9punkt - Die Debattenrundschau

Das zentrale Demokratie-Gefühl

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2020. Mit Bangen blickt die FAZ auf  die morgen beginnende virtuelle Buchmesse, die sich in einer Loose-Loose-Situation befinde. In der Berliner Zeitung glaubt die Schriftstellerin Kathrin Schmidt, dass die Gefahren, die von Covid ausgehen, vor allem von der Pharmaindustrie hochgespielt würden, um Kasse zu machen. Christian Wulffs Satz "Der Islam gehört zu Deutschland", den er vor zehn Jahren sagte, hat die Debatte nicht weitergeführt, fürchtet Seyran Ates bei cicero.de. Wenn Julian Assange nach Amerika abgeschoben und zu 175 Jahren Gefängnis verurteilt wird, war's das mit den Whistleblowern, warnt Milosz Matuschek in der Berliner Zeitung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.10.2020 finden Sie hier

Kulturmarkt

Mit Bangen blickt Andreas Platthaus in der FAZ auf  die morgen beginnende virtuelle Buchmesse: "Die Buchmesse hat sich in eine Lose-lose-Situation hineinmanövriert: Sollte ihr virtuelles Alternativprogramm zum klassischen Messebetrieb - 'weltweit empfangbar und kostenfrei' - ein Erfolg werden, hat sie sich selbst abgeschafft; enttäuscht es Partner und Publikum, ist auch das Ansehen der klassischen Messe beschädigt." Für Paul Jandl in der NZZ hat die virtuelle Buchmesse immerhin den Vorteil, "dass es weniger kranke und noch viel weniger gekränkte Autorinnen und Autoren geben wird".

Außerdem berichtet Jens Uthoff in der taz über eine Konferenz der Grünen zur Not der Veranstaltungswirtschaft.
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Gesellschaft

Eine israelkritische Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Unlearning Zionism" an der Kunsthochschule Weißensee hat wegen der möglichen BDS-Liaison einiger Sprecher zu heftigem Widerspruch geführt (unser Resümee). Die Hochschule hat inzwischen die Website der Reihe gesperrt, berichtet Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung, für den die Debatte etwas Paradoxes hat: "Es ist eine Gruppe jüdischer Israelis, die sich seit knapp einem Jahr in wechselnden Formaten mit dem eigenen, zionistischen Geschichtsnarrativ auseinandersetzen. 'Oft wird ein kritischer Blick erst dann möglich, wenn man den Ort, der dieses Narrativ ausmacht, verlässt', sagt Yehudit Yinhar, Meisterschülerin der KHHP und Sprecherin der Gruppe, der Berliner Zeitung. In der benannten Veranstaltungsreihe sei es darum gegangen, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zugänglich zu machen und auch andere dazu einzuladen, sich solcher Perspektiven anzunähern, was so in Israel kaum möglich sei." Yinhar verwahrt sich gegen die Intervention "weißer Deutscher" gegen ihre Veranstaltung.

Christian Wulffs Satz "Der Islam gehört zu Deutschland", den er vor zehn Jahren gesagt hat, hat zu einer schematischen Debatte geführt, meint Seyran Ates bei cicero.de. Natürlich lebten die allermeisten Muslime in Deutschland rechtstreu: "Was wir aber nicht leugnen können ist, dass muslimische Parallelgesellschaften entstanden sind, in denen Probleme existieren und aus denen heraus es zu Problemen kommt. Seit Jahren weise ich darauf hin. Probleme zu benennen bedeutet nicht, sich gegen eine Religion oder Ethnie zu stellen, sondern sich ernsthaft um Lösungen zu bemühen."

Der Zürcher Philosoph Lutz Wingert, Mitglied der dortigen Ethikkommission, setzt sich in der FAZ mit den kniffligen Fragen der Eingrenzung von Freiheiten im Zeichen der Coronakrise auseinander. Gegen eine freiwillige Isolierung von Risikogruppen hat er nichts einzuwenden. Und er wendet sich gegen eine allzu forsche Forderungshaltung der Politik: "Daran ändert auch der amtierende deutsche Bundespräsident nichts, wenn er in seinen Ansprachen den autoritären Ton eines Anstaltsdirektors anschlägt, der zu seinen Zöglingen spricht. Es sollte nicht für normal gehalten werden, dass ein Staat den Bürgern zum Beispiel vorschreibt, nur im Uhrzeigersinn um einen See herumzuspazieren, wie es Anfang April 2020 am Dortmunder Phoenix-See geschah."

