9punkt - Die Debattenrundschau

Das Recht auf Wahrheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2020. "Es ist völlig berechtigt, den westlichen Kolonialismus zu kritisieren, aber soll man darüber den osmanischen Imperialismus vergessen", fragt Pascal Bruckner in der FAZ. Alexander Fanta und Ingo Dachwitz stellen bei Netzpolitik ihre Studie über die äußerst großzügige Google-Finanzierung von Medienprojekten etwa der Zeit, des Spiegel oder der FAZ vor. Ebenfalls in Netzpolitik beschreibt Leonhard Dobusch den Kampf des Wissenschaftsverlags Elsevier gegen Open Access. In der Welt fordert Thomas Schmid ein Denkmal nur für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.10.2020 finden Sie hier

Europa

Nach dem Mord an dem Lehrer Samuel Paty hat Emmanuel Macron klargemacht, dass Frankreich die Idee der Meinungsfreiheit - inklusive der Mohammed-Karikaturen - nicht fallen lassen wird. Tayyip Erdogan verlangt seitdem, dass Macrons Geisteszustand überprüft wird und ruft zum Boykott französischer Waren auf. Er ist damit nicht allein, notiert Jannis Hagmann in der taz: "Es sind Einzelne, die Stimmung machen. Doch in den antifranzösischen Chor reihen sich gewichtige Stimmen ein wie die Al-Azhar-Universtität in Kairo, die nicht zum Boykott aufruft, aber von einer 'Kampage gegen den Islam' faselt; Groß-Imam Ahmed al-Tajib sieht eine 'systematische Kampagne' am Werk, und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit spricht von einem Angriff auf Muslime." Karim El-Gawhary berichtet im einzelnen über Reaktionen in muslimischen Ländern auf Macrons Äußerungen. Und Rudolf Balmer zeichnet die Diskussion in Frankreich nach.

Ziemlich scharf kritisiert Pascal Bruckner im Gespräch mit Thomas Thiel in der FAZ einerseits den Antirassismus in Europa, der die Gefahr des Islamismus herunterspiele, andererseits das Gebaren der Türkei: "Es ist .. völlig berechtigt, den westlichen Kolonialismus zu kritisieren, aber soll man darüber den osmanischen Imperialismus vergessen, der so viele Jahrhunderte das östliche Europa und den Mittelmeerraum besetzt hat und heute in Berg-Karabach den Genozid an Christen und Armeniern vollenden will, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts begangen wurde? Es handelt sich hier um ein expansives Imperium, das Europa für vergangene Verbrechen schuldig spricht und sich gleichzeitig weigert, seine eigenen anzuerkennen, das überall Dschihadisten bewaffnet und antreibt. Ich bedaure, dass Deutschland der Türkei so furchtsam gegenübertritt."

Murat Kayman, ehemals Koordinator der Landesverbände der türkischen Religionsanstalt Ditib, dann Mitbegründer der Alhambra Gesellschaft, geht auf Zeit online scharf mit den Islamverbänden in Deutschland ins Gericht, die nach dem Mord an Samuel Paty kaum reagiert hätten und wenn, dann nur in dem Sinne, das habe mit dem wahren Islam nichts zu tun. "In Freitagspredigten mag noch so häufig wiederholt werden, dass Islam Frieden bedeutet. Aber es gibt im religiösen Alltag der Muslime, in den Verbänden und Gemeinschaften bis ins unterste Glied strukturelle Probleme und jene, die vorgeben, uns Muslime zu vertreten und sich gerne als 'Großverbände' präsentieren, sind mit ihrer Verdrängungshaltung ein gewichtiger Teil dieser Probleme. Es geht um ein Vorleben, um Denk- und Handlungsmuster, die von den Dachverbänden bis in die Gemeinden hinein ein Klima der Abwertung und Hierarchisierung schaffen. Es herrschen Bedingungen, in denen sich der Einzelne mit seinem individuellen Verhalten stets einer kollektiven Akzeptanz unterordnet und sich einer widerspruchslosen Duldung und Befürwortung durch die religiöse Gemeinschaft vergewissert."

