9punkt - Die Debattenrundschau

Während er ins Leere salutiert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2020. Es ist ein Fehler zu denken, dass der Islamismus des Paty-Mörders nichts mit dem 'Islam' zu tun hat, meint Bernard-Henri Lévy in Le Point. Wie kann die deutsche Linke jetzt noch schweigen, fragen Kevin Kühnert und Sascha Lobo auf Spon. In der Welt zeichnet der Schriftsteller Viktor Jerofejew den Niedergang der russischen Intelligenzija nach. In der Zeit glaubt Andrew Sullivan an einen erdrutschartigen Sieg über Trump. Es gibt keine gute Zensur, entgegnet der Historiker Niall Ferguson Facebook und Co. in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.10.2020 finden Sie hier

Europa

In Frankreich steht der Mord an Samuel Paty nach der gestrigen nationalen Gedenkfeier für den Lehrer immer noch im Mittelpunkt. Der Schriftsteller Pierre Jourde schreibt im Nouvel Obs: "Viele lehnen heute die Idee der Blasphemie  ab, nicht nur Muslime. Man solle die Religionen 'respektieren'. Aber nur weil man wir sie nicht respektiert haben, konnten wir uns aus dem Zugriff von Religion befreien und in einer Demokratie leben, in einem Land, in dem alle Religionen akzeptiert sind."

In seiner Kolumne in Le Point mahnt Bernard-Henri Lévy (der seine Kolumne über einen Tweet zugänglich macht): "Es gibt einen moralischen Fehler, den wir mehr denn je vermeiden müssen: die monströse Logik der Gleichsetzung, der die Muslime in die Verachtung der Tat einschließt. Aber es gibt einen symmetrischen Denkfehler, der aus dem Wunsch entsteht, die Gleichsetzung zu vermeiden, und den wir mit der gleichen Energie zurückweisen müssen: die Idee, dass der Islamismus des Paty-Mörders nichts mit dem 'Islam' zu tun habe."

Der Mord an Samuel Paty legt offen, in welchem Ausmaß gerade die Lehrer die Blitzableiter der Republik sind - und sie versagt hier, schreibt Michaela Wiegel in der FAZ: "An vielen Schulen in der Banlieue haben die Lehrer vor dem Druck des politischen Islams kapituliert. Mehr als fünfzig Prozent der Pädagogen in sozialen Brennpunkten gaben kürzlich an, sich selbst zu zensieren. Sie verzichten darauf, die Atteste zu überprüfen, die muslimischen Mädchen eine Chlorallergie bescheinigen, damit sie im Schwimmunterricht nicht ihren Körper zeigen müssen. Sie akzeptieren, dass viele Mädchen im gemischten Sportunterricht fehlen. Sie vermeiden es, im Geschichtsunterricht den Holocaust zu behandeln.

Die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter ergänzt in der FAZ zum Umfeld, in dem die Lehrer agieren: "Es sind nämlich keineswegs nur kleine Minderheiten unter den Muslimen, die islamistische Ideen teilen. Gerade unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, zeigte jüngst eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop, stehen bedenkliche Auffassungen hoch im Kurs. Ähnliches lässt sich auch für andere europäische Staaten sagen."

Wie kann in Deutschland angesichts der Ermordung von Samuel Paty nur weitgehend Stille herrschen, fragt Juso-Chef und SPD-Vize Kevin Kühnert bei Spiegel Online vor allem mit Blick auf die Linke: "Will die politische Linke den Kampf gegen den Islamismus (…) nicht länger Rassisten und halbseidenen Hobbyislamforschern überlassen, dann muss sie sich endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck beschäftigen. Sie muss klarstellen, dass in ihrer Idee von der gerechten Gesellschaft der Glaube eine Sache zwischen dem Einzelnen und seinem Gott ist. Niemals jedoch kann sie Glaube als eine die Freiheit einschränkende Sache zwischen einzelnen Individuen akzeptieren. Zumal wenn diese im behaupteten Auftrag eines Gottes oder einer wie auch immer gearteten Ideologie meinen, Recht sprechen und exekutieren zu können. Die Durchsetzung dieses Prinzips ist noch keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Voraussetzung für linke Politik."

