9punkt - Die Debattenrundschau

Unter gepflegtem Rasen und lichten Kiefern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2020. "Wehret den Anfängen, hieß es früher. Heute werden die Wehrhaften des Rassismus verdächtigt", kritisiert Alan Posener in der Welt die deutsche Linke - auch mit Blick auf den Islamismus. Der Mord an Samuel Paty beschäftigt die Medien weiter. Außerdem: In der NYRB fordert der französische Autor Olivier Rolin mehr Aufmerksamkeit für den inhaftierten Historiker Juri Dmitrijew. In der Welt fürchtet Norbert Bolz, dass sich die sozialen den Mainstreammedien anpassen. Und woher kommt eigentlich das Mehl, das das Welternährungsprogramm der UN aus Flugzeugen wirft, fragt Uta Ruge im Perlentaucher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2020 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt zum Mord an Samuel Paty

Die französische Linke wird keine Hilfe im Kampf gegen den Islamismus sein, meint der Philosoph Raphael Enthoven im Interview mit der Welt. Da muss man schon auf eigene Ideen zurückgreifen: "Der Kampf gegen den Islamismus darf sich nicht in einem ideologischen Kampf erschöpfen. Es ist vollkommen unnütz, jemandem, der gänzlich andere Werte vertritt, absolute Werte entgegenzustellen. Der Islamismus lebt von Angst und frontaler Abscheu. Deshalb ist es wirksamer, denjenigen, die im Namen Gottes töten, vorzuhalten, dass sie sich selbst für Gott halten oder dass Gott beleidigt ist, wenn sie ihn für menschlich halten, als  ihnen zu sagen, dass sie das absolute Böse sind. Man erreicht mehr, wenn man zersetzt und zergliedert,  als wenn man unbestrittene Werte aufbaut, für die man nur bedauert wird."

Die deutschen Medien berichten über den Mord an Samuel Paty erstaunlicher Weise, als handele es sich um ein französisches Problem. Kaum eine Zeitung fragt bisher, wie deutsche Lehrer mit ihren Schülern über Meinungsfreiheit sprechen. Die Situation, die Le Monde in ihrem Leitartikel schildert, dürfte deutschen LehrerInnen aber eigentlich nicht so unbekannt vorkommen: "Es hat Jahre gedauert, bis die Institutionen die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit zur Kenntnis genommen haben, in gewissen Klassen die Schoa oder die Arbeiten von Darwin zu thematisieren oder die Mädchen zum Schwimmbad mitzunehmen. Die Tragödie von Conflans erlaubt keinen zweifel mehr über die tödliche Gefahr, die all diese Erscheinungsformen des Islamismus darstellen."

Kein Religionsführer bekommt gern erzählt, dass er nicht die Wahrheit sagt. Aber es gibt Unterschiede zwischen den Religionen, die thematisiert werden müssen, schreibt der Politologe Stephan Grigat in der taz. Wer das Christentum attackiert, wird in der Regel nicht umgebracht. Islam und Islamismus sind ungleich brutaler: "Die Reaktion auf die grauenhafte Enthauptung eines Pariser Lehrers aufgrund seines selbstverständlichen Eintretens für das kleine Einmaleins der Aufklärung kann kein abstrakter Wald- und Wiesenatheismus sein, dem alles eins ist." Alles andere, so Grigat, lasse nur die Rechte profitieren.

Die Rechnung ist eigentlich recht einfach, schreibt Nina Scholz bei den Ruhrbaronen nach dem Mord an Samuel Paty, aber erlaubt das Optimismus? "Wenn jene, die glauben, im Namen Mohammeds oder Gottes die Meinungsfreiheit bekämpfen zu müssen, den Sieg erringen, wird für die Freiheitsliebenden dieser Welt kein Platz mehr bleiben - gewinnt die Meinungsfreiheit, werden Muslime und Musliminnen auch weiterhin in Frieden beten, fasten und predigen können."

Dem Mord an Paty waren Denunziationen des Lehrers in sozialen Medien vorausgegangen. "Dreiste Kampagnen empörter Eltern, die in den Netzwerken die Entlassung und Bestrafung der Lehrer fordern, gibt es seit längerem", erläutert Jürg Altwegg in der FAZ, "erstmals aber hat jetzt der Fanatismus eines Vaters, der sich mit einem Hassprediger zusammentat, nach zwei Wochen zu einem Mord geführt."