Angesichts des Terrors islamistischer Gruppen und Einzeltäter sollte man sich vielleicht nochmal die Grundlagen der Religionskritik in Erinnerung rufen, empfiehlt in der NZZ der Politikwissenschaftler Stephan Grigat: "Es geht heute darum, die bürgerlichen Freiheiten von Islamkritikern wie Ayaan Hirsi Ali zu verteidigen, die den Propheten einen perversen Tyrannen genannt hat, von Hip-Hoppern, die Jesus als Bastard titulieren, und von israelischen Pop-Linken, die verkünden, der Messias werde nicht kommen. Warum die beiden Letztgenannten (ähnlich wie lange Zeit Manfred Deix) mit Kritik, Empörung und schlimmstenfalls mit aberwitzigen strafrechtlichen Konsequenzen leben müssen, Ayaan Hirsi Ali aber mit Morddrohungen und Kurt Westergaard mit Mordversuchen konfrontiert war, lässt sich nur erklären, wenn in Zukunft versucht wird, die Unterschiede zwischen den Religionen und ihrer jeweiligen Funktion in den heutigen Gesellschaften zu benennen."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Corona lässt die Jungen mit ihrem Feier- und Sozialisationsbedürfnis plötzlich wieder Jugend sein. Jugend im Sinne einer Alterskohorte, die sich von den Älteren scharf unterscheidet. Jahrzehntelang war diese Grenze aufgeweicht worden, das ist vorbei, meint Jens Balzer auf Zeit online: "Wer vorher noch völlig selbstverständlich als silver raver in jugendlichen crowds auf dem Dancefloor im Club mitturnte, bleibt nun durchweg zu Hause und lässt die Jugend - nun wieder verstanden als biografisch klar definierte Alterskohorte - unter sich. Und schüttelt selbst befremdet den Kopf über die verantwortungslosen Gesellen und Gesellinnen, die sich ohne Maske und Abstand auf Schlauchboot-Raves oder bei illegalen Freizeittanzveranstaltungen vergnügen. In diesem kleinen Feld hat die Pandemie jedenfalls jetzt schon zu einer Retribalisierung geführt, zu einer Neuordnung der Verhältnisse zwischen den Alterskohorten; insofern ist diese Veränderung eben doch exemplarisch. Denn Ähnliches kann man abseits von den partikularen Problemen urbaner Partykulturen etwa auch beim alltäglichen familiären Umgang zwischen Erwachsenen und Jugendlichen beobachten. Wer seine Kinder beim Homeschooling während des ersten Lockdowns unterrichten oder auch nur beaufsichtigen musste, der oder die sah sich plötzlich wieder in der Rolle der elterlichen Autorität, die man doch längst überwunden geglaubt hatte, in Wahrheit aber bis dahin nur an den schulischen Lehrkörper delegierte."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

In der SZ versteigt sich Andrian Kreye zu der These, Donald Trump sei Punk: "Die Pop-Parallele zu Trumps Sprachmängeln, die er bei seinen Auftritten wie Powerakkorde einer Anti-Rhetorik einsetzt, ist der Stolz, mit dem Punk-Gitarristen die 'Three Chords and the Truth'-Haltung vertraten. Zu einer Zeit, in der Rockstar-Millionäre ihre Virtuosität mit Soli demonstrierten, die bis zu eine Viertelstunde dauerten, war die Rückkehr zu Songs mit drei Akkorden ein Akt des Klassenkampfes. Auch in der Ideengeschichte funktioniert die Parallele. Die Punks wendeten sich von den Utopien ihrer Vorgänger ab und formulierten ein Weltbild, das von Nihilismus und Zynismus geprägt war."

Im Interview mit René Scheu von der NZZ spricht der populäre Philosoph Markus Gabriel über einige Phänomene in der heutigen akademischen Linken, wie etwa die "Cancel Culture": "Für die Vertreter der Cancel-Culture gilt die Devise: Der Zweck heiligt die Mittel, alles ist erlaubt, wenn es dem Machtzuwachs dient, auch der größte Blödsinn. Das neue Feindbild sind gegenwärtig die weißen, heterosexuellen Männer, so abgedroschen das klingt. Und Politik, Medien und HR-Abteilungen reichen das neue Klischee längst ungefragt herum. Menschen nach Hautfarbe und Geschlecht einzuteilen und mit dem Finger auf sie zu zeigen, ist natürlich Rassismus und Sexismus. Wer weißen, heterosexuellen Männern das Recht auf Wahrheit prinzipiell abspricht, begeht genau denjenigen Fehler, den wir doch im Namen des moralischen Fortschritts überwinden sollen."

