9punkt - Die Debattenrundschau

Die Oliven machen wieder Jagd

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2020. Die Hinrichtung des Ringers Navid Afkari löst weltweit Empörung aus. Ein Besuch des iranischen Außenministers in Deutschland ist abgesagt worden. Die FAZ beleuchtet die blamable Duldsamkeit der internationalen Sportverbände gegenüber dem Iran. Viel milder als politischen Protest bestraft der Iran Ehrenmorde, konstatiert der Guardian. Tayyip Erdogan inszeniert sich unterdessen laut SZ als künftiger Befreier der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Die belarussischen Proteste gegen unverdrossen weiter - trotz der immer größeren Brutalität der Repression, berichtet die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.09.2020 finden Sie hier

Politik

Der bekannte Ringer Navid Afkari ist im Iran hingerichtet worden, nachdem er unter Folter einen Mord an einem Sicherheitsbeamten gestanden hat. Der Fall hat weltweit großes Aufsehen erregt. Für nächste Woche war ein Besuch des iranischen Außenministers Javad Zarif in Berlin geplant. Frederik Schindler kommentierte in der Welt: "Maas muss nun ein Zeichen setzen. Er sollte Zarif ausladen und stattdessen exiliranische Oppositionelle im Auswärtigen Amt empfangen." Der Artikel ist inzwischen von der Realität überholt: Nach einer Bild-Meldung ist der Besuch Zarifs bereits abgesagt.

Mit viel Milde - neun Jahre Gefängnis - durfte im Iran dagegen ein Vater rechnen, der seine 14-jährige Tochter Romina enthauptet hatte, weil sie mit einem Mann weggelaufen war. Der Fall hat eine hitzige Debatte im Iran ausgelöst, berichtet Patrick Wintour im Guardian: "Kritiker sagen, dass Teile des iranischen Strafgesetzbuches von der Annahme ausgehen, dass Männer das Recht haben, Frauen und Mädchen zu disziplinieren, wenn sie nicht den ihnen zugeschriebenen sozialen Rollen entsprechen. Romina hatte die Justiz angefleht, sie nicht an ihren Vater zurückzugeben, da sie befürchtete, er könnte sie angreifen, aber ihre Bitte wurde ignoriert. Der Vater - der im Iran als 'Vormund' seiner Tochter gilt - hatte Beschwerde eingereicht, und das Mädchen hatte, nachdem es von der Polizei vorgeladen worden war, den Richter angefleht, sie nicht nach Hause zu schicken, weil sie wusste, dass ihr Vater versuchen würde, sie zu töten. Aus einem Interview nach dem Tod des Mädchens ging hervor, dass der Vater seine Frau wiederholt gebeten hatte, Romina dazu zu bringen, sich selbst zu töten, weil sie die Familie entehrt hatte."

Christoph Becker beleuchtet im faz.net die komplette Untätigkeit der internationalen Sportverbände im Fall Iran: "Gerade Iran mit seinen 80 Millionen Einwohnern und seiner uralten, höchst lebendigen Sportkultur zeigt, wie Einfluss der internationalen Verbände verlorenging. Weil es opportun war, die schamlos, teils auf Weisung, teils aus Eigenantrieb ausgelebten Regelverstöße Irans zu ignorieren und auszusitzen, fast immer ohne Konsequenz. Frauen dürfen nicht ins Stadion, wenn Männer spielen: über Jahrzehnte toleriert. Gegen israelische Gegner treten Iraner nicht an: zu oft hingenommen, während Nachwuchsringer von Chamenei öffentlich beschenkt werden, weil sie israelischen Sportlern aus dem Weg gingen, aus dem Weg gehen mussten."

Nach der Hagia Sophia will der türkische Staatspräsident Erdogan jetzt auch die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem "befreien" und sich so als neuer Saladin inszenieren, berichtet Joseph Croitoru in der SZ. Unterstützt wird er dabei von "Ali Erbaş, seit September 2017 Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Gleich nach seinem Amtsantritt schmückte Erbaş seine Twitter- und Facebook-Seite ostentativ mit einem Foto vom Tempelberg-Areal - von Osten her aufgenommen, aus dem besetzten Teil der Stadt. So vermied er, dass die von den Juden frequentierte Klagemauer ins Bild rückt. Diese Perspektive steht im Einklang mit der islamistischen Leugnung des jüdischen Anspruchs auf den Tempelberg."

Außerdem: Schriftsteller setzen sich laut Zeit online in einem Appell für den säkularen saudischen Blogger Raif Badawi ein, der nach wie vor im Gefängnis sitzt und in seiner Gefängniszelle zusammengeschlagen worden sein soll. Zu den Unterzeichnern gehören Herta Müller und Georges-Arthur Goldschmidt. Und Politico.eu bringt einige interessante Grafiken und Statistiken über den wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss Chinas in Europa. Deutschland ist das Land, das bei weitem die größten Exporte nach China vorweist: 96 Milliarden Euro im Jahr. Der Zweitplatzierte ist Großbritannien mit 33 Milliarden Euro. Dafür gibt es in Großbritannen weit mehr Konfuzius-Institute und chinesische Studenten.
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Internet

