9punkt - Die Debattenrundschau

Unglaubliche 50 Billionen Dollar

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2020. Angriffslustig bleibt die Historikerin Eva Schlotheuber im Gespräch mit dem Spiegel und attackiert die Hohenzollern, dass sie mit juristischen Drohungen ihr Geschichtsbild betonieren wollen. In der SZ kritisiert Michael Sandel die "meritokratische Überheblichkeit" der Besserverdienenden. Das Time Magazine beleuchtet den immer krasseren Gegensatz von Reich und Arm in den USA. Politics.co.uk wirft einen Blick zurück auf das Scheitern Jeremy Corbyns. In der taz untersucht Samuel Salzborn die "Kommunikativen Umwege", die Antisemitismus heute nimmt. taz und SZ würdigen Rossana Rossanda, die im Alter von 96 Jahren gestorben ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.09.2020 finden Sie hier

Europa

Swetlana Alexijewitsch hat kürzlich einen Brief an ihre russischen KollegInnen veröffentlicht, in dem sie Solidarität mit den belarussischen Protesten einfordert. Auf die Antwort von Ljudmila Ulitzkaja haben wir verwiesen (unser Resümee). Sylvia Sasse zitiert bei geschichtedergegenwart.ch aus weiteren Antworten. Thematisiert werde dort auch die "Angst der Antwortenden..., dass die russische Gegenwart zur Zukunft von Belarus wird, dass der Widerstand auch mit russischer Hilfe gewaltsam beendet werden könnte. Sedakowa teilt diese Furcht mit, wenn sie schreibt: 'Der Gedanke, dass sich unsere Macht für ein Bündnis mit diesem Regime  entscheidet, macht mir Angst. Es wird nur die Form der Unterstützung diskutiert: direkt militärisch oder gewohnheitsmäßig hybrid, ohne Erkennungsmerkmale. Diese Entscheidungen werden im Geheimen getroffen. Niemand wird sich unsere Meinung zu diesem Thema anhören.'"

Die legendäre italienische Linke Rossana Rossanda, die 1968 wegen ihrer Kritik am sowjetischen Einmarsch in Prag aus der KP geworfen wurde, ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Unter anderem gehörte sie zu den Mitbegründerinnen von Il manifesto, was wiederum die Gründung von Libération und der taz inspirierte. Michael Braun schreibt in der taz: "Mehrfach in den folgenden Jahrzehnten war Rossanda dort auch Chefredakteurin. Sie beteiligte sich auch an diversen Parteigründungsprojekten links von der KPI, die jedoch allesamt scheiterten. Immer wieder mutete sie ihren Genoss*innen einiges zu, zum Beispiel 1978, als sie die damals beliebte These verteidigte, die Terrorist*innen der Roten Brigaden seien keineswegs von Geheimdiensten gesteuerte Schergen des Systems, sondern gehörten zum 'Familienalbum' der Linken." Willi Winkler erinnert in der SZ daran, dass sie das "Schwarzbuch des Kommunismus" gegen ihre GesinnugsgenossInnen verteidigte - und dass sie Thomas Mann und Kleist übersetzte. Ihre Autobiografie ist auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen.

Dorian Lynskey liest in dem Blog politics.co.uk mehrere Bücher, die sich mit dem Scheitern Jeremy Corbyns als Labour-Führer auseinandersetzen, eines davon von dem Guardian-Reporter und Corbyn-Fan Owen Jones. In den Büchern erscheint Corbyn zuweilen als freundlicher Zauderer, der sich weigert, ein Machtwort zu sagen. "Falls Sie jetzt anfangen, Corbyn zu bedauern, denken Sie daran, dass das einzige Thema, zu dem er entschlossen Stellung bezog, der Antisemitismus war, wo sein Urteil erbarmungswürdig war. Als ihn sogar enge Anhänger um eine Entschuldigung baten, überzeugten ihn seine Frau Laura Alvarez und ein 'Küchenkabinett' jüdischer Sozialisten im Safe Space Islington Nord, standhaft zu bleiben. Er war immer gut darin, Ratschläge von Menschen anzunehmen, deren Meinung er teilte. In einem langen Kapitel über die Krise - eine Litanei verpasster Gelegenheiten, in der er bedauerlicherweise seine eigenen öffentlichen Ungereimtheiten auslässt - enthüllt Jones, dass (Corbyns enger Berater) Seumas Milne befürchtete, Corbyn selbst könnte wegen Antisemitismus diszipliniert werden, wenn Labour die IHRA-Richtlinien vollständig übernehmen würde, was mehr über Corbyn aussagt als über die Richtlinien."