Der Papst hatte den besten Auftritt beim Ted-Klimagipfel, meint Andrian Kreye in der SZ. Er forderte "eine 'integrale Ökologie'. Und drei konkrete Schritte. Ein Bildungswesen, das auf der Basis von Wissenschaft und Ethik lehrt, dass Umweltprobleme und menschliche Bedürfnisse zusammenhängen. Eine Ernährungspolitik, die Wasser zum Menschenrecht erklärt und die zerstörerischen Aspekte der Nahrungsmittelproduktion beendet. Und einen Energiewandel mit einer schrittweisen Abkehr von fossilen Brennstoffen."
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Europa

Besonders in der SPD, aber nicht nur dort, gibt es nach wie vor neutralistische Bestrebungen, die einen Austritt Deutschlands aus der Nato und ein mehr oder weniger näheres Kuscheln mit Russland fordern. Heute steht Rolf Mützenich, Vorsitzender der Bundestagsfraktion, für diese Position. Aber sie hat Tradition in der Partei, trotz Herbert Wehners Bekenntnis zur Westbindung 1960, schreibt der Historiker Alexander Gallus in der FAZ. Einer der Protagonisten der Strömung war nach dem Mauerfall Egon Bahr: "Er publizierte zwei Streitschriften, deren Titel bereits einen eigenständigen nationalen Takt vorgaben: 'Deutsche Interessen' (1998) und 'Der deutsche Weg' (2003). Nach wie vor schwebte Bahr ein sicherheitspolitisch selbständiges Europa mit Deutschland im Zentrum vor, das sich von der einstigen amerikanischen Schutz- und Vormacht zu verabschieden habe. Die Vereinigten Staaten und die Nato lagen Bahr nicht am Herzen, den 'Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok' betrachtete er hingegen in sicherheitspolitischen Belangen als eine 'Einheit'."

Ebenfalls in der FAZ kommt Patrick Bahners nochmal auf den angeblichen Ausspruch Bärbel Bohleys "Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen" zurück, der von Ilko-Sascha Kowalczuk in den Kontext gestellt worden war (unser Resümee). Kowalczuk hatte darin geschrieben, dass Andreas Zielcke Urheber der Verkürzung sei. Zielcke hat in der FAZ eine Richtigstellung gegen Kowalczuks Artikel erzwungen.
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Ideen

Wenn Julian Assange an Amerika ausgeliefert und als Spion verurteilt wird, wird es keine Whistleblower mehr geben, der Preis - 175 Jahre Haft - wird zu hoch sein, warnt in der Berliner Zeitung Milosz Matuschek, der sich wundert, wie wenig in den Zeitungen über diesen Prozess berichtet wird: "Wenn Regierende oder Staatsbedienstete Verbrechen begehen und sich unter den Schutz des Staatsgeheimnisses flüchten, ist das Band zwischen Regierten und Regierenden durchschnitten. In einer Demokratie kann es keinen legitimen Geheimnisschutz für Verbrechen Einzelner geben. Eine Regierung, die das vor der Öffentlichkeit vertritt, putscht von oben nach unten. Ein Justizsystem, welches das mitmacht, wird zum Komplizen. Und eine Öffentlichkeit, die dazu schweigt, hat Demokratie nicht verstanden und letztlich auch nicht verdient."

Die FAS hat zu Beginn der fehlenden Buchmesse ein Dossier mit Schriftstellertexten zum Thema "Körper" gemacht. Hier spricht auch die Historikerin Ute Frevert mit Novina Göhlsdorf über ihr neues Buch "Mächtige Gefühle - Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung - Deutsche Geschichte seit 1900" und trifft eine Unterscheidung für die heutige Debatte: "Demokratien leben durch Streit und Auseinandersetzung. Die Freund-Feind-Differenz aber hat hier keinen Platz. Demokratien kennen Gegner, aber keine Feinde. Im Begriff des Feindes, der gehasst wird, steckt eine Vernichtungsenergie, die Demokratien fremd ist und sie zerstören würde. Das zentrale Demokratie-Gefühl heißt, seit dem 19. Jahrhundert, Vertrauen - ein Vertrauen zwischen Staat und Bürgern, aber auch ein Vertrauen der Bürger untereinander, das ohne Bespitzelung und Denunziation auskommt."