Außerdem: Der Guardian bringt eine stark gekürzte Fassung der Friedenspreisrede von Amartya Sen, auf Deutsch hatten wir sie bisher nicht gefunden, aber tatsächlich hat sie der Börsenverein auf seinen Seiten online gestellt. Und in der FR warnt der Philosoph Martin Hartmann, die Überlebensfähigkeit des Neoliberalismus zu unterschätzen.
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Kulturpolitik

In New Yorker Museen herrscht ein Gehaltsgefälle wie in europäischen Fußballclubs, berichtet Verena Harzer in der taz. Die Direktoren verdienen nicht selten eine Million Dollar oder mehr, die Angestellten kommen in New York mit 40.000 Dollar kaum über die Runden. Darum formiert sich etwa im New Museum eine Gewerkschaft. Das Museum kämpft mit allen Bandagen: "Die Leitung des New Museum wollte die Bildung einer Gewerkschaft an ihrem Haus nicht so einfach hinnehmen. Eine Agentur wurde engagiert, die darauf spezialisiert ist, Gewerkschaftsbildungen in Unternehmen abzuwehren. Auf ihrer Webseite wirbt sie mit der Vision einer 'gewerkschaftsfreien Zukunft'. Mitarbeiter des Museums berichten, dass einige von ihnen daraufhin überraschend zu 'Supervisoren' befördert wurden. Laut dem Arbeitsgesetz der USA, können sie dann nicht mehr Mitglied in einer Gewerkschaft werden. Alle Mitarbeiter sollen außerdem in persönlichen Gesprächen eindringlich gewarnt worden sein."

Der Staat kann in der Coronakrise nicht endlos alle fördern. Wo sparen? Bei der Kultur? Ist die lebensnotwendig? "Dass sich die Frage überhaupt stellt', meint Petra Kohse in der Berliner Zeitung, "hat damit zu tun, dass sich die noch zu Beginn der 2000er-Jahre kulturpolitisch immer wieder beschworenen 'Stadtgesellschaften' zunehmend in Nischengemeinschaften auflösen, die auf nebenan.de vitaler und vielfältiger in Erscheinung treten als auf der A-Premiere des Stadttheaters. Tatsächlich hat der digitalisierte, immer stärker absorbierende Alltag dazu geführt, dass der Anspruch auf Zugänglichkeit von Kultur gestiegen ist - und das Nicht-so-gut-Zugängliche womöglich entbehrlich erscheint. Wer Filme auch streamen kann, wird den Weg in die nächste Kreisstadt nicht mehr auf sich nehmen, um dort ins Kino zu gehen."
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Internet

Leonhard Dobusch berichtet auf Netzpolitik über den Kampf des Wissenschaftsverlags Elsevier, der wegen seiner exorbitanten Preise von vielen Unis und Bibliothken gemieden wird und sich anders als seine Konkurrenten keinem Open-Access-Arrangement fügen will, gegen sogenannte "Schattenbibliotheken" wie Sci-Hub, wo sich viele wissenschaftliche Artikel finden lassen. Der Gebrauch von Sci-Hub hat sich bei Forschern weitgehend durchgesetzt, so Dobusch: "Unter den Sci-Hub-Nutzenden plagt jedenfalls kaum jemand ein schlechtes Gewissen. In einer in Sciencemag veröffentlichten Umfrage bekannten knapp 90 Prozent von über 10.000 Befragten, dass sie es nicht falsch fänden, illegal kopierte Artikel herunterzuladen. Und: über ein Drittel nutzt Sci-Hub bisweilen auch dann, wenn Zugang über die Bibliothek vorhanden gewesen wäre. Die Piratebay für Forschung punktet nämlich auch unter Usability-Gesichtspunkten."

