9punkt - Die Debattenrundschau

Nur mit Rummel und Gerempel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2020. Paris steht unter Schock nach dem grausigen Mord an einem Lehrer, der in der Schule die Mohamed-Karikaturen zeigte. Das Wall Street Journal rekapituliert, wie sich Mark Zuckerberg an Donald Trump heranmachte, laut New York Times "der größten Gefahr für Amerika seit dem Zweiten Weltkrieg". Frankfurts Jüdisches Museum setzt gegen Fanatismus auf Offenheit und Diversität. Die NZZ hinterfragt die Hermeneutik des Faktenchecks. Die SZ fürchtet einen Buchmarkt, der auch ganz ohne gesellschaftlichen Widerhall gut läuft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.10.2020 finden Sie hier

Europa

In der Nähe von Paris hat ein islamistisch motivierter Achtzehnjähriger einen Lehrer mit einem Messer enthauptet, weil er den Schülern seiner Klasse die Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte, um über Meinungsfreiheit zu diskutieren. Die aktuellen Ereignisse finden sich etwa auf LeParisien oder auf der der HuffPo.fr. In Polizeigewahrsam befanden sich am Morgen auch einige Eltern der Schule im Vorort Conflans.

Marion Van Renterghem, lange Zeit Reporterin bei Le Monde, hat eine Karikatur getweetet. Sie zeigt einen Gläubigen, der von einem Ungläubigen und einen Ungläubigen, der von einem Gläubigen verletzt wurde.

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Kulturmarkt

Die Geschäfte der digitalen Frankfurter Buchmesse scheinen gar nicht so schlecht zu laufen, weiß Felix Stephan in der SZ, aber intellektuelle Debatten oder gesellschaftliche Fragen werden so nicht aufgeworfen: "Der Preis für diese tabellarische Scheingewissheit besteht darin, dass das Buch seine Rolle als Leitmedium gesellschaftlicher Selbstverständigung einbüßt und sich die Buchbranche von der Öffentlichkeit entkoppelt. Wie das aussieht, führt der US-amerikanische Buchmarkt vor: Die Geschäfte laufen, internationale Megabestseller wie zuletzt Michelle Obamas Autobiografie machen Aktionäre glücklich, spektakuläre Übernahmen bringen hochprofitable Verlagskonzerne hervor... Mit einem kontinentaleuropäischen Verständnis von Öffentlichkeit, von kritischem Geist und intellektuellem Bewusstsein hat das nicht besonders viel zu tun."

In der FAZ berichtet Andrea Diener ein wenig erschöpft von vier Tagen virtuellen Messebetriebs: "In der Praxis stellte sich aber heraus, dass es einem nur bedingt guttut, stundenlang auf viergeteilte Bildschirme zu starren, in denen Köpfe mit knarzenden Mikros Zahlen referieren. Ja, die Inhalte werden nach wie vor verhandelt, die Arbeit ist die gleiche geblieben, aber der ganze Spaß fehlt." Die kümmerlichen Reste der realen Buchmesse haben ihren FAZ-Kollegen Kai Spanke dagegen nur deprimieren können: "Präsenz - das ist die theoretisch längst bekannte, nun aber körperlich spürbare Lektion - bedeutet mehr als bloße Anwesenheit. Es handelt sich um ein im besten Sinne aufdringliches Miteinander, das aus bloßen Begebenheiten Ereignisse macht. Allerdings funktioniert das nur mit Rummel und Gerempel. Diesmal kann man auf den Gängen der Festhalle dem Nichts beim Nichten beiwohnen. In der taz schickt Ulrich Gutmair Eindrücke. Welt-Kritikerin Mara Delius fehlen irgendwie "das Reden, das Lästern, die zufälligen Begegnungen, schönen Entdeckungen und plötzlichen Peinlichkeiten".
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Kulturpolitik

Am Mittwoch in der kommenden Woche wird in Frankfurt das erweiterte jüdische Museum eröffnet. Im FR-Interview mit Claus-Jürgen Göpfert betont Direktorin Mirjam Wenzel, dass es dem Museum nicht um die Ausstellung schöner Kultur oder prächtiger Tradition gehe, sondern um eine politische oder gesellschaftliche Verortung jüdischen Lebens in Deutschland und Europa, mit einem starken Fokus auf Diversität und demokratischem Bewusstsein: "Beides sind Voraussetzungen für eine jüdische Zukunft in Deutschland und Europa. Diese steht im Zentrum unserer Museumsarbeit und dafür setzen wir uns ein. Unser neues Museum ist ein offener Ort, an dem Unterschiedlichkeit verhandelt, diskutiert und in Bezug zueinander gebracht wird. Eine Plattform für Diversität, ein Training für demokratisches Bewusstsein, eine Einladung zur Selbstreflexion. Und last but not least: ein Ort des differenzierten Diskurses über gesellschaftliche Entwicklungen."
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Internet

