9punkt - Die Debattenrundschau

Bestrebungen nach friedlicher Koexistenz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2020. Heute beginnt der Prozess um die Pariser Attentate von Januar 2015. Charlie hebdo publiziert die dänischen und die eigenen Karikaturen aus diesem Anlass neu. Im Editorial der Sonderausgabe geißelt Gérard Biard den "neuen Antisemitismus". Pakistan hat bereits protestiert. Die FAZ berichtet aus dem Libanon: "Die Wut wich der Erschöpfung" - und nun wollen alle weg. Die taz singt ein Loblied auf die mutigen Frauen von Belarus. Und in der Berliner Zeitung warnt die Soziologin Michaela Pfadenhauer vor einem allzu naiven Glauben an die Wissenschaft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.09.2020 finden Sie hier

Medien

Charlie hebdo bringt zum Prozess gegen die Attentäter vom Januar 2015 (zumindest gegen die Beteiligten, die noch leben) eine Sondernummer heraus: "Und all das deshalb".



Auf dem Cover werden nochmal einige der bekannten Karikaturen gezeigt (auch die dänische Karikaturen, die Charlie nachgedruckt hatte). Warum? Nun ja, wenn man sieht, dass der Guardian darüber berichtet, ohne das Cover abzubilden, versteht man die Provokation. Bernard-Henri Lévy tweetet dazu: "Riss, der Chef von Charlie, hat recht: Wenn der Rest der Presse die Karikaturen veröffentlicht hätte, wäre niemand in den Räumen der Zeitung gestorben. Man muss diese Zeichnungen teilen. Nicht weil sie uns zum Lachen bringen, sondern weil unsere kollektive Immunität gegen den Fanatismus davon abhängt."

Gérard Biard schreibt im Edito der Sondernummer über den "anderen Antisemitismus", der von bestimmten Fraktionen der Öffentlichkeit lieber beschwiegen wird, und er erinnert etwa an Sarah Halimi, die von dem Attentäteter Kobili Traoré unter "Allahu-Akbar"-Rufen aus dem Fenster geworfen wurde, und daran, dass Le Monde zu titeln wagte: "Wurde Sarah Halimi getötet, weil sie Jüdin war?" Biard schließt: "Am Mittwoch wird ein Prozess eröffnet, den viele, inklusive der Medien, hartnäckig als 'Charlie-hebdo-Prozess' bezeichnen. Darum ist es nicht überflüssig an Folgendes zu erinnern: Es ist auch der Prozess um die Hinrichtung der Polizisten Ahmed Merabet und Clarissa Jean-Philippe, die ermordet wurden, weil sie da waren, und die Ermordung Yoav Hattabs, Yohan Cohens, Philippe Brahams, François-Michel Saadas, die man umbrachte, weil sie Juden waren."

Romy Straßenburg, ehemalige Chefredakteurin der längst eingestellten deutschen Ausgabe von Charlie hebdo, sieht das Problem im Gespräch mit Barbara Oertel von der taz allerdings vor allem in der französischen Gesellschaft: "Die Anschläge auf Charlie hebdo und den jüdischen Supermarkt stellten ja nicht den schmerzhaften Auftakt einer ganzen Reihe von islamistisch motivierten Verbrechen dar. Sie haben vor allem gezeigt, dass die französische Gesellschaft nicht ausreichend Integrationskraft besitzt, um junge Franzosen vor religiöser Radikalisierung zu schützen, und dass das zu einer großen Gefahr werden kann. Das hat den Laizismus ganz entscheidend infrage gestellt."

"Der Rechtsanwalt der Charlie-Hebdo-Redaktion, Richard Malka, zieht fünf Jahre nach den Anschlägen eine ernüchternde Bilanz", berichtet in der FAZ Michaela Wiegel. "Um den Schutz der Meinungsfreiheit und der Laizität stehe es heute schlechter als 2015. Malka steht seit dem 6. Januar 2015 unter ständigem Polizeischutz. Er beklagt einen Gewöhnungseffekt: 'Dass friedliche Pressezeichner oder Karikaturisten von der Polizei geschützt werden müssen, ist unfassbar, aber alle haben sich daran gewöhnt. Das war auch das gewünschte Ziel: Eine neue Normalität zu schaffen, in der Angst und Schweigen angesichts der möglichen Folgen von Respektlosigkeit (gegenüber dem Islam) vorherrschen'."