"Wehret den Anfängen, hieß es früher. Heute werden die Wehrhaften des Rassismus verdächtigt", kritisiert Alan Posener in der Welt die deutsche Linke. "Als ein Mitglied des Türkischen Elternbundes Hamburg die Deutschen als 'Köterrasse' bezeichnete, spielte die Akademikerin Yasemin Shooman den Vorfall mit einem bedenklichen Argument herunter. Sie wolle zwar 'solche Haltungen nicht verharmlosen', schrieb sie in einem Zeitschriftenartikel. Doch sollte man 'Deutschenfeindlichkeit' nicht als Form des Rassismus bezeichnen, weil 'diejenigen, von denen diese Angriffe ausgehen, nicht über die gesellschaftliche Macht verfügen, ihre Ressentiments dahingehend durchzusetzen, dass sie die Opfer, die zur Gruppe der Etablierten gehören - in diesem Fall also weiße Deutsche -, auf eine untergeordnete soziale Stellung verweisen könnten.' Shooman ist nicht irgendwer, sondern Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung und Mitglied des von Horst Seehofer einberufenen 'Expertenrats Muslimfeindlichkeit'. Der weiße Franzose Samuel Paty, der 'zur Gruppe der Etablierten' gehörte, wurde nicht auf eine 'untergeordnete soziale Stellung' verwiesen, sondern ermordet."

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Der französische Autor Olivier Rolin fordert im Blog der New York Review of Books mehr Aufmerksamkeit für den Historiker des Terrors und des Gulags Juri Dmitrijew, der unter fadenscheinigen Gründen ins Gefängnis gesteckt wurde. Rolin erinnert sich an ihr erstes Treffen, Dmitrijew half ihm bei einer Recherche: "Er war kein typischer Historiker. Bei unserem ersten treffen lebte er inmitten verrosteter Türen, verbogener Rohre und Maschinenkadavern in einer Hütte inmitten einer stillgelegten Industriezone am Rande von Petrosawodsk - einer sehr russischen Landschaft. Abgemagert und bärtig, mit grauem Pferdeschwanz, erschien er wie eine Kreuzung zwischen einem heiligen Narr und einem ehemaligen Piraten, wieder sehr russisch. Er erzählte mir, wie er seine Berufung als Forscher gefunden hatte - ein Wort, das in mehreren Sinnen verstanden werden kann: in Archiven, aber auch in der Erde, in den Friedhofswäldern Kareliens."

Die zweite Welle des Corona-Virus trifft auf ein ermüdetes Italien, das hoffte die Krise überwunden zu haben, schreibt Karen Krüger in einem Stimmungsbild für die FAZ. Besonders betroffen ist Mailand: "Als in der Nacht vom 8. auf den 9. März der Lockdown verhängt wurde, der Mailand vor dem Schlimmsten bewahren sollte, zählte die Stadt fünfhundert Infizierte. An diesem Sonntag waren es 17.477. Man hatte deshalb mit drastischeren Schritten gerechnet, sogar ein abermaliger, partieller Lockdown war befürchtet worden. Aber die gesellschaftliche Akzeptanz für eine Politik des Blockierens ist gesunken - dessen ist man sich in Rom bewusst."
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Kulturpolitik

Sehr angeregt berichtet Matthias Alexander in der FAZ von seinem ersten Rundgang durchs neu gestaltete Jüdische Museum in Frankfurt. Dass sowohl in Berlin als auch in Frankfurt die Jüdischen Museen neue Dauerausstellungen haben, sei kein Zufall: "Die letzten Überlebenden des Holocausts verstummen, die jüdischen Gemeinden sind durch die Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken größer und heterogener geworden, und die Jüngeren nehmen selbstverständlicher ihren Platz in der Gesellschaft ein."
Archiv: Kulturpolitik

Internet

In der Welt wendet sich der Medienwissenschaftler Norbert Bolz gegen "anonyme Großinquisitoren" wie Twitter und Facebook, die bestimmen, was bei ihnen als "Hassrede" gelöscht wird. Alternative war mal: Das Netz wird immer konformer links und passt sich den Mainstreammedien an, fürchtet er. Und den Schneeflocken teilt er mit: "Wir brauchen eine Kultur der freien Rede, die zum Dissens ermutigt. Das Recht auf Meinungsfreiheit und Redefreiheit stellt ja gerade die abweichende Meinung, den Dissens, ins Zentrum der Freiheitsidee. Und es ist ein Irrtum zu glauben, dass derjenige, dem man das Sprechen und Schreiben beschneidet, immerhin noch frei denken könne. Es gibt nämlich keine Freiheit des Denkens ohne die Möglichkeit einer öffentlichen Mitteilung des Gedachten. Wenn es in einem Staat aber keine Freiheit der Rede mehr gibt, steht man vor der Alternative, ob man Sicherheit und Konformismus oder Wahrheit und Verfolgung wählt. Und die heute aktuelle Form der Verfolgung ist die Isolationsdrohung des sozialen Boykotts. Deshalb müssen wir wohl wieder lernen, zwischen den Zeilen zu lesen und zu schreiben."
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Überwachung