In Deutschland sind es Rechtsextremisten, die Menschen unter genauer Angabe ihrer Adresse und Lebensumstände bedrohen. In Frankreich arbeiten Islamisten mit der gleichen Art von Bedrohung, und die Charlie-Hebdo-Mitarbeiterin Marika Bret muss deshalb ihre Wohnung aufgeben. Im Gespräch mit Le Point sagt sie: "Am Montag, dem 14. September, erhielt das Wachpersonal konkrete und detaillierte Drohungen. Ich hatte zehn Minuten, um meine Sachen zu packen und mein Haus zu verlassen. Zehn Minuten, um einen Teil seines Lebens aufzugeben, das ist ein bisschen kurz, und es ist krass. Ich komme nicht nach Hause. Ich verliere mein Zuhause wegen jenes Hasses, der immer mit der Drohung beginnt, um Angst zu schüren. Und wir wissen, wie das enden kann."
Archiv: Europa

Geschichte

Angriffslustig bleibt die Historikerin Eva Schlotheuber im Gespräch mit Anne Haeming vom Spiegel (der das Gespräch leider nicht online freistellt). Die Vorsitzende des Historikerverbands, die sich in der FAZ zusammen mit Eckart Conze gegen die juristische Politik der Hohenzollern wandte (Historiker, aber auch Medien wie der Perlentaucher werden mit teuren Unterlassungsaufforderungen beharkt) kritisiert die Antwort einiger Historiker, die ihre Äußerungen als Dekrete einer Verbandschefin attackierten (unser Resümee) als politisch motiviert. Die Hohenzollern bekommen nur dann weitere Entschädigungen, wenn geklärt ist, dass sie den Nazis nicht "erheblichen Vorschub" geleistet haben. Zu den juristischen Attacken der Hohenzollern sagt Schlotheuber: "Bei mir wurde unter anderem die Aussage inkriminiert: 'Das Aushandeln der Bewertung der Vergangenheit muss ein Dialog auf der Basis von Argumenten und begründeten Einschätzungen sein.' Sie wurde angegriffen, soweit dabei der Eindruck entstehe, 'Georg Friedrich von Preußen wende sich gegen eine Bewertung der Vergangenheit auf der Basis von Argumenten'. Ich habe die Unterlassungserklärung nicht unterzeichnet und mir anwaltliche Hilfe geholt, um das zurückzuweisen."
Archiv: Geschichte

Internet

Das wäre ja vielleicht sogar eine gute Nachricht, wenn es wirklich passieren würde - endlich könnten die Europäer eine Konkurrenz aufbauen! Die EU will Facebook daran hindern, weiter Daten von Europäern auf amerikanische Server zu übertragen. Nun hat Facebook "damit gedroht, sein Spielzeug einzupacken und nach Hause zu gehen, wenn die europäischen Regulierungsbehörden nicht nachgeben und dem sozialen Netzwerk seinen eigenen Willen lassen", meldet David Gilbert in Vice in Bezug auf die Äußerung einer Facebook-Sprecherin beim Verfahren um den Datenschutz in Irland.
Archiv: Internet

Überwachung

Die Bundesregierung will der gesamten Bevölkerung individuelle Erkennungsnummern verpassen, die aus der Steuer-Identifikationsnummer hervorgehen soll (die einst mit dem Versprechen eingeführt wurde, dass gerade dies nicht geschehen wird). Markus Reuter zitiert bei Netzpolitik aus einem sehr kritischen Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags: "Das Gutachten moniert unter anderem, dass nicht ausdrücklich durch eine Regelung ausgeschlossen werden soll, dass die Identifikationsnummer zum Abruf von Informationen aus Registern genutzt wird, die über die eigentlich vorgesehen Basis-Daten hinausgehen." Hier das Gutachten als pdf-Dokument.
Archiv: Überwachung

Ideen

Nach einer Studie der Rand Corporation hat das obere eine Prozent der Amerikaner seit 1975 unglaubliche 50 Billionen Dollar von den unteren 90 Prozent abgeschöpft, schreiben Nick Hanauer and David M. Rolf im Time Magazine. Während bis 1975 die Einkommen von Reichen, Mittelklasse und Armen prozentual etwa gleich anstiegen, koppelten sich die Reichen ab 1975 vollkommen von der Lohnentwicklung der anderen ab. Und das liegt ganz bestimmt nicht an mangelnder Bildung: "Das mediane Realeinkommen für Vollzeitbeschäftigte mit einem vierjährigen Hochschulabschluss ist von 55.000 Dollar pro Jahr im Jahr 1975 auf 72.000 Dollar im Jahr 2018 gestiegen. Aber das ist immer noch weit entfernt von den 120.000 Dollar, die sie verdienen würden, wäre das Einkommen mit dem Pro-Kopf-BIP gewachsen. Selbst ein Vollzeitbeschäftigter mit Hochschulbildung, der 191.000 Dollar pro Jahr bekommt und damit knapp unter den obersten zehn Prozent liegt, verdient weniger als 78 Prozent dessen, was er verdient hätte, wenn die Ungleichheit konstant geblieben wäre. Die Realität sieht so aus, dass amerikanische Arbeiter noch nie so gut ausgebildet waren wie heute. ... In Zahlen ausgedrückt ist die Population der erwachsenen Arbeitnehmer mit einer High-School-Ausbildung oder weniger seit 1975 zurückgegangen, während sich die Zahl der Arbeitnehmer mit einem vierjährigen Hochschulabschluss mehr als vervierfacht hat. Man kann unmöglich behaupten, dass eine 'Qualifikationslücke' für die zunehmende Einkommensungleichheit verantwortlich sei, wenn die Rate des Bildungsabschlusses schneller steigt als die Wachstumsrate der Produktivität oder des Pro-Kopf-BIP."

