9punkt - Die Debattenrundschau

Die sogenannte Realität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2020. In Belarus protestieren die Frauen mit Mut und Würde. Aber wo bleibt der solidarische Aufschrei der westlichen Feministinnen, fragt Elke Schmitter in Spiegel online. Atlantic wirft einen düsteren Blick auf "die Wahl, die Amerika zerreißen könnte". In Zeiten, da sich Journalismus immer schwieriger refinanzieren kann, ist es Zeit ihn neu zu denken, meint der Medienprofessor Leonard Novy im Tagesspiegel. In Zeit online analysiert Claus Leggewie Donald Trumps Kulturkämpfe.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.09.2020 finden Sie hier

Europa

Mit Würde und Mut sind es vor allem die Frauen, die in Belarus auf die Straße gehen. Elke Schmitter sieht ihnen bei Spiegel online mit Bewunderung zu. "Aber irgendwas machen sie falsch. Irgendetwas muss fehlen. Denn sie bleiben merkwürdig allein mit ihrem Protest. Kein großer Hashtag für die women of belarus, keine spektakulären Aktionen vor den belarussischen Botschaftsgebäuden in den demokratischen Staaten Europas. Kein Feuer der Begeisterung, keine Hitze im sonst so erregungsbereiten Diskurs. (…) Könnte es sein, dass der westliche Feminismus, längst in den Chefetagen der Macht unterwegs, um für Quotierung der Aufsichtsräte zu sorgen, oder mit diskursiven Petitessen beschäftigt, das Politische nicht mehr sieht, wenn es sich so einfach darbietet wie hier?"

Die Proteste in Belarus befinden sich in einer seltsamen Phase, sagt der Rock'n'Roller Igor Bancer im Gespräch mit Du Pham von der taz: "Es ist eine seltsame Erfahrung, die ich vorher so noch nicht kannte, deshalb nenne ich sie die 'sogenannte Realität'. Manchmal wirkt es so, als ob die Revolution bereits zusammengebrochen ist, aber wenn nach einer harten Arbeitswoche die Aktivisten freitagabends und sonntags auf die Straße gehen und dann Polizei und Streitkräfte auftauchen, denke ich mir: Eines Tages werde ich die Panzer auf den Straßen sehen und dann wird es wie Prag 1968 sein. Das ist das wirklich seltsame Gefühl einer kognitiven Dissonanz." Bancer spicht in den Interview auch über die brutalen Foltermethoden der belarussischen Polizei. Außerdem zu Belarus: Elisbath von Thadden hat für die Zeit einige belarussische Intellektuelle getroffen, unter anderm den Autor Pavel Barkouski, der auf der Website des Instituts für die  Wissenschaft vom Menschen gegen Slavoj Zizeks Einlassungen über Belarus protestiert.

Vierzig Jahre nach dem Oktoberfest-Attentat bekommen die Opfer eine Entschädigung, berichtet Konrad Litschko in der taz. Der Bund, das Land Bayern und die Stadt München stellen dafür einen Fonds von 1,2 Millionen Euro bereit: "Die Entschädigung kommt zustande, weil die Bundesanwaltschaft im Juli eine Neubewertung des Anschlags vornahm. Knapp sechs Jahre lang hatte die Behörde die Ermittlungen noch einmal neu aufgerollt, nachdem zuvor die Einzeltäterthese immer wieder angezweifelt worden war und sich neue Hinweise auf Mittäter ergeben hatten. Die Spurensuche blieb erfolglos - die Bundesanwaltschaft stufte die Tat nun aber erstmals offiziell als rechtsextrem ein. Dafür sprächen die Gesinnung des Attentäters und seine einschlägigen Kontakte etwa zur Wehrsportgruppe Hoffmann."

