9punkt - Die Debattenrundschau

Von Unbenannten, Umbenannten und Unbemannten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2020. Die Kunstzeitschrift Texte zur Kunst hat ein Themenheft mit dem Titel "Anti-Antisemitismus" gemacht. Und jetzt zerstreitet sie sich über ihren Anti-Antisemitismus. Oder auch nicht - denn selbst die Macher des Heftes wollen jetzt nicht mehr behaupten, dass BDS antisemitisch sei. Es ist kein Wunder, dass die Polizei Rechtsextremisten anzieht, schreibt Thomas Schmid in der Welt, verwunderlich ist eher, wie wenig sie dagegen tut. In der SZ erklärt die Publizistin Canan Topcu, warum sie keine Person of Color ist. Und die New York Times fragt: Wie konnte aus der Suchmaschine Google eine Maschine werden, die das ganze Netz verschlingt?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.09.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Publizistin Canan Topcu ist im Alter von acht Jahren als Tochter türkischer Arbeitsmigranten nach Deutschland gekommen und fühlt sich keineswegs als Person of Color. Im Gegenteil - die von der Linken geführte Rassismusdebatte sowie deren Sprechverbote gehen ihr ziemlich auf die Nerven, wie sie in der SZ schreibt: "Richtung und Tonalität der Rassismuskritik wird bestimmt von einer jungen akademisch gebildeten Generation, die einerseits darauf pocht, nicht auf Herkunft reduziert, sondern als 'von hier' wahrgenommen zu werden, andererseits aber selbst Identitätspolitik betreibt - nicht nur durch die Selbstbeschreibung als People of Color, sondern auch im Zelebrieren von Elementen aus der Herkunftskultur. Politisch problematisch ist die moralische Überlegenheit, die aus der Betroffenheit abgeleitet wird, ohne selbst auf Ressentiments zu verzichten oder Ausgrenzung zu betreiben."

Die deutsche Polizei hat sich im Laufe der Zeit immer mehr demokratisiert und sie wird vermutlich nicht von Rechtsradikalen unterwandert werden, aber Polizisten sollte einem "Bewusstseinscheck" unterzogen werden, schreibt Thomas Schmid in der Welt: "Polizisten haben Schusswaffen und dürfen im Zweifelsfall im Höchsttempo durch die Straßen brettern. Es wäre ein Wunder, wenn die Polizei nicht auch autoritäre Charaktere, Waffennarren und eben auch Menschen mit herrschaftlichem Ordnungsverständnis anzöge. Dass Rechtsradikale überdurchschnittlich oft zur Polizei wollen, ist alles andere als überraschend. Verwunderlich ist freilich, dass es offensichtlich in der Polizei an nachhaltigen Bemühungen mangelt, solche Geisterfahrer aufzuspüren, zur Räson zu rufen."

Die taz hat ihre Zeitung in die Hände von Klimaaktivisten und -innen gegeben, deren Artikel einen interessanten Einblick in ihre Erklärungsmodelle geben. Die drei Aktivistinnen Isadora Cardoso, Lisa Göldner und Kathrin Henneberger, möchten den feministischen Aspekt ihres Engagements hervorheben, das nur einen Gegner kennt: "Die Klimakrise ist tief verwurzelt in historisch miteinander verwobenen Unterdrückungssystemen: Patriarchat, Rassismus, Kapitalismus und Kolonialismus. Ohne Rücksicht auf Verluste und die katastrophalen Folgen für unser Klima beuten wir den Planeten aus. Dahinter liegen dieselben Machtstrukturen, die zur Ausbeutung der Körper von Frauen und (un)bezahlter Care-Arbeit führen, zur Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen des globalen Südens und zur Diskriminierung nicht-weißer Menschen."

Die Klimaaktivisten teilen Menschen in "Schwarz und Weiß, in Gut und Böse" auf, sie spalten die Gesellschaft, sagt Clemens Traub, einst selbst "Fridays for Future"-Aktivist indes im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Die Klimabewegung ist bürgerlich und privilegiert, sie versteht die Lebenswirklichkeit der Geringverdiener oder Kleinstadt- und Dorfmenschen nicht. Das ist ein Fehler. (…) Fridays for Future muss inklusiver werden, die ganze Breite der Bevölkerung mitnehmen und nicht nur Leute, die sich Klimaschutz leisten können."

