9punkt - Die Debattenrundschau

Ideen von innen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2020. In der Welt beklagen Necla Kelek, Seyran Ates und andere die Indifferenz in Deutschland gegenüber dem islamistischen Terror. Die SZ erkennt das Kalkül in Erdogans Tiraden gegen Frankreich. In der FAZ offenbart DFG-Präsidentin Katja Becker die rationalen Irrationalitäten der Rassismus-Forschung. Die taz fragt, wem Künstliche Intelligenz überhaupt zugute kommt. Und Netzpolitik trauert um den institutionalisierten Geist der Revolte und Internetverächter Peter Grottian.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.10.2020 finden Sie hier

Europa

In einem öffentlichen Aufruf beklagen Necla Kelek, Seyran Ates, Susanne Schröter, Joachim Wagner und andere die Indifferenz in Deutschland gegenüber dem islamistischen Terror: "Auffällig ist regelmäßig das Schweigen der Politik, der Medien, der Kirchen und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Mit Recht wurden nach rechtsextremen Anschlägen Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen durchgeführt, Maßnahmen gefordert und an die Namen der Getöteten erinnert. Warum nicht auch bei islamistischen Anschlägen? Kennt jemand spontan auch nur einen Namen eines deutschen Opfers islamistischen Terrors? Als im Mai 2020 George Floyd in den USA bei seiner Verhaftung durch die Polizei getötet wurde, löste das in Deutschland nicht nur Massenproteste gegen Rassismus, sondern auch den Ruf nach analoger Überprüfung deutscher Verhältnisse aus. Wo waren die Demonstrationen nach der Ermordung von Samuel Paty, nach dem ersten Anschlag in Nizza oder dem Abschlachten des katholischen Geistlichen in einer Kirche in Frankreich? Jene, die gegen Rassismus auf die Straße gehen, bleiben bei islamistischer Gewalt stumm, weil es als anstößig empfunden wird, die Täter und ihre Motive klar zu benennen."

Der islamistische Terror legt es darauf an, Europas Gesellschaften zu spalten, erinnert Ronen Steinke nach dem Attentat von Nizza in der SZ, seine Drahtzieher lechzen geradezu nach antimuslimischen Reaktionen: "Je größer der Leidensdruck für Muslime in Europa, desto größer die Chance, dass sie den Hass auf die europäischen Länder übernehmen, so das Kalkül der Agitatoren in Syrien, im Irak. Und leider auch in der Türkei, wo Präsident Recep Tayyip Erdoğan die europäischen Muslime nicht nur vor einer 'Assimilierung' an ihre Umwelt warnt. Sondern angesichts des europäischen Diskurses über den Wert der Presse- und Kunstfreiheit gar von einer 'Lynchkampagne' gegen Muslime schwadroniert und zum Boykott französischer Waren aufruft. Das ist nicht blinder Furor. Das ist Taktik."

Ein bisschen verwirrend liest sich Jürg Altweggs Bericht in der FAZ über das französische Gesetz, das die "Apologie des Terrors" unter Strafe stellt. Klar wird allerdings, wie rigoros der Staat gegen die Rechtfertigung des Terrors im Internet vorgeht: "In Besançon kommentierte eine neunzehn Jahre alte Biologiestudentin auf Facebook den Aufruf zu einer Gedenkveranstaltung für Samuel Patiy: 'Die Enthauptung hat er nicht verdient, aber den Tod ja.' Sie muss für zwei Monate ins Gefängnis. Gemeldet wurde auch der Eintrag eines Zwanzigjährigen aus Toulouse. Er gab sich als fanatisierter Muslim aus - der er nicht ist - und verbreitete die Szene der Enthauptung. Er wollte die Öffentlichkeit schockieren. Zwölf Monate, zehn auf Bewährung, lautete das Urteil. Der junge Mann sitzt im Gefängnis. Vor das Jugendstrafgericht muss ein Schüler in Vesoul: 'Alle Ungläubigen soll das gleiche Schicksal ereilen wie Monsieur Paty', schrieb der Sechzehnjährige."

Weiteres: Im Guardian gibt Jonathan Freedland dem jetzt aus der Partei geworfenen, früheren Labour-Chef Jeremy Corbyn mit auf den Weg, dass er nicht nur der Partei geschadet hat, sondern dem ganzen Land, weil er es Boris Johnson in die Arme getrieben habe.
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Gesellschaft

Sophia Zessnik unterhält sich mit dem Londoner Streetworker und Buchautor JJ Bola über Männlichkeitsbilder. Dabei betont Bola, dass Männer natürlich Nutznießer patriarchaler Strukturen sind, aber eben nicht nur: "Solange es jemanden unter mir gibt, den ich dominieren kann und dem es schlechter geht als mir, fühle ich mich stark. Dabei übersehen wir, dass Männer öfter Opfer von Gewaltverbrechen werden, häufiger drogenabhängig sind und/oder von Obdachlosigkeit bedroht sind. Auch ist die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen. Statt also am patriarchalen System festzuhalten, sollten wir uns für eine geschlechtergerechtere Gesellschaft einsetzen."
Archiv: Gesellschaft