Le Monde berichtet: "Am Dienstagabend verurteilte Pakistan 'auf das Schärfste' die Entscheidung zur Neuveröffentlichung der Karikaturen. 'Ein solch vorsätzlicher Akt, um die Gefühle von Milliarden von Muslimen zu verletzen, kann nicht als Ausübung der Presse- oder Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden', sagte ein Sprecher des Außenministeriums auf Twitter. 'Solche Handlungen untergraben die globalen Bestrebungen nach friedlicher Koexistenz und sozialer und interreligiöser Harmonie', fügte er hinzu." Und in der heutigen Ausgabe titelt Le Monde: "49 Verhandlungstage, 14 Angeklagte, 200 Nebenkläger: Startschuss für den Prozess um die Attentate von Januar 2015."

======= Weiteres =======

In der FAZ stellt David Kampmann die ägyptische Journalistin Lina Attalah vor, Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins Mada Masr (hier die englischsprachige Ausgabe), die im November mit dem Hermann-Kesten-Förderpreis des deutschen PEN ausgezeichnet wird: "Wie gefährlich es in Ägypten für Journalisten sein kann, bekam auch Lina Attalah zu spüren. Im November des vergangenen Jahres wurde die Redaktion von Mada Masr von Sicherheitskräften durchsucht, Kollegen von ihr wurden verhaftet. Im Mai dieses Jahres wurde sie selbst für mehrere Stunden in Haft genommen, dann auf Kaution wieder freigelassen. Sie hatte vor dem Hochsicherheitsgefängnis Tora in Kairo die Mutter des inhaftierten Aktivisten Alaa Abd el Fatah interviewt. Als Grund der Verhaftung nannten die Sicherheitskräfte unerlaubtes Filmen einer militärischen Einrichtung."

Claudius Seidl hört als Feuilletonchef der FAS auf, bleibt dieser Zeitung aber als Autor verbunden, berichtet Ulrike Simon bei Horizont. Vor einem Arbeitsgericht hat er um seine Position gerungen: "Gegenstand des Prozesses mit der FAZ war Seidls auslaufender Vertrag als Feuilletonchef der in Berlin sitzenden FAS. Dazu muss man wissen, dass die Redakteure in der Hauptstadt üblicherweise von der Frankfurter Zentrale dorthin entsendet werden und dieser Entsendungsvertrag alle fünf Jahre verlängert werden muss."

In einem epischen Interview mit der NZZ erklärt der Schweizer Publizist Frank A. Meyer, Mitbegründer von Cicero, warum er sich für einen Linken hält: "Die heutigen linken Frischlinge kennen das Arbeiterethos nicht einmal mehr vom Hörensagen. Es interessiert sie schlicht nicht. Sie würden die Arbeit am liebsten ganz abschaffen. Sie träumen von der Freizeitgesellschaft und dem bedingungslosen Grundeinkommen. Unglaublich eigentlich. Damit nehmen sie dem arbeitenden Menschen - dem Arbeiter - den Stolz und treiben ihn in die Abhängigkeit vom Staat. Es ist aber die Arbeit, die uns Würde verleiht, egal, ob wir - wie einst die Jäger - ein Mammut erlegen oder an der Supermarktkasse oder auf dem Bau oder in der Fabrik hart arbeiten. Der erarbeitete Lohn verleiht uns Selbstbewusstsein. Weil ich so denke, bin ich ein Linker, aber eben kein Neulinker."
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Ideen

Eine "Cancel Culture" gibt es in Academia sehr wohl, schreibt John McWhorter im Atlantic, einer der Dissidenten des Antirassismus (mehr hier) und Unterzeichner des "Harper's-Appells" (unsere Resümees). Er zitiert aus vielen Briefen und Mails, die ihm gesandt wurden und aus denen immer wieder hervorgeht, "dass weiße Studenten sich noch 'woker' geben als ihre schwarzen Kommilitonen, was zeigt, dass es dieser neuen Religion mehr um die Signalisierung von Tugendhaftigkeit geht als um soziale Gerechtigkeit."

