9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kurven steigen und fallen und steigen erneut

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2020. "Trump wird die Wahl verlieren, und es wird nichts klar sein am 3. November", prophezeit Timothy Snyder in der SZ. Die FAZ veröffentlicht ein vom Bundespräsidenten in Auftrag gegebenes Papier von Professoren, die eine Neugestaltung der Paulskirche fordern. Die taz notiert, dass Alexander Lukaschenko eine annoncierte Pro-Regime-Demo am Wochenende nicht zustande brachte. Die Probleme an deutschen Schulen sind nicht so groß wie in Frankreich, aber auch nicht so anders, sagt Ahmad Mansour in der FAZ. Und in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz brennt die Luft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.10.2020 finden Sie hier

Politik

Die Präsidentschaftswahlen in den USA in der nächsten Woche sind keine normalen Wahlen, versichert der Historiker Timothy Snyder im Interview mit der SZ: "Es geht um einen Regimewechsel und nicht nur um einen normalen Wahlkampf zwischen zwei Kandidaten", sagt er und ist sich ganz sicher, dass Trump nicht kampflos abtreten wird. "Trump wird die Wahl verlieren, und es wird nichts klar sein am 3. November. Er hat für viel Chaos gesorgt, auch bei der Post, und das Wahlsystem gilt als diskreditiert. Er wird vorgeben, dass es eine Notsituation ist - auch wenn es das nicht ist. In seiner aggressiven Art wird er dann seine Anhänger zu gewalttätigen Aktionen anstacheln. Dann wird er den Obersten Gerichtshof aufrufen, den Auszählungsprozess zu stoppen. Basierend auf der Logik, dass es diese gewalttätigen Ausschreitungen gibt."

Überall in Westafrika protestiert die Jugend gegen ihre greisen Herrscher, ob in Nigeria, Mali oder der Elfenbeinküste. Dominic Johnson vergleicht die Proteste in der taz mit dem arabischen Frühling - und sie haben ebenfalls mit Demografie zu tun: "Die Unruhe auf den Straßen von Lagos und Bamako, von Abidjan und Conakry ist ein Wetterleuchten vor einer strukturell unruhigen Zeit, die sehr gefährlich werden könnte. Westafrika ist die jüngste Region der Welt, das Durchschnittsalter seiner 400 Millionen Einwohner liegt bei 18 Jahren. Jedes Jahr kommen zehn Millionen dazu - zehnmal mehr als in der EU, das jetzt nur noch wenig Jahre vorne liegen wird, mit 440 Millionen. Das Bruttoinlandsprodukt aller Länder Westafrikas zusammengenommen ist allerdings kleiner als das der Schweiz."

Auch in Thailand gehen seit Wochen vor allem junge Menschen auf die Straße, ebenso nach wie vor in Hongkong und in Taiwan. Inzwischen bilden sie sogar Allianzen, berichten Rebecca Ratcliffe, Emma Graham-Harrison und James Chater im Guardian: "Hongkong hat nicht nur in Bangkok für Inspiration gesorgt. In den letzten Monaten hat sich eine unerwartete Solidarität zwischen jungen Demonstranten und Aktivisten in ganz Thailand, Taiwan und Hongkong entwickelt, zunächst online, aber nun zunehmend auch in Protesten auf den Straßen, in Gerichtshöfen und auf den Korridoren der Macht. Ihre Kämpfe sind ernst zu nehmen, gegen Regierungen mit einer rücksichtslosen Erfolgsbilanz bei der Niederschlagung von Dissens. Aber das Symbol der informellen Koalition Ostasiens ist spielerisch, ein einfaches Getränk, das an allen drei Orten genossen wird und die Protestierenden dazu veranlasst, ihre unwahrscheinliche grenzüberschreitende Unterstützung als 'Milk Tea Alliance' zu bezeichnen."