Trocken rechtstheoretisch kommentiert der Rechtsprofessor Klaus F. Gärditz in der FAZ den Streit um die Hohenzollern, die Unterlassungaufforderungen und die Gutachten: "Gerichte überfordern sich und werden ihrer Funktion nicht gerecht, wenn sie 'Geschichte schreiben' wollen. Diskursabhängige historische Forschung lässt sich nicht im Gerichtssaal simulieren. Wer für einen Rechtsstreit ein Gutachten verfasst, betreibt keine Geschichtswissenschaft, sondern muss Tatsachenmaterial für konkrete Rechtsfragen aufbereiten, was rein instrumentell methodisch sauberes 'Handwerk' erfordert. Auf die Wissenschaftsfreiheit kommt es insoweit jedenfalls nicht unmittelbar an."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Die Redefreiheit gerät in den USA durch eine illiberale Linke immer mehr unter Beschuss, warnt die niederländisch-amerikanische Politikerin und Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali in einem von der NZZ übernommenen Artikel im Wall Street Journal. Dabei gleiche sich die Ideologie der Linken - ob nun unter dem Namen "cancel culture", "kritische Rassentheorie", "Intersektionalität" oder "Wokeismus" immer mehr jener von Islamisten an, meint sie: "Beide sind der Ansicht, dass diejenigen, die sich nicht bekehren lassen, schikaniert werden dürfen oder noch Schlimmeres verdienen. Beide zeigen sich bei jeder Gelegenheit beleidigt und fordern nicht nur eine Entschuldigung, sondern Konzessionen. Der Islamismus eifert gegen Blasphemie, der Wokeismus will 'Hassrede' verbieten. Islamisten versuchen ihre Gegner mit dem Begriff 'Islamophobie' zum Schweigen zu bringen, der Wokeismus verwendet stattdessen 'Rassismus'. Islamisten verabscheuen die Juden. Wer 'woke' ist, sagt, dass er lediglich Israel hasse, aber Antisemitismus ist in der Bewegung weit verbreitet. Gemein ist beiden auch die Liebe zum Bildersturm: Statuen, passt auf!"
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Skepsis ist nicht Relativismus und schon gar nicht ein frivoles Spiel mit dem Begriff der Wahrheit. Zeit, endlich wieder Karl Popper zu lesen, meint Richard Herzinger in seinem Blog: "Popper forderte, auch scheinbar unbezweifelbare wissenschaftliche Wahrheiten immer aufs Neue infrage zu stellen, und hielt doch, gegen alle Formen des Relativismus, an der Annahme einer objektiven Wahrheit und an der Einheit des Wissens fest. Heute, da Desinformationsapparate autoritärer Staaten und ihre populistischen Handlanger unterschiedlicher Couleur systematisch danach trachten, den Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, Lüge und Wahrheit zu verwischen, ist die Rückbesinnung auf Poppers Erkenntnistheorie essenziell."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Popper, Karl, Relativismus

Kulturpolitik

Auf Zeit Online holt die Musikwissenschaftlerin und Präsidentin der Gesellschaft für Musikforschung, Dörte Schmidt, weit aus, um vor der Zerschlagung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Unsere Resümees) zu warnen. Durch die Ökonomisierung geschehe nichts Geringeres als eine "grundsätzliche Infragestellung der (in der Struktur der SPK repräsentierten) Funktion der Kunst in unserer Gesellschaft", schreibt sie: "Die Struktur der SPK zielt auf den Umgang mit der historischen Dimension unserer Kultur. Der Kulturbesitz aber, den es verantwortlich zu überliefern gilt, besteht - das zeigt diese Struktur ganz deutlich - nicht nur aus Objekten. Diese Objekte tradieren vielmehr auch institutionelle und (kultur-)politische Funktionen und mit diesen eine Vorstellung vom Verhältnis von Staat, Zivilgesellschaft und Kultur. Die Bauwerke, in denen die im 'Preußischen Kulturbesitz' versammelten Objekte aufbewahrt und ausgestellt werden, repräsentieren solche Programme, die ihrerseits mit jenen der Objekte interagieren."

Der Bund will knapp zwei Milliarden Euro für Kultur ausgeben, entnimmt Jörg Häntzschel in der SZ dem Regierungsentwurf für den Haushalt 2021 und ist mäßig zufrieden: "Das sind satte 120 Millionen oder 6,6 Prozent mehr als im laufenden Jahr. Damit setzt sich die Entwicklung der letzten Jahre ungemindert fort. Seit dem Amtsantritt von Kulturstaatsministerin Monika Grütters sind die Kulturausgaben um 60 Prozent gestiegen, seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist sogar um 85 Prozent. Natürlich sind diese knapp zwei Milliarden immer noch bestürzend wenig im Vergleich zu dem, was der Bund für Straßen, Waffen oder fragwürdige Subventionen ausgibt. Dennoch machen die erneuten Zuwächse klar, wie viel sich geändert hat seit den neoliberalen Neunziger- und frühen Nullerjahren, als Haushaltskürzungen für die Kultur gang und gäbe waren und Museen gedrängt wurden, sich ihre Ausstellungen von Energieversorgern oder Versicherungskonzernen kofinanzieren zu lassen."
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Politik

Atlantic stellt jetzt schon die Titelgeschichte seines auf November datierten und im Oktober erscheinenden Magazins online. Barton Gellmans Artikel wird ungeheuer oft retweetet und dürfte einer der wichtigsten Ausblicke auf die kommenden amerikanischen Wahlen sein. Sein Titel verheißt nichts Gutes: "The Election That Could Break America." Detailreich legt Gellman dar, wie Donald Trump versuchen könnte, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen: "Der schlimmste Fall ist jedoch nicht, dass Trump das Wahlergebnis ablehnt. Der schlimmste Fall ist, dass er seine Macht nutzt, um einen entscheidenden Wahlsieg gegen sich zu verhindern. Wenn Trump alle Zurückhaltung aufgibt und seine republikanischen Verbündeten die Rollen spielen, die er ihnen zuweist, könnte er einen rechtlich eindeutigen Sieg für Biden im Wahlkollegium und dann im Kongress verhindern. Er könnte die Bildung eines Konsenses darüber verhindern, ob es überhaupt ein klares Ergebnis gibt. Er könnte diese Unsicherheit nutzen, um an der Macht zu bleiben."