Der BND nimmt sich - wie alle Geheimdienste - das Recht heraus, die Bürger ausländischer Staaten abzuhören, und da auch sehr gerne Journalisten. Im neuen BND-Gesetz finden sich zwar Schutzrechte für Journalisten, aber sehr löchrig, schreibt Daniel Moßbrucker bei netzpolitik.de. Dabei kooperieren "Journalist:innen und ihre Redaktionen mittlerweile global und tauschen sich über Ländergrenzen hinweg aus, was Kooperationsprojekte zu internationaler Steuerhinterziehung wie die 'Panama Papers' eindrucksvoll belegen. Auch Geheimdienste agieren längst international, indem sie ihre aus Überwachung gewonnen Erkenntnisse in Netzwerken tauschen. Vor dieser geheimdienstlichen Massenüberwachung sind Journalist:innen, wenn sie international kooperieren, bislang jedoch kaum geschützt - und möglicherweise auch in Zukunft nicht."

Die Corona-Warn-App könnte so nützlich sein, hätte Jens Spahn nicht das Vertrauen in sie untergraben, bedauert Thomas Kaspar in der FR. Das hat auch mit einer Gesetzeslage zu tun, die den Nutzer im Unklaren darüber lässt, was genau eigentlich mit seinen Daten geschieht. Wichtig wäre deshalb, "endlich Leitplanken für die Technik durch Recht" aufzustellen, meint Kaspar. "Durch die Hintertür ist nämlich derzeit eine Grauzone entstanden. Viele Restaurants bieten einen QR-Code an, den Gäste scannen können, um ihre Aufenthaltsdaten einzutragen. Was mit diesen Daten passiert, wie sie aufbewahrt werden und wann sie gelöscht werden, ist noch unklarer, als dass die Corona-Warn-App in der jetzigen Form nutzlos ist."
Archiv: Überwachung

Geschichte

Der Holocaustüberlebende Salo Muller brachte die niederländische Eisenbahngesellschaft dazu, die Opfer von Deportationen zu entschädigen, nun will er das selbe bei der Deutschen Bahn versuchen und hat sich dafür mit dem Anwalt Axel Hagedorn zusammengetan, erzählt Tobias Müller in einem großen taz-Porträt Mullers: "Dass ihr Unterfangen kein leichtes ist, daran hat Hagedorn keinen Zweifel. Vorhersehbar ist, dass die Bahn sich darauf berufen wird, nicht in der direkten Rechtsnachfolge der Reichsbahn zu stehen. Dennoch hält er die Forderung für gut untermauert: 'Zivilrechtlich handelt es sich bei den Transporten um unerlaubte Handlungen, aus denen mindestens ein immaterieller Schaden entstanden ist. In den Niederlande hat die Bahn das anerkannt." Hinzukommt, dass die Deportierten selbst für den Transport aufkommen mussten und auch dafür nie entschädigt wurden.

In der FAZ erzählt Reiner Burger, dass am Rande des kleinen ostwestfälischen Ortes Holte-Stukenbrock eine Gedenkstätte für russische Kriegegefangene errichtet werden soll. Hunderttausende von ihnen sind durch die Nazis gestorben - gedacht wird ihrer kaum: "Mehrere zehntausend Rotarmisten liegen verscharrt im Sand der Senne unter gepflegtem Rasen und lichten Kiefern. Sie verhungerten, starben elendig an Krankheiten, wurden ermordet."
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Politik

Dass das Welternährungsprogramm der UN den Friedensnobelpreis bekommen hat, haben die Medien routiniert abgehakt, notiert Uta Ruge, Autorin des Buchs "Bauern, Land" (Leseprobe), im Perlentaucher. Aber woher kommen eigentlich die Lebensmittel, die das Programm in seine berühmten Säcke packt? Aus Großbetrieben? Aus Überschüssen der EU? Man weiß nur, dass die UN grundsätzlich billig kaufen. "Könnten vielleicht trotzdem einmal ein paar investigative ReporterInnen einschlägiger Medien recherchieren, was es mit diesen billigen Lebensmitteln auf sich hat? Von welchen Feldern aus strömen sie auf welche Märkte und dann über die Ladeluken der WFP-Flugzeuge in welche Länder? Welche Landwirte beteiligt die Welthungerhilfe am Geschäft des Friedens - und welche schließt sie aus?" Und noch etwas: "Wer die Welternährungs-Lebensmittel produziert, hat sozusagen gute Lebensmittel produziert. Ob konventionell oder biologisch angebaut, wird keiner fragen."

Außerdem: Richard Herzinger bringt in seinem Blog eine Hommage auf den unterschätzten amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson: Er war es, der die Gesetze zur Abschaffung der Segregation durchsetzte.
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