9punkt - Die Debattenrundschau

Sicherheitsbedürfnisse sind strukturell unstillbar

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2020. Politico.eu berichtet über die Karriere eines Begriffs aus dem Arsenal des neuen Rechtsextremismus: "Ensauvagement" - Verwilderung. Wir werden demnächst gezwungen, für einen neuen Personalausweis Fingerabdrücke abzugeben,  werden also behandelt wie Verbrecher, kritisiert Heribert Prantl in der SZ. Der Lyriker und Publizist Max Czollek bleibt bei seinen Thesen: Integration ist abzulehnen, sagt er in der FAS. In der FAZ kritisieren die Professoren Florian Grotz und Friedrich Pukelsheim den völlig unzureichenden Vorschlag der Parteien zur Verkleinerung des Bundestags.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.09.2020 finden Sie hier

Überwachung

Noch im September wird der Bundestag eine europäische Vorgabe nachvollziehen, die verlangt, dass für Personalausweise künftig die Fingerabdrücke des linken und des rechten Zeigefingers abgegeben werden müssen. Außerdem will Bundesinnenmister Seehofer, dass die Steuer-Identifikationsnummer, die uns seit einiger Zeit durchs ganze Leben begleitet, zu einer universellen Personenkennziffer wird (unser Resümee)- und keine protestiert. Nur Heribert Prantl griff das Thema in der SZ am Samstag nochmal auf, das schon nach dem europäischen Beschluss von 2019 kaum Aufsehen erregte. Für Prantl werden die Menschen künftig behandelt, als seien sie Verbrecher, "als potenziell verdächtig, als Störerinnen und Störer, als Gefährderinnen und Gefährder, als Straftäterinnen und Straftäter." Als die Steuer-Identifikationsnummer beschlossen wurde, hat man beteuert, sie nicht zu universalisieren, erinnert er und warnt: "Sicherheitsbedürfnisse sind strukturell unstillbar."
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Politik

In der SZ plädiert Omri Boehm noch einmal für seine Idee eines gemeinsamen Staates von Juden und Palästinensern, "etwa durch eine föderale Konstellation, in der Juden und Palästinenser in ihrem je eigenen Bundesstaat ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben, aber im gesamten gemeinsamen Territorium volle Rechte auf Freizügigkeit und Arbeit genießen. Dies würde es den meisten jüdischen Siedlern erlauben, in ihrer Siedlungen zu bleiben; die Palästinenser würden endlich Bürger ihres eigenen Staates mit Rechten, die dem umstrittenen 'Recht auf Rückkehr' gleichkämen: dem Wunsch der Palästinenser, in die Territorien zurückzukehren, aus denen sie 1948 vertrieben worden waren." Dass die Palästinenser in so einem Staat in der Mehrheit wären und der jüdische Staat somit tot, sagt Boehm nicht, doch scheint er das als Wiedergutmachung für die ursprüngliche Vertreibung der Palästinenser zu akzeptieren.
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Europa

Seltsamer Weise werden die Begriffe der "neuen Rechten", die eine Reformulierung rechtsextremer Ideen versuchen, oft in Frankreich ersonnen. John Lichfield begibt sich für politico.eu auf die Spur des Begriffs "ensauvagement" (Verwilderung), der von Marine Le Pen in praktisch jeder Rede benutzt wird und ursprünglich von dem Vordenker Laurent Obertone geprägt wurde. Der Begriff greift eine durchaus real existierende Gewalt in den französischen  Banlieues auf und erklärt sie zum Trend: "Die Behauptung, dass Frankreich in ein apokalyptisches Zwielicht migrantischer Gewalt abdriftet, ist Unsinn. Oder genauer eine Lüge, die rassistische Vorurteile und Hass schüren soll. Der Gebrauch des Worts 'wild' kommt nicht von ungefähr."

Die Partei Die Linke, möglicher Partner einer grün-rot-roten Koalition, feiert einerseits ihre Kontinuität, die bis zur KPD in den Zwanzigern zurückgeht, aber zugleich stellt sie sich gern so dar, als sei sie aus einer Verschmelzung der ehemaligen PDS mit dem westdeutschen Grüppchen WASG entstanden. Das ist falsch, die WASG wurde eingegliedert, schreibt Hubertus Knabe in seinem Blog. Und übrigens herrsche auch personell eine hohe Kontinuität, "obwohl seit dem Ende der DDR bereits dreißig Jahre vergangen sind. Mehr als 17 Prozent der Linken-Abgeordneten im Bundestag sind alte SED-Genossen. Viele von ihnen verschweigen dies allerdings oder tun so, als hätten sie 1990 die Partei gewechselt. Gregor Gysi zum Beispiel unterschlägt seine langjährige SED-Mitgliedschaft in seiner Bundestagsbiografie. Dabei trat er der Partei schon unter Ulbricht bei, war in der SED ein hoher Nomenklaturkader und 1989 ihr letzter Vorsitzender. Auch Fraktionschef Dietmar Bartsch lässt seinen politischen Werdegang auf der Website des Bundestages erst 1991 beginnen, obwohl er bereits 1977 SED-Mitglied wurde und später bei einem Institut des ZK der KPdSU in Moskau promovierte."