In seiner Rede vom 17. September kritisierte Donald Trump, es werde zu viel über die Rolle der Sklaverei in den USA gesprochen, stattdessen forderte er mehr "patriotische Bildung" in Schulen. Durch eine solche "grundstürzende Revision der Geschichtserziehung"  degradiert er sein Land auf den "Status von Autokratien", schreibt Claus Leggewie auf Zeit Online: "So eskaliert der Kulturkampf, den Trump seit seiner Inauguration gegen vermeintlich unamerikanische Kräfte führt und in dessen Verlauf er immer deutlicher Partei ergreift für den weißen Suprematismus und Rassismus. Erneut stellt er auch unter Beweis, wie sehr er wissenschaftliche Expertise verachtet, auf professionelle Historiker und Historikerinnen gibt er so wenig wie auf Virologen und Klimaforscher. Und er tauscht seriöse, der Wahrheit verpflichtete Forscher durch willfährige Statisten aus, die seine Wiederwahl unterstützen. Sie bilden den Kern der '1776 Commission', die nun ein groß angelegtes Forschungsprogramm zur Umschreibung der US-Geschichte vorlegen soll, finanziert übrigens aus den TikTok-Milliarden, die der Verkauf des chinesischen Konzerns bringen soll."

Frauen könnten beträchtlich zu einer Verbesserung der ökonomischen Situation in ihren Ländern beitragen, sagt die Management-Professorin Linda Scott im Gespräch mit Viola Diem von der Zeit. Bremsend wirken oft kulturelle Faktoren: "Männer gelten als Ernährer. Dabei stellen Frauen schon jetzt fast die Hälfte der Agrarprodukte her. Doch gerade in ärmeren Ländern müssen sie ihren Verdienst abgeben und dürfen das Land oft nicht besitzen; sind gar selbst Besitztum. Weil sie nicht sparen dürfen, um in Technologie, Tiere oder größere Felder zu investieren, sind sie gezwungen, kleine Flächen zu bewirtschaften, und haben nur geringe Ernteerträge. Händler nehmen allerdings oft nur größere Mengen ab und verhandeln ausschließlich mit Eigentümern."

Weitere Artikel: Das Friedensabkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Israel ist ein sensationeller Fortschritt für die Entwicklungen im Nahen Osten, schreibt der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour im Tagesspiegel und zeichnet die Entwicklungen nach.
Archiv: Politik

Überwachung

Im Gespräch mit Jana Simon und Holger Stark von der Zeit kritisiert Edward Snowdon die Corona-Tracing-Apps: "Die Tracing-Apps haben doch keinen großen gesundheitlichen Nutzen, solange das Virus in einem Land nicht weitgehend ausgerottet worden ist. Das Tracing funktioniert, wenn Sie zehn oder hundert Infektionen haben, dann kann man jeden einzelnen Fall nachverfolgen. Aber wenn man tausend oder zehntausend Infizierte hat, hat kein Land die Kapazitäten, jedem Fall nachzugehen. Die Tracing-Systeme gegen Corona sind gut gemeint, aber ineffektiv. Wir haben eine Infrastruktur der Überwachung geschaffen, ohne jeden Nutzen."
Archiv: Überwachung

Medien

Der Journalismus steckt in der Krise: Die Medienfreiheit ist in Ländern wie Ungarn in Gefahr, durch Covid-19 haben sich die Probleme, mit Journalismus Geld zu verdienen "dramatisch verschärft", konstatiert Leonard Novy, Direktor des Kölner Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik, im Tagesspiegel. Zeit, Journalismus neu zu denken, meint er: "Das kann aus - Stichwort Spotify für Journalismus - neuen, innovativen Angeboten der Unternehmen heraus passieren, aber auch mittels staatlicher Instrumente wie der Mehrwertsteuer oder der Anerkennung des Journalismus als gemeinnützig, was wiederum Raum schaffen würde für mehr Förderung aus der Zivilgesellschaft. Vor allem aber braucht es Offenheit, die Bereitschaft, ausgetretene Pfade, ritualisierte Grabenkämpfe zwischen einzelnen Branchen und Eitelkeiten hinter sich zu lassen, und den Willen zur Zusammenarbeit. Auch Europa kann seine digitale Zukunft nur gemeinsam gestalten. Unsere zukünftige Wertschöpfung wie auch das Schicksal unserer Demokratien hängen auch davon ab, ob es gelingt, digitale Souveränität zu entwickeln."
Archiv: Medien