Die Ultraorthodoxen konnten einen partiellen Lockdown in Israel verhindern, berichtet Richard C. Schneider bei libmod.de. Netanjahu hängt von den Ultraothoxen politisch ab und lässt ihnen alles durchgehen. "Diejenigen Israelis, die aber brav zuhause ausharrten, fühlten sich verraten und verkauft. Denn die Ultraorthodoxen, die gerade mal 11 Prozent der Bevölkerung stellen, machen 40 Prozent der Corona-Kranken aus. Und auch während des generellen Lockdowns waren ihnen die Anordnungen ziemlich egal. Der große Bibi, wie Israelis ihren Premier nennen, war machtlos, drückte alle Augen zu. Und bekam nun noch die Ohrfeige mit der Wiederöffnung der Cheders und Jeshivot, der Religionsschulen. Was sich hier endgültig herauskristallisiert: Israel ist nicht nur ein gespaltenes Land, es besteht eigentlich aus zwei Staaten."

Kirchengemeinden waren in den USA mal recht demokratisch verfasst, heute ähneln sie eher großen Unternehmen (die überdies steuerbefreit sind) und neigen zu Autoritarismus, also auch zu Trump, sagt der amerikanische Soziologe Philip Gorski im Gespräch mit  Kristian Teetz bei rnd.de: "Heutzutage sind die Kirchengemeinden wesentlich größer geworden. Manche stehen unabhängig von irgendwelchen Strukturen, das sind die sogenannten Freikirchen. Die drehen sich jeweils um einen wahren Starpastor, der gleichzeitig auch Großunternehmer ist. Ein Pastor, der nicht nur seine Schafe pflegt, sondern auch im Fernsehen auftritt oder Immobilien verwaltet. Diese Pastoren gleichen mehr einem CEO als einem Seelsorger."
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Medien

Die Autoren Ingo Dachwitz und Alexander Fanta haben für die Otto-Brenner-Stiftung eine Studie über den "Medienmäzen Google" erarbeitet (hier kostenlos zu lesen), die belegt, wie großzügig Google prominente Medien, auch in Deutschand, mit Geld versorgt, natürlich ohne jeden Hintergedanken (es wirs interessant sein zu sehen, wie intensiv diese Medien über diese Studie berichten werden): Zu diesen Medien gehört laut  Ulrike Simon bei Horizont "allen voran der Spiegel mit 689.000 Euro allein  für das Projekt 'Read the Game', das nach eigener Beschreibung mit Datenanalyse und Künstlicher Intelligenz Fußballberichterstattung verbessern soll. Hinzu kommen 850.000 Euro für die Entwicklung einer Voice-Infrastruktur, um die Produktion, Publikation und Monetarisierung von Audioinhalten zu erleichtern. Dahinter folgen die Wirtschaftswoche mit 650.000 Euro (allein für die Entwicklung eines Virtual-Reality-Clubs für Abonnenten) sowie ihr ebenfalls bei DvH Medien erscheinender Schwestertitel Tagesspiegel mit 550.000 Euro für seine Stadtteil-Newsletter 'Leute'. Jeweils eine halbe Million Euro erhielten das gemeinnützige Recherchenetzwerk Correctiv, die FAZ sowie die Funke Mediengruppe."
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Ideen

Corona ist real, Klimawandel ist real, Digitalisierung ist real. Nur die Menschen tun sich schwer damit, diese Realität zu akzeptieren und entsprechend zu handeln, meint Manuel Scheidegger, Gründer von Argumented Reality, auf Zeit online, was auch damit zu tun hat, dass sie darauf programmiert sind, linear zu denken: "Eine Linie beginnt an einem Nullpunkt. Aber kein Individuum startet aus dem leeren Raum. Menschliche Kultur, ihre Inhalte und deren Weiterentwicklung sind zirkulär. Wir stehen mitten im gemeinsamen Leben, sobald wir auf die Welt kommen. ... Gegen den Individualismus gilt es darum, den Dividualismus oder Relationalismus zu verteidigen: die Anerkennung der fundamentalen Bedeutung des Kollektivs, des Netzwerks, des organischen Systems als Vorbedingung jeder Vereinzelung. Ihre praktische Entsprechung findet diese Anerkennung in alten Ideen wie dem Steuersystem, dem Solidarprinzip, freiem Zugang zu Bildung und Wissen, ihren modernen Weiterentwicklungen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen und der Commons-Bewegung oder eben den Ideen von Zirkularität und Nachhaltigkeit."