Der Ausrufung neuer Epochen sollte man mit Skepsis begegnen, meint der Historiker Volker Reinhardt in der NZZ. So habe die Erfindung des Mittelalters nur dem einen Zweck gedient: Die neue Epoche der Aufklärung um so heller strahlen zu lassen. "Diese Konstruktion einer rückständigen Ära, die so effektvoll mit der parallel dazu propagierten Idee des unaufhaltsamen Fortschritts kontrastiert, war ein genialer Schachzug. Zum einen ließen sich Gegner der Aufklärung wie etwa die Jesuiten jetzt als unzeitgemäß abqualifizieren und dadurch mattsetzen. Zum anderen konnten sich die Aufklärer selbst als prometheische Zivilisationsbeförderer, ja geradezu als Beweger der Weltgeschichte hin zu höheren, humaneren Gestaden präsentieren", die darum qualifiziert waren, einfacheren Leuten den heilbringenden Weg zu weisen.
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Wissenschaft

Susanne Lenz unterhält sich für die Berliner Zeitung mit der Soziologin Michaela Pfadenhauer über die Kultur in Zeiten von Corona und die Sehnsucht nach Experten, die es nicht nur bei Corona, sondern auch bei Fridays for Future gibt: "Vorweg möchte ich sagen: Die 'Fridays for Future'-Bewegung hat ein enges Verständnis von Wissenschaft. Das Feld der Kultur- und Sozialwissenschaften taucht in diesem Kosmos kaum auf. Hier geht es um Science im engen naturwissenschaftlichen, sogar positivistischen Sinn. Einen Glauben an Objektivität, ohne den Konstruktionscharakter von Objektivität in Betracht zu ziehen. Um auf Ihre Frage zu antworten: Meine Vermutung ist, dass es mit dem Thema zu tun hat. Mit Krankheit sind wir alle vertraut, der Klimawandel ist abstrakt. Aber am Ende sind auch die Corona-Statistiken abstrakt, und deshalb hat es diesen Umschwung gegeben. Anfangs hatte man ja wirklich das Gefühl, man dürfe nicht zur Tür hinausgehen, weil da draußen das Virus lauert. Und erst allmählich hat man begriffen, dass die Maßnahmen ergriffen wurden, damit nicht zu viele Menschen auf einmal erkranken und unser Gesundheitssystem nicht unter Druck gerät."
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Gesellschaft

In Beirut ist nach der Explosion nichts mehr wie es war, erzählt Lena Bopp in der FAZ. Während die einen deprimiert den Schutt beiseite räumen, wollen die anderen nur weg: "Denn so groß die Solidarität gleich nach der Explosion war, so entschieden der Wille zum Weitermachen bekundet wurde, so unverkennbar hat sich schon bald die Atmosphäre in der ganzen Stadt geändert. Die Wut wich der Erschöpfung. Der Schock mündete in eine Ratlosigkeit über den Weg, der in die Zukunft führen soll, die umso ungewisser scheint, als die Explosion des Hafens bei weitem nicht das einzige Problem darstellt. Mit monatelangen Protesten gegen das Regierungssystem, mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und der Corona-Krise hat das Land ein Jahr hinter sich, das schlimmer kaum hätte laufen können. Man fürchtete schon vor der Explosion eine neue Migrationswelle. Auf viele, die noch gezögert hatten, wirkte die Explosion wie ein Weckruf."