Durch die Komplikationen des deutschen Wahlsystems droht der Bundestag bei bestimmten politischen Konstellationen ins Unendliche zu wachsen. Die Parteien haben das gerade noch rechtzeitig zu dämpfen versucht, aber ihr Vorschlag wird von dem Politologen Florian Grotz und dem Mathematiker Friedrich Pukelsheim in der FAZ scharf kritisiert. Dämpfung wäre schon eine Beschönigung: "Eher rückt für 2021 eine weitere Vergrößerung des Bundestags ins Blickfeld, die zugegebenermaßen etwas geringer ausfällt, als wenn man gar nichts täte. Angesichts dieser Aussichten ist die Bundestagsverwaltung gut beraten, ihre vorsorgliche Reservierung von Bürocontainern aufrechtzuerhalten. Die Frage ist nicht, ob sie gebraucht werden, sondern wie viele davon."
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Gesellschaft

Im Interview mit der SZ erklärt der britische Autor JJ Bola, der gerade sein Buch "Sei kein Mann" veröffentlicht hat, wie schwer es ihm selbst fiel, die Rolle des harten Mackers abzulegen. Er erinnert sich, wie eine Gruppe kongolesischer Männer aus seiner Kirchengruppe ihn als junger Mann zum Essen eingeladen hatten. Auf dem Weg zum Restaurant in Tottenham kamen sie an seinen Freunden vorbei. Bola wie üblich in Hoodie und Sneaker, "meine Begleiter aber waren nach kongolesischer Mode in exzentrische Designs gekleidet und zogen durch laute Gespräche und Gelächter Aufmerksamkeit auf uns. Was für mich noch schlimmer war: Wir gingen in Zweierpaaren, wie das unter kongolesischen Männern üblich ist, Hand in Hand. Ich bemerkte, wie einige Jugendliche aus der Siedlung uns musterten. Einer rief in meine Richtung: 'Na, biste am Händchenhalten?' Es war, als ob sich in diesem Moment all der Respekt, den ich mir als großer, muskulöser Mann verdient hatte, in Luft auflöste."

In der FR versteht Arno Widmann natürlich, warum Social Distancing heute nötig ist. Aber er versteht auch, dass das ein Problem ist: Manche Leute ... haben das Gefühl, nicht leben zu können in einer Welt, die sie, einfach weil sie sind, als lebensbedrohlichen Feind ansieht. Sie sind angewiesen auf Vertrauen. Sie fühlen sich ausgestoßen durch 'Abstandsregeln'. Es mag sein, dass die Anti-Corona-Maßnahmen nur das bereits vorhandene Gefühl, ausgestoßen zu sein, verstärken. Vergessen Sie das 'nur'. Unsere Gesellschaft wird dem Virus erliegen, wenn sie diese Gefühle nicht ernst nimmt. Das Abkanzeln verstärkt sie. Oben und unten wird dadurch noch einmal deutlich gemacht."

Im Guardian warnt Jeremy Farrar, Leiter des Wellcome Trust: Auch mit einem Impfmittel wird es nicht sofort wieder eine Rückkehr zum Vor-Corona-Leben geben: "Der 'erste' Impfstoff oder sogar die erste Generation von Impfstoffen wird höchstwahrscheinlich nicht perfekt sein; in dieser Hinsicht müssen wir pragmatisch und transparent sein. Die Realität ist, dass wir mit diesen Impfstoffen kleine Schritte Richtung Normalität gehen werden ... aber es besteht kein Zweifel, dass die ersten wirksamen Impfstoffe, selbst unvollkommene, eine große Wirkung haben und ein kostbares Gut sein können."

Der Lyriker und Publizist Max Czollek bleibt bei seinen Thesen: Integration ist abzulehnen, sagt er im Gespräch mit Susanne Romanowski in der FAS: "Ein Viertel dieser Gesellschaft hat heute das, was auf Beamtendeutsch Migrationshintergrund heißt, Tendenz steigend. Solange wir mit einem Modell wie Integration operieren, schließen wir dieses Viertel systematisch aus dem Bereich der Anerkennung und der demokratischen Teilhabe an dieser Gesellschaft aus. Damit produziert der Integrationsbegriff ein Demokratieproblem. Konzepte wie Integration und Leitkultur, die die Dominanz einer bestimmten Gruppe voraussetzen, sind dann nicht mehr adäquat."

Natalie Mayroth berichtet in der taz aus Bombay über das - auch von der Industrie geförderte - Ideal heller Haut in Indien und and anderen Ländern: "Die bekannteste Marke, die Weißsein verspricht, gehört zu Unilever. 'Fair & Lovely' habe seit über 40 Jahren ein schädliches Schönheitsideal verstärkt, sagt die südindische Sozialarbeiterin Kavitha Emmanuel, die 2009 die Kampagne 'Dark is Beautiful' startete. Ältere Werbeclips von 'Fair&Lovely' zeigen, wie südasiatische Frauen, die Weißmacher nutzen, vermeintlich attraktiver und beruflich erfolgreicher sind, was den Inbegriff von 'Colorism' darstellt. Eine Folge einer rassistisch geprägten Körperpolitik: Hellsein wird als höher geachtet und belohnt, auch unter Schwarzen Menschen und People of Color."

In Leipzig hat es in den vergangenen drei Tagen gewaltsame Proteste gegen die Räumung eines besetzten Hauses gegeben. "Wie die Polizei mitteilte, warfen am Samstagabend Demonstranten im Stadtteil Connewitz Steine und Pyrotechnik auf Polizisten und Gebäude und verletzten zwei Polizeibeamte", heißt es in einer kurzen Tickermeldung des Stern (mehr dazu in der FR). Warum wird das nicht verurteilt, fragt Hannelore Crolly in der Welt: "Linksextreme Gewalt wird weniger thematisiert, sie empört fast nicht, sondern findet im Gegenteil oft Verteidiger selbst in bürgerlichen Milieus. Dabei halten linke Angreifer kaum mehr von der freiheitlichen Demokratie als ein Reichsbürger."
Archiv: Gesellschaft