Der bei einem Messerangriff vor zwei Wochen in Dresden getötete Mann wurde offenbar Opfer eines islamistischen Attentäters. Und wieder einmal schweigt die linke und liberale Zivilgesellschaft, konstatiert auch Sascha Lobo auf Spiegel Online. Sie habe es "versäumt, eine nicht-rassistische Islamkritik zu entwickeln". "Zum Mord in Paris schrieb jemand ernsthaft: 'Ist nicht der Kapitalismus und sein Umgang mit armen Menschen und Ländern am islamistischen Extremismus schuld?' Das ist nicht nur bizarr geschichtsvergessen und stumpf. Es ist auch eine Form von Verniedlichungsrassismus, wenn man muslimischen Menschen und ganzen Ländern in toto die Verantwortung für ihr eigenes Handeln abspricht und stattdessen offenbar glaubt, alles, was auf der Welt geschieht, sei ausschließlich eine Reaktion auf den bösen Kapitalismus der weißen Europäer und Amerikaner."

Russland ist im "Herz der Finsternis" angekommen, Widerstand leisten nur noch ein paar mutige Frauen, seufzt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in der Welt und versucht, belarussischen Protestanten zu erklären, weshalb die russische Intelligenzjia schweigt: Es gebe sie schlicht nicht mehr. "Von der Wurzel her begann sie zu verfaulen, als im postsowjetischen Russland der Perestroika politische Freiheiten möglich wurden, geringe zwar, aber für Russland schlicht unerhörte. Die russische Intelligenzija stellte eine bemerkenswerte, Legenden bildende Kaste dar, die für Freiheit, Gerechtigkeit und das Glück des Volkes kämpfte. Ende des 20. Jahrhunderts wurde klar, dass jeder seine eigene Vorstellung vom Glück, von der Gerechtigkeit und auch vom Volk hat. Heute befindet sich die russische Gesellschaft in einem völlig diffusen Zustand. Sie ist dermaßen isoliert, dass sie gereizt und rücksichtslos mit sich selbst im Dauerstreit liegt und sich an inneren Widersprüchen aufreibt. Die einen geben den anderen nicht die Hand, die Zweiten verdächtigen die Dritten der Kompromisse mit den Machthabern, die Vierten haben sich konkret an die Machthaber verkauft, die Fünften haben sich einfach aus diesem Spiel verabschiedet."
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Politik

In Nigeria ist eine junge Protestbewegung entstanden, die nach den Worten eines sehr aktuellen Artikels des Nobelpreisträgers Wole Soyinka in der taz eine hoffnungsvolle Stimmung wie in Woodstock aufkommen ließ. Und nun geschieht, was so oft geschieht: Das Regime in Nigeria hat Soldaten und Marodeure - wohl auch Gefängnisinsassen - angeheuert, um die Bewegung brutal niederzuschlagen: "Im Stadtteil Lekki von Lagos, wo die meisten Versammlungen stattgefunden hatten, eröffneten Soldaten das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten, töteten und verletzten eine noch unbekannte Zahl. Eine dieser außergerichtlichen Tötungen hat die nigerianische Flagge im Blut Unschuldiger getränkt, und das nicht nur symbolisch. Das Video davon ist 'viral' gegangen, wie man so sagt. Ich habe mit Augenzeugen telefoniert. Einer davon, eine bekannte Person des öffentlichen Lebens, hat seine Erlebnisse im Fernsehen mitgeteilt. Die Regierung sollte aufhören, mit ihren bockigen Dementis die Nation für dumm zu verkaufen."

"Ich weiß, ich fordere das Schicksal heraus: Aber die Möglichkeit eines erdrutschartigen Siegs über Trump ist inzwischen real", schreibt in der Zeit der Publizist Andrew Sullivan, auf den Donald Trump inzwischen wirkt wie Krusty der Clown aus den "Simpsons" ("innerlich bis auf gelegentliche Ausbrüche der Wut und des Grolls tot, während er ins Leere salutiert"). Und Sullivan hofft, dass sich ein solcher Sieg mäßigend sowohl auf die republikanische Partei als auch auf die Linke bei den Demokraten auswirkt.

Die Genervtheit über die doktrinäre Linke der "Social Justice-Studies" (also etwa Queer Studies, Gender Studies, Critical Race Theory et cetera) ist so groß, dass einige liberale Intellektuelle zu überlegen scheinen, republikanisch zu wählen. Ihnen ruft Helen Pluckrose, Mit-Autorin des Buchs "Cynical Theories", in Erinnerung: "Die Linke wird nicht liberaler, wenn die Leute nach rechts driften. Wenn das wahrscheinlich wäre, hätte die Social-Justice-Bewegung in den Jahren der Trump-Präsidentschaft an Macht und Einfluss verloren. Stattdessen hat sie den Wind im Rücken und ist zu einer dominierenden illiberalen Kraft in der Gesellschaft geworden."
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Geschichte

