09.10.2020. Facebook hat QAnon-Seiten gesperrt. Aber was hilft das, wenn die Algorithmen immer wieder die Logik des Extremismus bestärken, fragt Netzpolitik. Facebook hat auch die Website einer Gruppe von Facebook-Kritikern abschalten lassen, meldet Vice. Nachdem eine rechtsextreme Privatmiliz die Entführung der Gouverneurin von Michigan vorbereitet hat sollen, wirft die New York Times ein Blick auf die Selbstrechtfertigungen dieser bewaffneten Truppen. In der Berliner Zeitung berichtet Kai-Hinrich Renner über Einschnitte bei der SZ und anderen Medien.
Europa, 09.10.2020
Du Pham
unterhält sich in der
taz mit der 17-jährigen belarussischen Studentin und Künstlerin
Anastasia Kasanowitsch, deren Bild, das zeigt, wie sie in schicker Kleidung brutal verhaftet wird, um die Welt ging. Sie erklärt, warum sie die
belarussische Gesellschaft als eine matriarchalische betrachtet: "Das Bild einer starken, mutigen, klugen, aufopfernden, schönen Frau spielt eine zentrale Rolle in unserer Kultur. Unser Land war in so viele Kriege verwickelt, mit jedem einzelnen Konflikt verloren wir
mehr und mehr Männer. Belarussische Frauen mussten also Männerarbeit übernehmen, allein einen landwirtschaftlichen Betrieb führen, die Kinder großziehen... Jetzt kämpfen Frauen und Männer Seite an Seite für ein Ziel - die Emanzipation vom Lukaschismus. Und
wir kämpfen füreinander, Frauen kämpfen für Männer und Männer kämpfen für Frauen."
Eva Hartog
erzählt bei
Politico wie die Journalistin
Irina Slawina, die sich in Nischni Nowgorod selbst verbrannte (unsere
Resümees), allein im letzten Jahr von der Polizei aus immer neuen Anlässen belästigt wurde. Der Druck war auch
finanzieller Art: "Zusammengenommen ergaben die Strafbescheide Geldstrafen in Höhe von rund 160.000 Rubel (1.700 Euro) - etwa das Fünffache des Durchschnittsgehalts von Nischni Nowgorod. Darüber hinaus war jeder Tag, den sie vor Gericht verbrachte, ein Tag, an dem sie nicht schreiben konnte. Dass mandas
Gesetzbuch statt der Faust oder einer Kugel, die in den neunziger und nuller Jahren beliebt waren, benutzt, um unabhängige Stimmen zum Schweigen zu bringen, könnte wie eine Verbesserung aussehen. Aber vor allem für Lokaljournalisten stellen die ständigen Gerichtsverfahren und Razzien eine
existenzielle Bedrohung dar."
Wahlen sind der authentischste Ausdruck der Demokratie, aber nie einfach zu organisieren,
schreibt Claus Leggewie in der
taz, auch mit Blick auf
Belarus. Wenn ein Rechtsstaat noch nicht etabliert ist, sind sie anfällig für alle Arten der Manipulation. Das zeige etwas das Beispiel Russland: "Dort hatte nach 1991 unter dem Druck westlicher Denkfabriken oberste Priorität, Parteien bei Wahlen antreten zu lassen und stabile Regierungsmehrheiten zu bilden. Die Voraussetzungen des Übergangs zu einer Demokratie -
Rechtsstaatlichkeit und eine funktionierende Öffentlichkeit - waren kaum vorhanden; Manipulationen durch den alten Machtapparat und ein Rückfall in autokratische Strukturen waren die Folge. Wahlen in dieser rohen Form werden zur '
Tyrannei der Mehrheit': Sie sind allgemein, frei und gleich, aber nicht transparent und fair."
Folter in der Türkei nimmt zu und wird immer brutaler, schreibt Bülent Mumay in seiner
FAZ-Kolumne mit Blick etwa auf den Fall der
zwei verschwundenen Bauern, denen "logistische Unterstützung für eine terroristische Vereinigung" vorgeworfen wurde und die erst nach zwei Tagen schwerverletzt im Krankenhaus aufgefunden wurden: "Dem ersten Bericht des Krankenhauses zufolge rührten die schweren Verletzungen der beiden Bauern daher, dass sie
aus einem Hubschrauber geworfen worden waren. Zuvor hatten Soldaten sie festgenommen. Dafür gibt es Zeugen. Diese bestätigen auch, dass die Männer kurz nach der Festnahme aus einem Hubschrauber geworfen wurden. Der Staat schwieg zunächst zu diesem schweren Vorwurf. Erst auf verstärkten Druck der Öffentlichkeit hin gab die Präfektur von Van ein Statement ab: 'Sie missachteten die
Aufforderung,
stehenzubleiben, und verletzten sich, als sie auf felsigem Gelände stürzten.' Allerdings finden sich am Ort des Geschehens keine Felsen."