In der Berliner Zeitung glaubt die Schriftststellerin Kathrin Schmidt, dass die Gefahren, die von Covid ausgehen, vor allem von der Pharmaindustrie hochgespielt würden, um Kasse zu machen. Doch traue sich kaum jemand, das zu sagen: "Es zeichnete sich in den letzten Jahren bereits sehr deutlich ab, dass die Debattenkultur auch hierzulande schweren Schaden nimmt, wenn sie zu einer Art Gesinnungsbeweiskultur verkommt. Ich vermisse auch Intellektuelle unter jenen, die sich dem nicht beugen wollen. Dabei weiß ich durchaus, wovon ich spreche: Zum Beispiel würde auch ich nicht wagen, meine derzeitige, nicht gerade einfache Hypothese der Überrumpelung oder Inhaftnahme von Regierungen weltweit durch überwachungskapitalistische und pharmaindustrielle Interessenverbände, die sich dem Aus des kapitalistischen Finanzsystems im Februar/März 2020 gegenübersahen und denen ein plötzlich auftauchendes Virus gerade recht kam, überall frank und frei und detailliert zu äußern, weil ich mich gesinnungsdiktatorischen Angriffen nicht gewachsen fühle."

Jede Gesellschaft braucht bei aller Streitlust und Debattenkultur auch einen Konsens über das, was sie zusammenhält. Das ist keine Gesinnungsdiktatur, antwortet die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn auf Kathrin Schmidt. "Ob man es mag oder nicht: wir leben derzeit tatsächlich in einer Expertokratie, einem politischen System, das nicht von demokratischen Abstimmungen oder Aushandlungsprozessen bestimmt ist, sondern von Sachzwängen. Und was diese Sachzwänge sind, erklären uns Wissenschaftler." Richtig sei, dass es auch Wissenschaftler wie Wolfgang Wodarg und Sucharit Bhakdi gebe, die Corona für nicht schlimmer als eine Grippe halten: "Wissenschaft lebt von Kontroverse, oft wird hitzig diskutiert, es werden Review-Prozesse eingeleitet und Positionen modifiziert. Bemerkenswert ist, dass Corona-Skeptiker wie Wodarg oder Bhakdi diesen Selbstreinigungsprozess der Wissenschaft aber gerade vermeiden. Sie publizieren nicht in Journalen, die ihre Qualität durch aufwendige Review-Verfahren sichern, sondern als populäres Buch, im Fernsehen oder ein YouTube-Video. ... Was so entsteht, ist eine Debatte, die auf Laien wirken mag wie eine wissenschaftliche Diskussion. Aber sie ist es nicht."
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Politik

In Israel gibt es besonders viele Corona-Infizierte. Durch die Krise hat sich der Gegensatz zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Ultraorthodoxen noch verschärft, berichtet Judith Poppe in der taz: "40 Prozent der mit Corona Infizierten in Israel sind Ultraorthodoxe. Die Infektionsrate ist damit fünfmal höher als im Rest der Bevölkerung. Das liegt an der höheren Bevölkerungsdichte und an der vorhandenen Armut. Teilweise haben sich die Strenggläubigen aber auch nicht an die Regeln der sozialen Distanz gehalten. September und Oktober ist die Zeit zahlreicher jüdischer Feste."
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Geschichte

In der NZZ erinnert Markus Schär an den Versuch der New York Times vor gut einem Jahr, die Geschichte der USA umzuschreiben: Statt mit der Unabhängigkeit 1775 habe sie 1619 begonnen, als ein Schiff die ersten afrikanischen Sklaven nach Amerika brachte, schrieb damals die Journalistin Nikole Hannah-Jones. Nur die Sklaverei habe Amerika den Aufstieg zu einer wirtschaftlich so potenten Nation ermöglicht. Schär zeichnet die heftige Debatte nach, die daraufhin ausbrach und schließlich in sich zusammenfiel: "Nach dem Einspruch von republikanischen Spitzenpolitikern mischte sich im September auch Präsident Donald Trump in die Debatte ein: Mit einem Tweet drohte er Kalifornien, Bundesmittel zurückzuhalten, wenn der Staat das Project 1619 in die Lehrpläne aufnehme. Und die geballte Kritik, ob von Experten oder Ignoranten, zeigte Wirkung: In einem Interview mit CNN bestritt Nikole Hannah-Jones, dass sie 1619 als das wahre Gründungsjahr der USA bezeichnet habe. Das ließ sich allein mit ihrem Twitter-Feed leicht widerlegen; deshalb löschte ihn die Journalistin gleich ganz. Und schließlich fanden Kritiker, dass die New York Times die umstrittene These in der Online-Version entfernt hatte, entgegen den guten Sitten ohne irgendeine Anmerkung."
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