Hohenzollern und kein Ende. Allen Ernstes rät der Historiker Frank-Lothar Kroll, Vorsitzender der "Preußischen Historischen Kommission", die laut Sebstdarstellung eng mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz verbunden ist, in der FAZ (politischer Teil): "Unabhängig davon, wie man das Verhältnis einzelner Hohenzollern-Prinzen zum Nationalsozialismus historisch einschätzen mag, empfiehlt sich die Frage, ob man Entschädigungsansprüche für widerrechtliche Enteignungen wirklich vom politischen Verhalten der Vorfahren abhängig machen will."
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Überwachung

Der BND darf künftig auch ausländische Journalisten nicht ohne Weiteres überwachen. Allerdings lässt das Gesetz viele Lücken, die Lisa Dittmer bei Netzpolitik kritisiert: "In vielen Einsatzländern des BND sind es gerade Menschen, denen Regime die Möglichkeit zur Ausübung journalistischer Tätigkeiten zu verweigern suchen, die ein Mindestmaß an unabhängiger Berichterstattung garantieren. Je prekärer die Lage, umso dringender muss ihr Schutz gewahrt sein. Darunter fallen ausgebildete Medienschaffende ... genauso wie die Bürgerjournalistinnen und -journalisten der Gruppe 'Raqqa is being slaughtered silently', die heimlich die Grauen der IS-Herrschaft in Syrien dokumentierten. Ob ihnen aber der Schutzstatus 'Journalist' zugestanden wird, darüber bringt der Gesetzentwurf keine Klarheit."
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Stichwörter: BND, Netzpolitik

Gesellschaft

Die Coronakrise hat die Entfremdung zwischen politischer Elite und breiter Bevölkerung weiter vorangetrieben, schreibt die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr im Tagesspiegel. Sie plädiert für eine "Re-Demokratisierung" durch Bürgerräte: "Bürgerräte arbeiten für einen begrenzten Zeitraum und haben kontroverse gesellschaftspolitische Fragen - wie den Umgang mit der Corona-Krise - zu ihrem Gegenstand. Legitimiert werden sie nicht durch Wahlen, sondern indem sie paritätisch durch Losverfahren aus allen Gruppierungen der Bevölkerung gebildet werden. Sie unterscheiden sich darin nicht nur von den Parlamenten, sondern auch von Expertengremien wie dem Ethikrat oder dem Bundesverfassungsgericht, in denen die Debatten kontroverser politischer Fragen wiederum von politischen Eliten übernommen werden."
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Internet

In der NZZ blickt der Historiker Niall Ferguson in die Geschichte der amerikanischen Internet-Regulierung, die so vage formuliert ist, dass Technologiefirmen die Paragrafen nach Ermessen auslegen können: Zum einen genießen sie rechtliche Immunität hinsichtlich der Inhalte, die Nutzer bei ihnen veröffentlichen, zum anderen können sie löschen, was sie wollen, mit dem Verweis darauf, ein Privatunternehmen zu sein. Aber es gibt keine gute Zensur, hält Ferguson fest: Die Gründergeneration der Unternehmer im Silicon Valley beugt sich "trotz ihren einst libertären Neigungen wiederholt dem Druck jüngerer Angestellter, die aus einem universitären Umfeld kommen, wo man denjenigen, deren Ansichten man für 'riskant' hält, kein Forum mehr gibt. Laut Brian Amerige, der Facebook inzwischen verlassen hat, attackieren diese Mitarbeiter 'schnell einmal - und oft in Gruppen - jeden, der Ansichten vertritt, die einer linksorientierten Ideologie zuwiderzulaufen scheinen'."

Sollte das US-Justizministerium beweisen können, dass Google seinen "80-prozentigen Marktanteil am Suchmaschinengeschäft mit unzulässigen Zahlungen an andere Firmen wie Apple gesichert hat, könnte das eine der vielen Monopolstellungen in der digitalen Welt beenden und einen Präzedenzfall liefern", hofft Andrian Kreye in der SZ: "Die Bedeutung eines solchen Urteils ginge aber über die Wettbewerbsfrage hinaus. Digitalkonzerne wie Googles Mutterfirma Alphabet, Amazon, Facebook und Apple verzerren nicht nur den Wettbewerb der Technologiebranche. Mit ihren Monopolstellungen haben die großen Vier Geschäftsmodelle zerstört, den öffentlichen Diskurs radikalisiert und einen Überwachungskapitalismus geschaffen, der einen großen Teil der Menschheit erfasst. Eine erfolgreiche Klage könnte die Entwicklungen bremsen."
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