"Individualismus ist nicht die Lösung gesellschaftlicher Übel, sondern zunehmend das Problem", meint auch der Unternehmer Simon M. Ingold in der NZZ. "Tatsache ist, dass der heute praktizierte Individualismus seine Identität und Existenzgrundlage nicht aus einer inneren Überzeugung gewinnt. Er definiert sich vielmehr via Konfrontation und Ablehnung. Eine Ablehnung, die sich gegen jeden und alles richten kann, besonders oft aber auf den Staat und seine Organe abzielt. Der Obrigkeitshass militanter Selbstbestimmungsfanatiker nimmt denn auch immer düsterere Züge an."

Ja, diese Pandemie ist anstrengend, seufzt Gustav Seibt in der SZ mit Blick auf einen langen kontaktarmen Winter: "Ein Erdbeben wie das in Lissabon von 1755 mag innerhalb von Minuten Zehntausende töten und entsprechende Schockwellen in die ganze Welt senden, doch nach dem Schock beginnt auch sofort das Aufräumen, die Wiederherstellung. Plötzlichkeit und Schrecken können in Tatkraft umgewandelt werden. Jetzt dagegen leben ganze Gesellschaften in einem Marasmus von Sorge und Vorsicht, von immer neu angepassten Maßnahmen und Schutzvorkehrungen. Die Kurven steigen und fallen und steigen erneut. Wir müssen warten, Geduld haben und hoffen."

Außerdem: In der NZZ denkt der Literaturwissenschaftler Alois M. Haas über Mystik nach und die Erfahrung des Göttlichen in den großen Religionen.
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Kulturpolitik

"Es ist was faul in den Staatsmuseen", meint Christiane Peitz im Tagesspiegel, und das nicht erst seit den Anschlägen auf der Berliner Museumsinsel. "Dutzende beschädigte Kunstwerke, und kein Aufsichtspersonal hat etwas bemerkt? Ein Zeugenaufruf erst Wochen nach der Tat vom 3. Oktober? Keine Personalienerfassung bei an der Kasse erworbenen Tickets, wie in vielen Museen wegen Corona üblich? ... Nein, die Museen sind keine Opfer, sondern mächtige, eigenverantwortliche Institutionen. Schon der Münzenklau durch ein nicht gesichertes Fenster des Bodemuseums 2017 war beschämend. Hermann Parzinger, der seinerseits mächtige Chef einer der weltweit bedeutendsten Kulturinstitutionen, stellt die Museen dennoch einmal mehr als Opfer hin. Genau wie bei der Reform." Das zieht nicht mehr, meint Peitz, die eine radikale Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz fordert.

Gegen den Genraldirektor der Mussen, Michael Eissenhauer, haben einige Museumsdirektoren mittlerweile Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht, berichtet Jörg Häntzschel in der SZ: "Eine solche Beschwerde kann jeder Bürger gegen einen Angehörigen des Öffentlichen Dienst einreichen. Doch dass die Beschwerde umgehend an die Presse weitergegeben wurde, zeigt, wie sehr in der Stiftung die Luft brennt."

Eine Gruppe hochmögender Autoren - nämlich der Historiker Herfried Münkler, Hans Walter Hütter vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und Peter Cachola Schmal vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main - ist von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier  beauftragt worden, den erinnerungspolitischen Rang der Frankfurter Paulskirche einzuschätzen, die heute noch den nüchternen Neubeginn des unmittelbaren Nachkriegszeit ausstrahlt. Aber die Professoren hätten's gern bunter: "Seit der Wiedereröffnung sind inzwischen mehr als siebzig Jahre vergangen, und was damals für die Besucher sinnfällig war, ist heute selbst zur Erinnerung geworden, die erst wieder präsent gemacht werden muss. Genau das leistet die Paulskirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht. Als Gedenkort hat sie weder ästhetische Evidenz noch besitzt sie eine Aura, die den Besucher in die zu erinnernde Vergangenheit mitnimmt. Erinnerungspolitisch ist das ein Desaster."