Die Berliner Landesstelle für Gleichberechtigung hat einen 44 Seiten langen Leitfaden für diversitysensible Kommunikation gegen Diskriminierung erstellt, unter anderem sollen die Begriffe "Ausländer" oder "Schwarzfahrer" in Berliner Behörden nicht mehr geduldet werden (hier als pdf-Dokument). Solche sprachlichen Umerziehungsprogramme haben noch nie etwas gebracht, meint in der Welt Matthias Heine, der den Leitfaden mit dem "Linguistic Engineering" unter Mao vergleicht: "Am niederschmetterndsten offenbart sich die Unmöglichkeit, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit durch sprachliche Umetikettierungen aus der Welt zu schaffen, aber in den USA. Dort sind die Schwarzen in den vergangenen 150 Jahren x-mal umbenannt worden: Aus Niggern wurden Negroes, aus Negroes wurden Colored, aus Colored wurden Black Americans, aus Black Americans wurden Afroamericans, aus Afroamericans wurden People of Color, ohne dass sich deshalb irgendwas am Rassismus geändert hat. Im Gegenteil: Fast alle diese Bezeichnungen wurden von manchen der so Genannten bald als beleidigend empfunden."
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Politik

Die großen Kampagnen zur Beschneidung von Männern in Afrika sind in hiesigen Medien so gut wie nie Thema. Der Journalist Ulli Schauen hat dazu ein Radiofeature gemacht, das beim Deutschlandfunk noch online steht). Die Beschneidung von 23 Millionen Männer in den letzten zwölf Jahren wird mit Studien begründet, dass beschnittene Männer sich angeblich um 60 Prozent weniger mit Aids anstecken, so Schauen im Gespräch mit Gisa Bodenstein von hpd.de. Dabei werde aber verschwiegen, "dass im richtigen Leben die damaligen klinischen Studien nicht viel bedeuten. Es kommt auf das Risikoverhalten beim Sex an, auf Verkehr mit oder ohne Kondom oder auf den Grad von Promiskuität. Kondome schützen zu mehr als 95 Prozent. Demgegenüber bewirkt eine Risikoabsenkung um 60 Prozent kaum etwas. Wer zur Aids-Vorbeugung beschnitten ist, könnte sogar meinen, er sei nun dadurch geschützt und könne ohne weiteren Schutz Verkehr haben. Und das passiert. Außerdem kann man sich mit Aids nicht nur durch Geschlechtsverkehr anstecken."
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Stichwörter: Beschneidung, Aids

Kulturmarkt

Die große Buchhandelskette Thalia hat einem chinesischen Staatsunternehmen ganze Regale für Propaganda zur Verfügung gestellt. Bücher mit Kritik an China gab es dort nicht (unser Resümee, die Kette hat reagiert und ihre Präsentation neu arragiert). Viele wurden sich erst jetzt bewusst, dass Buchhandelsketten so etwas überhaupt tun, schreibt Wolfgang Tischer im Literaturcafé: "Erst durch die Diskussion um die staatlichen Propagandabücher bei Thalia, wurde vielen bewusst, dass es bei den großen Buchhandelsketten üblich ist, Bücher und Aktionsflächen gegen Geld zu platzieren. Der vermeintliche Bücher-Tipp ist bisweilen gar keiner, stattdessen fließen vier- oder fünfstellige Beträge von den Verlagen an die Buchkette. Verlage können so die Sichtbarkeit ihrer Bücher steigern. Selbst Bestseller können so in den Listen weiter nach oben gebracht werden."
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Stichwörter: Thalia, Sichtbarkeit

Geschichte

Eva Schlotheuber, Vorsitzende des Deutschen Historikerverbandes, forderte die Hohenzollern auf, ihre "aggressiven Angriffe" auf Historiker, Journalisten und Blogger zu beenden, meldet der Tagesspiegel (Unsere Resümees): "In der FAZ und im rbb-Inforadio erklärte Schlotheuber, dass der Anwalt der Hohenzollern, Markus Hennig, mit Hilfe von Falschaussage-Vorwürfen ein 'Klima der Angst' unter Historikerinnen und Historikern zu schaffen versuche. Da die Wissenschaftsfreiheit geschützt sei, versuche Hennig über den juristischen Wahrheitsbegriff kritische Stimmen zu diskreditieren. Er stoße sich dabei häufig an Formulierungsdetails: Bereits der Begriff 'Ausstellungsstücke' für die in staatlichen Museen gezeigten 'Leihgaben' der Hohenzollern führte etwa zum Vorwurf der Falschaussage. Es müsse möglich sein, konträre Meinungen zu verhandeln, wenn es um die Rolle von Kronprinz Wilhelm und seiner Familie vor 1933 gehe, sagte die Professorin."
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Internet

Wie wurde aus der Suchmaschine Google, die besser als alle anderen den Weg zu anderen Websites wies, eine Maschine, die das Internet als ganzes verschluckt, fragt Shira Ovide in der New York Times: "Ein Beispiel: Wenn Sie vor einigen Jahren ein Hotel an den Niagarafällen, ein lokales Burger-Restaurant oder die Körpergröße von Tom Cruise gesucht hatten, zeigte Google Ihnen wahrscheinlich Links zu Expedia, Yelp oder einem Artikel aus der Zeitschrift People. Heute ist es wahrscheinlicher, dass Google Informationen oder Anzeigen aus seinen eigenen Computersystemen oder von den Websites anderer Unternehmen an prominenter Stelle zeigt - und Sie innerhalb der digitalen Wände von Google hält. Google ist nicht mehr die Haustür zum Internet. Es ist das Haus." Ovide sagt dem Unternehmen langwierige Antitrust-Verhandlungen voraus.
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Stichwörter: Google, Ovid, Cruise, Tom

