährige missbrauchen und war mit Celebritys von den Clintons über Trump bis Prinz Andrew befreundet. Nach seiner ersten Verurteilung 2006 wurde er von einem Richter, der später unter Donald Trump Arbeitsminister der USA wurde, vor einer ernst zu nehmenden Strafe bewahrt und konnte über ein Jahrzehnt weiter Halbwüchsige missbrauchen." Dann wäre noch die Frage, warum diie QAnon-Anhänger ausgerechnet Trump-Wähler sind.

Das mit Sex und Gender ist ganz einfach, erklärt Peter Weißenburger in der taz: "Sexuelle Orientierung hat mit trans Geschlechtern erst mal nichts zu tun. Auch die Frage, ob sich eine Person in den binären Geschlechtern verortet, ist nochmal eine andere. Es gibt trans Menschen, deren Geschlecht binär ist - nur eben nicht das, das man ihnen bei Geburt zugewiesen hat. Eine trans Frau ist also eine Frau. Non-binäre Menschen hingegen befinden sich außerhalb der Binarität. Sie mögen Begriffe wie 'Mann' oder 'Frau' oder entsprechende Pronomen für sich verwenden oder auch nicht. Manche trans Menschen sind non-binär, aber es ist nicht dasselbe. Wer da verwirrt ist, kann sich leicht helfen: einfach fragen, wie Menschen angesprochen werden möchten."
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