Internet

In der taz fordert Svenja Bergt einige grundsätzliche Überlegungen zum Einsatz Künstlicher Intelligenz, die gerade den Markt in so vielen Bereichen umzustülpen droht: Was wollen wir überhaupt von ihr? Was soll sie können? Wem soll sie dienen?  Wer überprüft das? "Es braucht Regulierung. Und zwar dringend, klar und europaweit einheitlich. Denn was passiert, wenn diese zu spät kommt, ist aktuell beispielsweise bei der Plattformökonomie sichtbar und dabei, wie Facebook, Amazon oder Google mit persönlichen Daten umgehen. Sinnvolle Regulierungsvorschläge gibt es eine ganze Reihe: von einem Algorithmen-TÜV bis hin zu öffentlich einsehbaren Registern, in denen die Bürger:innen nachschauen können, welche Unternehmen oder Behörden für welche Zwecke auf algorithmische Entscheidungsfindung setzen und welche Modelle dabei zum Einsatz kommen. so geschaffene Transparenz würde gleichzeitig das Wissen über KI in der Gesellschaft erweitern."
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Kulturpolitik

Zur Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Generaldirektor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Michael Eissenhauer, (Unser Resümee) möchte sich Hermann Parzinger im großen Tagesspiegel-Gespräch mit Christiane Peitz lieber nicht äußern. Und auch die Reform der Stiftung läuft bisher nur langsam an, Parzinger setzt erstmal auf "Ideen von innen": "Wir haben die interne Kommunikation deutlich verstärkt: Nach jeder Sitzung der Strategiekommission gibt es zeitnah eine Online-Konferenz mit den Personalräten. Außerdem wollen wir Formate entwickeln, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseren internen Reformprozess reflektieren und kommentieren können. Es gibt einen internen Newsletter, alle Mitarbeiter können über ein internes Postfach ihre Fragen stellen - der Reformprozess wird intensiv kommuniziert. Er kann nur gelingen, wenn er von allen getragen wird. Die Stiftung sind wir alle gemeinsam."
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Politik

Das FAZ-Feuilleton widmet sich in Gänze den nach unendlich langen vier Jahren anstehenden amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Amerikanische Autoren kommen dabei nicht zu Wort. Sandra Kegel empfiehlt zum Verständnis der gesellschaftlichen Spaltung vor allem zwei Bücher, Ben Lerners Roman "Die Topeka-Schule" und Torben Lütjens Studie "Amerika im Kalten Bürgerkrieg": "Wie eine moderne freiheitliche und individualisierte Gesellschaft das Gegenteil all dessen hervorbringen konnte, was zu erwarten wäre, nämlich Abschottung und Dogmatismus statt Toleranz und Pluralismus, das bezeichnet Lütjen als einen Prozess der 'paradoxen Individualisierung'. Dass also die amerikanischen Bürger ihre Autonomie und ihre nie dagewesene Freiheit vor allem dazu nutzten, um sich ideologisch homogene Lebenswelten aufzubauen. Das Ergebnis ist eine beängstigende Gegenwart, in der sich zwei politisch-kulturelle Lager gegenüberstehen, die sich fremder kaum sein könnten. 'Die Welt sehen sie mit völlig unterschiedlichen Augen.'"

Weiteres: Frauke Steffens stellt zudem klar, dass Donald Trump nicht von den Armen und Benachteiligten ins Amt gehoben wurde, sondern von den Wohlhabenden. Verena Lueken versammelt Impressionen und Erinnerungen aus den USA. Eine bewundernswert nüchterne Bilanz von vier Jahren Donald Trump gibt der Economist in seinem Leader und schließt: "Vier weitere Jahre eines historisch schlechten Präsidenten wie Donald Trump würde allen Schaden noch verschlimmern, den er bereits angerichtet hat. 2016 wussten die amerikanischen Wähler nicht, wen sie bekommen. Jetzt wissen sie es. Sie würden für Spaltung und Lüge stimmen."
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Ideen

Die Biochemikerin Katja Becker, die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und damit Herrin über die Vergabe riesiger Fördermittel, betont in einem Artikel für die Wissenschaftsseite der FAZ, den wir nachreichen, wie relevant schon jetzt die Forschung über Rassismus ist, die sie weiter intensivieren will. Dabei sei der Rasse-Begriff zwar einerseits obsolet, aber es würden - etwa aufgrund unterschiedlicher "genetischer Disposition" - weiterhin "Beschreibungen menschlicher Subgruppen erforderlich sein. Das betrifft natürlich auch gesellschaftliche Zusammenhänge. Die systematische Ungleichbehandlung einer bestimmten Gruppe kann beispielsweise überhaupt erst erkannt und behoben werden, wenn man diese Gruppe zuvor definiert. Anders gesagt: Wollen wir Gleichbehandlung und Gerechtigkeit sicherstellen, brauchen wir epistemische Kategorien, die differenzierte Urteile ermöglichen." Paradoxa des Antirassismus! Becker zieht auch Bilanz: "Die DFG hat allein von 2015 bis 2019 insgesamt 581 Projekte mit Bezügen zur Rassismus-Forschung mit einem Gesamtvolumen von 238 Millionen Euro gefördert."

Der Berliner Politikwissenschaftler Peter Grottian ist tot. Einen schönen Nachruf auf das Schlachtross der deutschen Protestbewegungen schreibt Markus Reuter, und das ausgerechnet auf Netzpolitk: "Das Digitale lag ihm nicht. Er schrieb bis zuletzt handschriftliche Briefe und wehrte sich in einem studentischen Projekt 2002 vehement gegen eine Internetpräsenz: 'Kein Mensch braucht eine Webseite'. Extinction Rebellion und Fridays for Future kritisierte er zuletzt dafür, dass sie acht Stunden am Tag in den sozialen Medien verbringen würden anstatt die Obrigkeit in die Knie zwingen. Für den Politologen Peter Grottian waren die reale Begegnung, das Schmieden von Bündnissen und die Aktion wichtig." In der taz schreibt Barbara Dribbusch.
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