Gesellschaft, 09.10.2020
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung
Felix Klein bestreitet im Gespräch mit Konrad Litschko von der
taz, dass seit dem Anschlag auf eine
Synagoge in Halle vor einem Jahr nicht genug geschehen sei, die Juden in Deutschland zu schützen: "Der Bund und die Länder mühen sich hier
mit aller Kraft. Gerade erst hat das Bundesinnenministerium 22 Millionen Euro für bauliche Schutzmaßnahmen bereitgestellt, auch die Länder haben noch mal Geld in die Hand genommen. Zudem hat die Bundesregierung ein
umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, etwa die Meldepflicht für Online-Hasspostings an das BKA, von der ich mir viel im Kampf gegen Antisemitismus verspreche. Denn die Klientel weicht zurück, wenn sie
Gegendruck bekommt und die Polizei vor der Tür steht."
Nur weil sich die
Neuen Rechten heute als "Freunde der
Juden" verkaufen, sind sie nicht weniger
antisemitisch,
hält Ronen Steinke in der
SZ fest: "Weil das so gewonnene politische Kapital sofort eingesetzt wird, um umso hemmungsloser gegen andere
marginalisierte Gruppen der Gesellschaft agitieren zu können, denen man eine illegitime, heimliche
Macht über die Mehrheit unterstellt. Das ist eine rhetorische Figur, die in Europa jahrhundertelang an Juden eingeübt worden ist und die denn auch immer wieder zu Juden hinführt. Der Antisemitismus ist ein politisches Denkmuster, und das wird heute von niemandem so stark bewirtschaftet wie von der
AfD. Ihr politisches Erstarken in den vergangenen Jahren hat das Leben für Jüdinnen und Juden beschwerlicher und, ja: auch
physisch gefährlicher gemacht."
Warum hört niemand auf die
Wissenschaft,
seufzt Torsten Harmsen in der
Berliner Zeitung mit Blick auf die nun beschlossene "kleinstaaterische
Abschottungspolitik" im Kampf gegen Corona. "
Mobilitätseinschränkungen sind nach der Aussage aller Modelle ineffizient", zitiert er den Berliner Physiker
Dirk Brockmann und ergänzt: "Natürlich sollte es möglich sein, in ein Hotel in einem anderen Bundesland zu reisen. Dort hat man sich dann genauso zu verhalten wie zu Hause: Abstandhalten, Maske tragen, Massenansammlungen meiden. Auch die gesamte Teststrategie hätte schon längst auf die Empfehlungen umgestellt werden sollen, die Wissenschaftler seit Wochen geben. Statt die
Labore zu überlasten und die Gesundheitsämter in den
Nervenzusammenbruch zu treiben, sollte man endlich überall
Schnelltests installieren - nicht nur in Krankenhäusern und Pflegeheimen, sondern in allen Institutionen, in denen ein höheres Risiko für die Ausbreitung des Virus besteht, etwa an Schulen und in bestimmten Betrieben."
Kulturmarkt, 09.10.2020
Für den Buchhandel ist der
Literaturnobelpreis für
Louise Glück (
mehr bei efeu) kein Grund zu feiern,
weiß Gerrit Bartels im
Tagesspiegel. Normalerweise verpasst der Preis dem Handel einen Schub, von Glück sind allerdings gerade mal zwei Bände ins Deutsche übersetzt worden, die derzeit beide nicht lieferbar sind: "Die Umsätze des Handels sind in den ersten sechs Monaten 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zwischen zwanzig und
dreißig Prozent zurückgegangen. Auch die Verlage haben im ersten Halbjahr Verluste von bis zu zwanzig Prozent hinnehmen müssen und die Veröffentlichung von Titeln verschoben. Jetzt versucht man, aufzuholen, hofft wie stets auf das Weihnachtsgeschäft."
Internet, 09.10.2020
Facebook und Twitter haben verschwörungstheoretische
QAnon-Gruppen gelöscht. Das Problem bei den sozialen Medien liegt allerdings in deren Logik,
schreibt Daniel Laufer bei
Netzpolitik unter Hinweis auf die Studie einer Soziologin: "
64 Prozent aller Beitritte zu extremistischen Facebook-Gruppen waren laut der Forscherin durch Facebooks
eigene Empfehlungsalgorithmen erfolgt. Die Plattform hatte Nutzer:innen zur Radikalisierung geeignete Gruppen aktiv vorgeschlagen." Auch "der Politikwissenschaftler
Brian Schaffner von der Tufts Universität im US-Bundesstaat Massachusetts hat den Verschwörungsglauben von Amerikaner:innen untersucht. Seine kürzlich veröffentlichte Studie kommt zum Schluss, dass Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter
zu den Hauptquellen zählen, durch die Menschen von QAnon erfahren."