Das Humboldt Forum in Berlin hat noch nicht eröffnet, aber schon die Aufteilung der Stellflächen zeigt, dass es seinen Auftrag nicht mal im entferntesten gerecht werden wird, bedauert Arno Widmann in der FR. Auf gerade mal 1000 Quadratmetern von über 42.000 "beschäftigt sich das Humboldt-Labor 'mit der Wechselwirkung und Krise natürlicher und sozialer Systeme". Also mit dem, was der Kern eines jeden Humboldt-Projektes sein sollte. Das war die Chance. Sie wurde vertan. ... Das Humboldt-Forum konzentriert sich auf die 'Provinz des Menschen'. Das ist dumm. Die Globalisierung schließt Natur- und Menschheitsgeschichte zusammen. 1827 hatte Alexander von Humboldt in Berlin mit seinen Kosmosvorlesungen den Hörerinnen und Hörern die Augen dafür geöffnet. Hundert Jahre danach wird ein Humboldt-Forum gegründet, und die Museen, die sich mit nichts als den Menschen beschäftigen, kapern das Projekt. Wäre das Humboldt-Forum eines, das diesen Namen verdiente, es würde uns etwas sagen über die 'Stellung des Menschen' im Kosmos."
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Europa

Am Wochenende fanden in Belarus wieder große und kleine Demonstrationen gegen Lukaschenko statt. Dieser hatte eine Pro-Regime-Demo mit 250.000 Teilnehmern angesagt - und dann wieder abgesagt, angeblich aus Sicherheitsgründen, berichtet Bernhard Clasen in der taz. "Doch unabhängige Quellen bezweifeln, dass die Pro-Lukaschenko-Demonstration wirklich aus diesem Grund abgesagt wurde. Im Gegenteil, meint das Portal tut.by: Trotz massiven Drucks auf Arbeiter und Angestellte sei es Lukaschenkos Machtapparat offensichtlich nicht gelungen, auch nur annähernd so viele Leute wie angekündigt zu mobilisieren."

Vor Jahren hatten protestierende Frauen in Polen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts verhindert, nun wurde sie über das Verfassungsgericht doch noch durchgesetzt, und die Frauen können wegen Corona nicht protestieren. Gabriele Lesser kommentiert in der taz: "Nach den gewonnenen Schlachten hatten sich die Frauenorganisationen immer wieder beruhigen lassen, dabei ging es Wochen später von vorne los: Es sind einige katholisch-fundamentalistische Organisationen, die Polen gekapert haben. Sie sind eine Komplizenschaft mit der PiS eingegangen, die ständig neue Feinde erfindet, um dann die angebliche 'Verteidigung der polnischen Werte' oder der 'polnischen Souveränität', ihre höchst eigenen Interessen durchzukämpfen."

In der NZZ macht Meret Baumann noch einmal deutlich, warum auch schwer behinderte Föten nicht mehr abgetrieben werden dürfen: "Der Chef der Regierungspartei PiS und starke Mann Polens, Jaroslaw Kaczynski, hatte schon vor vier Jahren erklärt, worum es geht: Das Kind solle noch getauft werden, bevor es begraben wird. Was die Eltern wünschen, spielt keine Rolle. Das ist unmenschlich. Polnische Frauenrechtlerinnen sprechen gar von einer Form der Folter."

Die Probleme an deutschen Schulen sind nicht so groß wie in Frankreich, aber sie existieren durchaus, sagt Ahmad Mansour im Gespräch mit Heike Schmoll von der FAZ: "An vielen Schulen in Deutschland gibt es keinen Schwimmunterricht mehr, die Eltern finden Wege, ihre Töchter zu befreien. Über die Evolutionstheorie zu sprechen ist ebenso schwierig wie über Sexualpädagogik oder Religionskritik und viele andere Themen mehr. Viele Lehrer sind nicht ausreichend vorbereitet darauf oder haben Angst. Ich kenne einen Sozialarbeiter arabischer Herkunft in Bayern, der sich nicht zu sagen traut, dass er Christ ist. Auch homosexuelle Lehrer wagen nicht, darüber zu reden, weil damit ihre Autorität untergraben wäre."

Die französische Journalistin Agnès Poirier erklärt den Briten im Guardian, warum Lehrer in Frankreich so bedeutsame Personen sind: "Es gibt nur sehr wenige Länder, in denen die Figur des Geschichtslehrers symbolträchtiger und mächtiger ist als in Frankreich. Seit die Dritte Republik Anfang der 1880er Jahre das Bildungswesen aus den Händen der Kirche nahm und es kostenlos, verpflichtend und säkular machte, ist ihre friedliche Infanterie der Lehrer das Fundament der französischen Republik."
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