Das Masken tragen verändert uns, glaubt Manuel Müller in der NZZ. Man ist dahinter so schön verborgen: "Wir sind nur noch Augen. Solange man deren Ausdruck im Vagen hält - was nun doch kein Kunststück ist -, bleibt man auf der sicheren Seite. Wie bequem!  ... Die Vereinzelung hat sich also ein neues Stück der Welt erobert. Das verheißt nichts Gutes, denn wir kennen dieses Szenario bereits. Die sogenannten sozialen Netzwerke der digitalen Sphäre sind ein abschreckendes Beispiel. Wir werden nicht zu besseren Menschen, wenn wir andere nicht als unmittelbar reagierende soziale Wesen wahrnehmen. Im Gegenteil."
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Europa

Der Politologe Sven Gerst, der teilweise in Minsk lebt, besingt in der taz die mutigen Frauen von Belarus: "Weiße Kleidung soll deeskalieren und das martialisch überzeichnete Pseudomaskuline entwaffnen: Blumen statt Baseballschläger. Symbolfigur dieses friedlichen Protests wird Nina Baginskaja. Die 73-jährige geht seit Jahrzehnten gegen 'den Schnauzer' auf die Straße, bewaffnet nur mit der weiß-rot-weißen Fahne eines unabhängigen Belarus. Als Polizisten ihr die Fahne entreißen, kommt sie am nächsten Tag wieder. Mit einer kleineren Fahne. Jedoch mit noch mehr Stolz und Würde."

Allerdings gibt es jetzt auch erste Streitigkeiten in der belarussischen Opposition, berichtet Reinhard Veser in der FAZ. Marija Kolesnikowa wolle eine politische Partei namens "Gemeinsam" gründen, und dafür die nötigen Papiere einreichen: "Aber diese Ankündigung Kolesnikowas, die als einzige der Drei noch in Belarus ist, wollte die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja nicht so stehen lassen: Aus dem Exil in Litauen veröffentlichte sie eine Erklärung, in der sie die Gründung politischer Parteien zwar als Zeichen des Strebens nach Demokratie begrüßte, Kolesnikowas Vorgehen aber scharf kritisierte. Das Vorhaben, Dokumente bei den Behörden einzureichen, 'bedeutet die Bereitschaft, das Thema des Machtwechsels gegen die Bereitschaft einzutauschen, bei den Machthabern um Erlaubnis für eine Parteigründung zu bitten'."
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Internet

Der Datenschützer Alan Dahi erklärt im Gespräch mit Svenja Bergt von der taz, warum er sich gegen die großen Internetkonzerne wehrt, die trotz europäischer Gesetze weiterhin persönliche Daten in die USA übermitteln. "Dadurch, dass Google und Facebook auf fast allen Webseiten zu finden sind, können sie Profile über die Nutzer erstellen. Und sie können jeden nachverfolgen und sehen: Aha, der besucht erst diese Seite und dann diese und dann eine dritte und kauft dort das. Und das wird sehr schnell sehr persönlich. Wenn zum Beispiel jemand Gartenmöbel kauft oder Naturkosmetik, Medikamente oder Kinderkleidung oder auch nur entsprechende Informationen sucht - das verrät viel über die Person dahinter. Das funktioniert natürlich auch mit politischen Vorlieben."

Auch ihre Mitarbeiter spionieren die Konzerne gern aus. Aaron Holmes berichtet in Businessinder.com, dass Amazon Geheimdienstagenten einstellt, um gewerkschaftliche Bestrebungen bei Mitarbeitern aufzuspüren. Das geht aus einer Stellenausschreibung des Konzerne hervor: "Ein Amazon-Sprecher reagierte nicht sofort auf eine Bitte um Stellungnahme, aber die Stellenausschreibung wurde kurz nachdem der Business Insider Amazon kontaktiert hatte, gelöscht. Die Anzeige wurde am Dienstagmorgen auf Twitter weit verbreitet, bevor sie gelöscht wurde." Bei Netzpolitik berichtet Alexander Fanta über die Überwachung von Mitarbeitern bei Amazon.
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Stichwörter: Datenschutz, Amazon, Netzpolitik