Harald Welzer hat für das Deutsche Historische Museum eine Ausstellung über den Medienwandel kuratiert. Für das Internet verheißt das nach dem Bericht Hannah Bethke in der FAZ nichts Gutes: "Im Internet-Raum, der letzten Station, geht es um die bekannten Themen, die im Zuge des digitalen Wandels tagaus, tagein diskutiert werden: Datenschutz, Überwachung, Reichweite, Mobilität, Hass im Netz, Social Media, Trumps Twitter-Account, China als Beispiel totalitärer Herrschaft mit digitalen Mitteln. Am Ende sammeln 'Wegweiser für eine demokratischere Digitalisierung' Utopien für eine bessere Gegenwart - damit man die Ausstellung nicht 'so depri' verlässt, wie Welzer sagt." Das Museum bietet im Internet rudimentäre Informationen zur Ausstellung.
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Europa

Gestern haben in Belarus mehr Menschen denn je demonstriert, obwohl die Polizei bei Festnahmen nach wie vor brutal ist, berichtet Paul Flückiger in der taz: "Bereits am Vormittag werden seine Schergen aktiv und nehmen in den Außenbezirken erste Aktivisten oder einfach nur potenzielle Demonstranten fest, die in die Minsker Innenstadt zum 'Marsch der Helden' ziehen wollen. 'Die Oliven machen wieder Jagd, passt bloß auf, sobald ihr das Haus verlasst!', wird in den oppositionellen Telegram-Kanälen gewarnt. Die 'Oliven' sind grün gekleidete Einheiten ohne Kennzeichen, die als besonders brutal gelten. Niemand weiß, wer sie sind. Es wird darüber spekuliert, ob es sich dabei nicht um jene von Putin versprochenen Sonderpolizeieinheiten handeln könnte, die angeblich noch nicht in Belarus sind, sondern erst auf einen Einsatz warten."

In einem zweiten taz-Artikel erzählt Gabriele Lesser von den Hoffnungen der belarussischen Diaspora in der nordostpolnischen Stadt Bialystok: "Die Mehrheit der knapp 70.000 Belarussen in Polen lebt an der Grenze zu Belarus in der Wojewodschaft Podlachien und der Großstadt Białystok. Von hier aus senden das unabhängige Radio Racja und der konservative Fernsehsender Belsat in belarussischer, russischer und polnischer Sprache Nachrichten und Unterhaltung bis weit nach Belarus hinein. Hier sind etliche belarussische Organisationen und auch Verlage angesiedelt."
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Gesellschaft

Schön, dass wir wieder über Klassen reden und nicht nur über Identitäten, meint der Schriftsteller Michael Ebmayer im Zeit-Blog Freitext. Aber das allein reicht nicht: "Entscheidend ist ..., wer mitredet. Und wer sich angesprochen fühlt. Solange eine verhätschelte Mittelschicht frohlockt, weil wegen der coronabedingten Pflicht zu Reservierung und bargeldlosem Zahlen keine Proleten mehr im Schwimmbad stören, ist wenig erreicht. Solange selbst der Blick in den Homeschooling-Abgrund zu keiner neuen Bildungspolitik führt, ist nichts gewonnen. ... Das System von Scham und Dünkel, von Abwiegeln und Erniedrigen, mit dem die deutsche Klassengesellschaft sich erhält und vertuscht, wird niemand auf die Schnelle knacken können. Nicht einmal der Pandemie, die so viele Überzeugungen erschüttert und Borniertheiten bloßgestellt hat, ist das gelungen. Aber das Unwohlsein mit den Verhältnissen wächst und wird wieder in Worte gefasst."

Von Anna Mayr zum Beispiel, Kind von zwei Langzeitarbeitslosen, die sich in ihrem Buch "Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht" mit dem Thema auseinandersetzt. "Ich weiß gar nicht, ob ich noch Empathie erwarte", sagt sie im Interview mit der Berliner Zeitung. "Ein erster Schritt wäre es anzuerkennen, dass jeder Mensch in dieser Gesellschaft Glück oder Pech haben kann. Es sind Umstände, Strukturen, manchmal Zufälle, die zur Arbeitslosigkeit führen. Für viele Menschen ist es unvorstellbar, über Jahre hinweg arm zu sein."
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Geschichte

Die Erinnerung an den Holocaust wird mehr und mehr instrumentalisiert, fürchtet Richard Herzinger in der NZZ: Von osteuropäischen Staaten wie Polen oder Ungarn, die von ihrer Kollaboration und ihrem eigenen Antisemitismus ablenken möchten, von westeuropäischen Parteien wie der AfD und dem Front national, die sich israelfreundlich geben, während sie den Nationalsozialismus und den Holocaust als unbedeutendes Detail der Weltgeschichte abtun, und durch Putin, der die Sowjetunion gerne als maßgebliche Kraft bei der Beendigung des Holocaust verstanden wissen möchte: "Im Kontext der sowjetischen Erzählung vom 'Großen Vaterländischen Krieg', welche der Kreml-Herrscher im Dienste seiner großrussisch-nationalistischen Ziele wiederzubeleben versucht, ist die explizite Formulierung des Anspruchs, Retter der europäischen Juden gewesen zu sein, ein Novum. Denn der Holocaust als ein gegenüber dem Kriegsgeschehen gesondert zu betrachtendes Verbrechen durfte der kommunistischen Ideologie gemäß zu Sowjetzeiten öffentlich nicht einmal erwähnt werden. Die ermordeten Juden wurden einfach unter jene 'sowjetischen Bürger' subsumiert, die dem deutschen Überfall zum Opfer gefallen waren."
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