Im Wall Street Journal zeichnen Deepa Seetharaman und Emily Glazer nach, wie Mark Zuckerberg sein Facebook-Imperium immer näher an die Republikaner herangeschoben hat - zum Ärger der meist demokratisch gesinnten Mitarbeiter -, um die überwiegend konservativen Nutzer zu bedienen, politischen Regulierungsdruck abzufedern und Konkurrenten auszuschalten: "Zuckerberg ist inzwischen ein dezidiert politscher Akteur. Er hat mit Präsident Trump zu Abend gegessen, spricht regelmäßig mit Jared Kushner, und übt Druck auf Gesetzgeber und Behörden aus, um Rivalen wie TikTok und Apple überprüfen zu lassen." Und natürlich schadet es ihm nicht: "Die politische Kontroverse um ihn hat das Wachstum seiner Einnahmen nicht aufgehalten, von 28 Milliarden 2016 auf 70 Milliarden im vergangegen Jahr."
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Politik

Nicht ganz unerwartet spricht sich die New York Times zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen gegen Donald Trump aus, und zwar mit Karacho: "Donald Trumps Bemühen um eine Wiederwahl stellt die amerikanische Demokratie vor ihre größte Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg... Trumps ruinöse Amtszeit hat den USA bereits schweren Schaden zugefügt, zu Hause und in der Welt. Er hat die Macht seines Amtes missbraucht, die Legitmität seiner politischen Gegner in Abrede gestellt und dabei die Normen zertrümmer, die seit Generationen die Nation zusammenhalten. Er hat das öffentliche Interesse der Profitabilität seiner Geschäfte und seinen politischen Zielen unterworfen. Er hat eine atemberaubende Verachtung für das Leben und die Freiheit der Amerikaner gezeigt. Er ist ein Mann, der des Amtes nicht würdig ist, das er bekleidet."

In der SZ glaubt Peter Richter nicht an Joe Bidens sicheren Sieg, auch wenn ihn alle Demoskopen weit vorn sehen. So fest stünden die demokratische Basis nicht hinter ihm, und nicht einmal New York sei stabil blau, erinnert er sich an seine Zeit als Kulturkorrespondent: "Wer rausfuhr, um im ländlichen Teil des Staates New York auf einer Farm den Kürbis zu pflücken, der Halloween vor der Tür zu liegen hat, sah sofort hinter der Bronx die ersten "Trump"-Schilder in den Vorgärten. 'Es gibt keine blauen Staaten', erklärte einen Tag vor der Wahl eine Politplanerin der Demokraten, die das Foreign Press Center für einen Vortrag gewonnen hatte, 'es gibt in den roten Staaten nur manchmal blaue Städte, die groß genug sind'."
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Ideen

Faktenchecks sind in Mode und bestimmt auch sinnvoll, räumt der Innsbrucker Literaturwissenschaftler Johannes Odendahl in der NZZ ein, aber für die gesellschaftliche Diskussion findet er sie fatal: "Das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit besagt, bei alledem das generelle Anliegen der Sprecherin oder des Sprechers im Auge zu behalten, denn dieses gilt es zu verstehen. Gut zuzuhören, heißt hier nicht nur, kritisch zu sein, sondern auch, so lange wie irgend möglich den Aussagen des Gegenübers insgesamt Plausibilität zu unterstellen. Die zerstückelnde Methode des Faktenchecks hingegen neigt dazu, den Blick auf den Äußerungszusammenhang auszublenden. Suggeriert wird, dass das Ganze des Gesagten sich aus der Summe seiner Einzelteile ergebe. Der Faktencheck urteilt portionsweise - 'falsch' / 'teilweise richtig' / 'nicht belegt' / großenteils falsch'. Der Eindruck bei den Lesern ist desolat: So bleibt das Gesagte zerpflückt und zerfleddert zurück - und zugleich häufig ein wichtiges Anliegen auf der Strecke."
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Stichwörter: Faktenchecks