Im Interview mit der SZ warnt der amerikanische Moralphilosoph Michael Sandel denn auch davor, Einkommen immer als Ergebnis eigener Leistung anzusehen und deshalb auf die, die weniger haben, herabzublicken: Er kritisiert die Erfolgreichen, die "ihre Verdienste mit einer enormen meritokratischen Überheblichkeit zelebrieren und darüber vergessen, welche Rollen Glück und Schicksal dabei spielen. Sie vergessen außerdem, was sie der Gesellschaft schulden, der sie angehören und die die Voraussetzungen für ihren Aufstieg geschaffen hat. Aus diesem Grund haben wir den Bezug zum Gemeinwohl verloren. Weil wir glauben, dass wir alles alleine geschafft haben, dass wir vollkommen selbständig handeln. Je stärker wir die Welt so sehen, desto weniger können wir uns in andere hineinversetzen."

Um beim Thema Chancenungleichheit zu bleiben: Den Jemen hat es mit Klimawandel und Krieg besonders hart getroffen, berichtet Paul-Anton Krüger in der SZ. Die Häuser in der Hauptstadt Sanaa sind durch die ungewöhnlich starken Überflutungen marode, die Druckwellen der Bombendetonationen tun ihr übriges: Sanaa zerfällt. "Die Häuser gehören in ihrer ganz großen Mehrheit alteingesessenen Familien. Zwar fanden manche moderne Betongebäude praktischer und zogen weg. Die meisten Bewohner aber pflegten die jahrhundertealten Bauwerke mit Stolz, betrachteten sie gleichermaßen als Familienerbe wie auch als Zeugnis jemenitischer Kultur. Doch den meisten ist längst das Geld ausgegangen, um die nötigen Reparaturen zu machen. Sie haben ihre Arbeit und ihr Einkommen verloren, und viele haben auch ihr gesamtes Vermögen aufgebraucht. Kundige Handwerker sind immer schwerer zu finden. Und vom Staat, zumal der von den Huthis geführten, international nicht anerkannten Regierung, haben die Menschen nichts zu erwarten."

Im Interview mit Zeit online fordert auch Klaus Schwab, Chef des Weltwirtschaftsforums, einen neuen verantwortungsvollen Kapitalismus: "Wachstum ist die falsche Kennzahl, wenn es nur darum geht, die Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts zu messen. Wir arbeiten gerade an einem System, in dem jedes Unternehmen verpflichtet wird, über seine Umweltleistung und seine soziale Leistung genauso zu berichten wie jetzt schon über seine finanzielle Bilanz. Das Gleiche sollte man auch vom Staat verlangen. ... Wir brauchen eine generelle Umgestaltung des Steuersystems nicht nur um die Unterschiede auszugleichen, sondern auch für die Einbeziehung von Umweltschäden. Wir in Genf zahlen beispielsweise keine Kapitalgewinnsteuer - damit wird also unternehmerisches Handeln richtigerweise bevorzugt. Wir zahlen aber eine Vermögensteuer bereits auf geringe Beträge im Vergleich zu anderen Industrieländern. Es wird zwar immer mal wieder darüber geschimpft, aber man gewöhnt sich daran. Und letzten Endes muss man sagen: Es ist sozial gerechtfertigt."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Der Politologe Samuel Salzborn, seit kurzem Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus, stellt in der taz eine (offenbar noch nicht veröffentlichte) Studie der Autorinnen Katrin Reimer-Gordinskaya und Selana Tzschiesche vor, die unter dem Titel "Antisemitismus, Heterogenität, Allianzen" erstmals untersuchen, wie sich Antisemitismus auf die Betroffenen auswirkt. Dabei stellt er zwei miteinander verwobene Stränge des Antisemitismus in Deutschland vor, einerseits die klassische Schuld- und Erinnerungsabwehr, und andererseits "die seit Jahrzehnten etablierten 'kommunikativen Umwege', bei denen sich der antiisraelische Antisemitismus aufgrund dessen, dass er öffentlich kaum sanktioniert wurde und wird, zu einer globalen Integrationsideologie entwickelt hat. Einem weltanschaulichen Kitt, mit dem Allianzbildungen zwischen politischen Milieus real geworden sind, die in anderen Fragen fundamental verfeindet sind."

Isolde Charim analysiert ebenfalls in der taz am Beispiel der überall demonstrierenden Covioten, wie Verschwörungstheorien entstehen: "Es ist nicht so, dass sie die Realität des Virus ablehnen - und deshalb die Maßnahmen des Staates ablehnen. Es ist vielmehr genau andersherum: Weil sie die Eingriffe des Staates nicht akzeptieren - akzeptieren sie auch nicht die Realität des Virus."
Archiv: Gesellschaft