Zugleich
meldet Vice, dass Facebook eine
Website von Kritikern, "The Real Facebook Oversight Board", hat abschalten lassen. Die Gruppe von prominenten Journalisten und Forschern will Facebook
vor den amerikanischen Wahlen überwachen - zu ihr gehört die prominente
Guardian-Journalistin
Carole Cadwalladr. Von Deutschland aus scheint die Seite der Facebook-Kritiker
noch erreichbar zu sein.
Politik, 09.10.2020
Eine rechtsextreme Miliz bereitete die
Entführung der Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, vor, hat das FBI in einer Pressekonferenz bekannt gegeben (
hier der Bericht der
Detroit News). Die Milizen blühen in den USA unter dem wohlwollenden Auge des aktuellen Präsidenten. Mary B. McCord
nimmt in der
New York Times den Diskurs dieser Milizen auseinander, die sich auf den
zweiten Verfassungszusatz berufen, wo von "
gut organisierten"
Milizen die Rede ist. Aber "diese setzten sich aus kampftauglichen Bürgern eines bestimmten Alters zusammen, die zur Stelle sein mussten, wenn
die Regierung sie rief. 'Gut organisiert' bedeutete, dass die Milizen vom Staat trainiert, bewaffnet und kontrolliert wurden. 48 Staaten der USA haben klare Regln in ihren Verfassungen, dass sich Milizen der
staatlichen Autorität beugen müssen."
Medien, 09.10.2020
Die Corona-Pandemie hat der Medien- und insbesondere der
Printbranche schwer geschadet,
konstatiert Kai-Hinrich Renner in der
Berliner Zeitung - aber die
SZ begründet ihren "
Kahlschlag" nicht mit Corona: "Mitte September wurde bekannt, dass dort
bis zu 55 Arbeitsplätze abgebaut werden sollen. Das sind rund zehn Prozent der redaktionellen Gesamtbelegschaft. Der Verlag lockt mit Abfindungen in Höhe von bis zu
134.
000 Euro. Offenbar wird dieses Angebot gut angenommen. Wie es in Verlagskreisen heißt, sollen vor allem technische Mitarbeiter des
SZ-Digitalauftritts von ihm Gebrauch machen, die kein Problem haben dürften, neue, gut dotierte Jobs zu finden. Gespart wird bei dem Blatt wohl noch an anderer Stelle: Nach Angaben aus Verlagskreisen will sich die
SZ auch von
nicht festangestellten Pauschalisten trennen, die keinen Anspruch auf eine Abfindung haben. Wie groß dieser Personenkreis ist, ist unklar. Der Verlag ließ eine Anfrage zu dem Thema
unbeantwortet."
Geschichte, 09.10.2020
In der
NZZ erklärt die Historikerin
Hedwig Richter, die gerade ein
Buch zur Geschichte der deutschen Demokratie veröffentlicht hat, weshalb
Demokratien immer auch
auf Eliten angewiesen sind: "Die reichen Ressourcen des
Kapitalismus ermöglichten überhaupt erst eine Vielzahl an partizipativen Praktiken. Eisenbahnen, Straßen und die wachsende Presselandschaft schufen einen politischen Kommunikationsraum; in den Schulen lernten alle lesen und schreiben. Der Staat beschränkte die Arbeitszeiten. Arbeiter hatten nun Zeit und Geld, sich
Zeitungen zu kaufen und zu lesen, um abends in die Kneipe zu gehen und über die neuesten Parlamentsdebatten zu diskutieren."
Wer kann schon sagen, weshalb ausgerechnet der
3. Oktober zum
Tag der Deutschen Einheit ausgerufen wurde, fragt der Schriftsteller Norbert Frei in der
SZ: "Die Frage führt zurück in die frühen Morgenstunden des 23. August 1990, als die fünf Monate zuvor erstmals frei gewählte Volkskammer der DDR den
Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß Artikel 23 zum 3. Oktober beschloss; das Datum fand dann Eingang in den acht Tage später unterzeichneten Einigungsvertrag, dem die beiden deutschen Parlamente am 20. September zustimmten - wiederum acht Tage nach Unterzeichnung des Zwei-plus-vier-Vertrages in Moskau. Der allerdings trat erst ein halbes Jahr später in Kraft, nach Hinterlegung der letzten Ratifizierungsurkunde durch die Sowjetunion, weshalb es am 1. Oktober 1990 noch einer Erklärung der Außenminister der Vier Mächte bedurfte."