Oppositionelle in Hongkong und Weißrussland, aber auch Terroristen und Verschwörungstheoretiker nutzen zur Kommunikation gern die App Telegram. Jenni Thier erklärt in der NZZ, warum und erklärt dabei gleichzeitig, warum sich Segen und Fluch der sozialen Medien nicht trennen lässt: "Was Telegram als Messenger-Dienst attraktiv macht, sind neben den verschlüsselten Nachrichten die großen Gruppenchats und sogenannten Kanäle, die es etwa bei Whatsapp nicht gibt. Der zu Facebook gehörende Messenger limitiert seine Gruppenchats auf 256 Mitglieder - bei Telegram sind bis zu 200 000 erlaubt. Telegram-Kanäle, die ähnlich wie Blogs funktionieren, haben keine Beschränkung der Teilnehmerzahl. Einer oder mehrere Administratoren können dort Beiträge posten, die - anders als in Gruppenchats - nicht direkt kommentiert werden können. Und im Gegensatz zu anderen Plattformen wie Facebook oder Twitter löscht Telegram nur Inhalte wie Urheberrechtsverletzungen - nicht aber Meinungsäußerungen oder (vermeintliche) Falschnachrichten."
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Geschichte

Die deutschen Verbrechen an Polen sind in der hiesigen Öffentlichkeit immer noch zu wenig bekannt, unter anderem, weil sie bereits mit dem Hitler-Stalin-Pakt begannen und sich nicht einfach in die "Verbrechen in Osteuropa" einordnen lassen, findet Welt-Autor Thomas Schmid. Darum plädiert er vehement  für ein ausschließlich den polnischen Opfern - jüdischen wie nicht-jüdischen - gewidmetes Denkmal in Berlin: "Man hat dagegen eingewandt, das würde zur 'Nationalisierung' des Gedenkens führen und damit den universalistischen Impuls zerstören, der untrennbar zum Kampf um Menschenrechte, Menschenwürde und zur Achtung vor den Opfern gehört. Ein verfehlter Einwand. Man kann nicht ernsthaft hoffen, Polen, Russen, Ukrainer, Weißrussen, Balten, Tschechen usw. wären damit einverstanden, zu einem einzigen Kollektiv der 'Ost-Opfer' zusammengefasst zu werden."
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Medien

Alexander Fanta und Ingo Dachwitz haben für die Otto-Brenner-Stiftung eine Studie über die Beeinflussung von Medien durch Google veröffentlicht (unser Resümee und Link zur Studie): Google schenkt kooperationswilligen Medien wie der Zeit, dem Spiegel oder der FAZ über Programme wie die "Google News Initiative" oder das eine Milliarde Dollar schwere "Google News Showcase" Hunderte von Millionen Dollars. Einer der Schwerpunkte dieser Charme-Offensive, an die keine inhaltlichen Ansprüche geknüpft sind, ist Deutschland: "Für die Studie führten wir mehr als zwei Dutzend Gespräche mit Digitaljournalist:innen und Top-Manager:innen deutscher Nachrichtenmedien wie Der Spiegel, Zeit Online oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wie heikel die Kooperation ist, zeigt sich daran, das fast alle Gesprächspartner:innen auf Anonymität bestanden. 'Sie achten schon sehr genau darauf, was man über die Kooperation sagt', erklärte ein Geschäftsführer, sobald wir das Mikro abschalteten."

Netzpolitik-Gründer Markus Beckedahl kommentiert: "Die gute Nachricht ist, dass es keine Belege für Interventionen von Google in die direkte Berichterstattung gibt. Allerdings, und hier kommen wir zu der schlechten Nachricht, äußerten mehrere befragte Journalist:innen die Sorge, dass diese Förderungen zu 'Beißhemmungen' und 'Selbstzensur' führen könnten."

Zu den Verlagen die sich nicht von Google sponsorn lassen, gehört sicher Springer, der Hauptlobbyist für das Leistungsschutzrecht. In der Welt berichtet Christian Meier über die Studie. Er sieht sich bestätigt, "dass Google keineswegs als weitgehend uneigennütziger Mäzen des globalen Journalismus agiert, sondern als interessengeleiteter Konzern, der darauf aus ist, wichtige Leitmedien zu vereinnahmen".
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