Medien

Und in den Medien ist die Meldung des Tages, dass Friede Springer Mathias Döpfner durch eine Schenkung zum Milliardär gemacht hat. "Eine Milliarde?" Fragt Michael Hanfeld in seinem FAZ-Artikel: Ja, "eine Milliarde". Hat Döpfner aber auch verdient, findet Hanfeld, wenn man all die Verdienste in Betracht ziehe, die sich Döpfner als Springer-Chef erworben habe.
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Ideen

Die Kunstzeitschrift Texte zur Kunst hat ein Themenheft mit dem Titel "Anti-Antisemitismus" gemacht (Inhaltsverzeichnis), in dem man sich den Kopf über die Frage zerbricht, ob man "links" und dennoch für Israel und vor allem gegen die Israelboykottbewegung BDS sein kann. Die Frage sei, "wie man über Antisemitismus sprechen kann, ohne intersektional mit ihm verbundene, andere Formen von Diskriminierung zu übergehen", heißt es im Vorwort der Ausgabe. Und wie man mit BDS umgehen soll, daraus wurde sich die Redaktion nicht ganz eins: "So war die Zusammensetzung eines geplanten Roundtable-Gesprächs zur BDS-Bewegung, der unter anderem deswegen nicht zustande kam, da es einigen der angefragten Diskutant*innen zu BDS-kritisch erschien, Gegenstand fortwährender Diskussionen - nicht zuletzt darüber, ob und wie arabische und palästinensische Stimmen hier repräsentiert sein sollten." Der Anlass des Heftes ist wohl auch das, was man den "postcolonial turn" in der Kunst nennen könnte, der BDS in Kunstmilieus so populär gemacht habe: "So hat die Zahl der Sympathisant*innen dieser Bewegung gerade auch in uns nahestehenden Kontexten und Milieus in den letzten Jahren markant zugenommen." Und dabei würden "ideologisch problematische Positionen oftmals unkritisch hingenommen".

Darauf antwortet nun auf der Website der Zeitschrift eine Autorengruppe aus dem Beirat der Zeitschrift, der unter anderem Diedrich Diederichsen angehört, und die erst mal den eigentlichen Ort des Antisemitismus festnagelt: "Das Erstarken antisemitischer Strömungen auch in Deutschland, das nicht nur hierzulande mit zunehmendem Nationalismus und dem Erstarken neuer reaktionärer Koalitionen einhergeht, ist alarmierend." Das Heft richte stattdessen "die Aufmerksamkeit auf andere Szenen". Man wendet sich dagegen, ein Heft als "Anti-BDS-Nummer" zu machen: "Wir halten die damit nahegelegte Identifikation der von durchaus heterogenen Kräften getragenen Organisation des BDS mit Antisemitismus für politisch fatal, und zwar unabhängig davon, wie man selbst zum BDS stehen mag. Diese Identifikation, die in Deutschland dazu führt, dass BDS-Unterzeichner*innen nicht mehr öffentlich auftreten dürfen, wenn eine Veranstaltung von Staatsgeldern finanziert ist - siehe Judith Butler als prominentester Fall -, verschließt die notwendige politische Diskussion."

Die Heft-Redaktion rudert in einer Antwort auf die Antwort zurück: "Auch wenn die Auseinandersetzung mit BDS aus aktuellem Anlass im Vordergrund steht, wird nicht behauptet, dass es sich hierbei um eine monolithische, in jeder ihrer - ja oft berechtigten - Forderungen antisemitische und daher zu boykottierende Bewegung handelt." Im Tagesspiegel hat Caroline Fetscher das Heft rezensiert. In der taz wurde es von Andreas Fanizadeh besprochen.

"Heute leben wir im Zeitalter des Posthistoire, der Nach-Geschichte. Auch das Vergangene soll uns gleichen, und wo es uns nicht gleicht, wollen wir nichts davon wissen", konstatiert in der Berliner Zeitung Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, der auch der Aktualisierung von historischen Romanen und Filmen nicht viel abgewinnen kann: "Das gilt insbesondere für jene 'Kultur des Löschens' (Cancel Culture), die Zeugnisse der Vergangenheit aus dem Kollektivgedächtnis tilgen will, wenn sie unser heutiges Empfinden verletzen. Diese Form geschichtlicher Zensur führt gründlich in die Irre. Denn unser zukünftiges Leben können wir nur dann bestmöglich gestalten, wenn wir, wie es der Philosoph Odo Marquard formuliert hat, unsere Herkunft kennen."
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