9punkt - Die Debattenrundschau

Die Zellen des Patienten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2020. Gibt es einen "Krieg der Kulturen", und stachelt Frankreich ihn an, fragt die FAZ. Schon der Begriff ist falsch, schreibt Bernard-Henri Lévy in La Règle du Jeu, die eigentlichen Konflikte toben innerhalb der "Kulturen". Im Tabletmag attackiert Caroline Fourest die New York Times. Armenien hat im Krieg um Bergkarabach alles verloren, inklusive der Kulturstadt Schuschi, aber die Nachricht vom Frieden ist gut, findet die SZ.  Der große Sieger sind ein Kleptokrat aus Aserbaidschan, Erdogan und Putin, notiert die NZZ. Ebenfalls in der NZZ drängt der Historiker Volker Reinhardt auf die  Verantwortung der Zivilgesellschaft in der Coronakrise.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.11.2020 finden Sie hier

Europa

Es soll zwar künftig als Ergebnis der Islam-Konferenz ansatzweise eine deutsche Ausbildung für Imame geben (Bericht in der taz). Aber der von der Türkei gesteuerte Moscheeverband Ditib macht nicht mit. Der Religionskritiker Hamed Abdel-Samad erklärt in einem offenen Brief, den er auf Facebook veröffentlicht (nachzulesen auch hier), seinen Austritt aus der Islamkonferenz: "Der Staat biedert sich bei den Vertretern des politischen Islam in dieser Konferenz an und ignoriert alle Warnungen und Vorschläge der kritischen Stimmen. Bei der letzten öffentlichen Sitzung erklärte der Ditib-Chef, dass er Absolventen der Fakultäten für islamische Theologie der deutschen Universitäten nicht als Imame einstellen würde, weil diese die Ditib-Standards nicht erfüllen würden. Ich habe danach erwartet, dass die anwesenden Vertreter des Staates sich über diese Arroganz empören, doch dies ist nicht passiert. Stattdessen unterstützt der Staat nun, dass die Ditib und andere Vereine selbst ihre Imame ausbilden und zwar auf Kosten der Steuerzahler. Nein, ich mache nicht mehr mit. Denn die Ditib-Standards sind: Loyalität zu Erdogan und zum türkischen Nationalismus."

Seltsame Symmetrien konstruiert Christian Meier im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ zur Frage, ob ein "neuer Kulturkampf" zwischen dem "Islam" und dem "Westen" drohe. "Wenn etwa Macron gelobt, er wolle 'alle Unterschiede respektieren', zugleich aber in Frankreich Pläne verkündet werden, ein Buch mit religiösen Karikaturen an Schulen zu verteilen - dann fühlen viele Muslime sich eben nicht respektiert. Wenn auf der anderen Seite ein Politiker wie Pakistans Ministerpräsident Imran Khan dazu aufruft, den 'Kreislauf von Hass und Gewalt' zu beenden, die im eigenen Land geltende Todesstrafe für gegen den Islam gerichtete Blasphemie aber nicht antastet - dann steht das aus westlicher Sicht für die Doppelmoral, die in der islamischen Welt und auch bei vielen Muslimen im Westen in solchen Fragen herrscht"

Ein Buch mit Karikaturen gleich Todesstrafe auf Blasphemie? Bei dem Buch handelt es sich um ein Projekt der französischen Regionen, das sowohl mit politischen als auch religiösen Karikaturen und einordnenden Texten von Historikern "das Recht auf Karikatur in der politischen Geschichte unseres Landes" erklären sollen. Mehr bei francetvinfo.fr.

Nein, es gibt keinen Krieg der Kulturen, schreibt Bernard-Henri Lévy in La Règle du Jeu, sondern nur Konflikte innerhalb dieser "Kulturen" - Reformisten versus Fundamentalisten im Islam auf der einen Seite. "Und diesen anderen Krieg, wenn man schon an diesem Wort festhalten will, jenen Krieg, der außerhalb des Islams die Gesellschaft spaltet in jene, die bei jeder neuen terroristischen Attacke die Regeln des Rechts, die Asylgesetze und die grundsätzlichen Werte Europas über Bord werfen wollen, und jene, die dem Heroismus der philosophischen Vernunft treu bleiben, die der Kultur der Beschwichtigung und Beleidigungen nicht nachgeben, die aber weder in Rache noch in den Ausnahmezustand abgleiten."

Im Interview mit der Berliner Zeitung spricht sich die französische Autorin Cécile Wajsbrot zwar für eine Trennung von Staat und Kirche aus, aber die Religion ganz herauszuhalten, findet sie problematisch: "Die Laizität, wie sie jetzt verstanden ist, hat eine ungute Nebenwirkung: Es findet kein Gespräch über Religion statt. In den Schulen wird nichts über Religion gelehrt. Ich meine keine Bibelstunden, sondern einen Unterricht, der aufklärt über die Geschichte und Inhalte der Religionen. Die Praxis des Glaubens ist natürlich Privatsache, aber vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass die monotheistischen Religionen sich wie die Äste an einem Baum verhalten, also von einem gemeinsamen Stamm abgehen."

Auf einen kaum wahrgenommenen Streit in der EU macht Michael Martens in der FAZ aufmerksam. Bulgarien sträubt sich gegen Aufnahmen von Gesprächen mit Nordmazedonien mit der Perspektive der EU-Aufnahme: "Aufgeben will die Regierung in Sofia ihre Vetodrohung nur, wenn die Mazedonier bereit sind, ein in Bulgarien vorherrschendes historisches Narrativ zu übernehmen: Demnach sind die Mazedonier eine 'erfundene Nation' - ganz im Gegensatz zur bulgarischen, die man in Sofia offenbar für gottgegeben, vom Himmel gefallen oder per Osmose entstanden hält."
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Wissenschaft

Finn Mayer-Kuckuk profiliert in der taz das Unternehmerpaar Özlem Türeci und Ugur Sahin, die beide türkischer Herkunft und in Deutschland aufgewachsen sind. Mit ihrer Firma Biontech und dem Partner Pfizer haben sie nun den ersten aussichtsreichen Corona-Impfstoff an den Start gebracht. "Der Zweck der Firma ist die Anwendung von Boten-Ribonukleinsäure (mRNA) zur Therapie und Verbeugung zahlreicher Krankheiten. Medikamente von Biontech enthalten nicht den eigentlichen Wirkstoff, sondern seine Blaupause. Die Zellen des Patienten stellen die Zielsubstanz her. Türeci und ŞSahin hatten ursprünglich erwartet, dass die erste Praxisanwendung eine maßgeschneiderte Krebstherapie sein würde. Jetzt ist es die Corona-Impfung."
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Medien

Sehr scharf attackiert Caroline Fourest ("Generation beleidigt"), ehemalige Redakteurin von Charlie Hebdo, im Tabletmag die New York Times für deren seit Jahren verzerrte Berichterstattung über Charlie Hebdo und den Laizismus in Frankreich: Da die Times "Frankreich nur durch eine amerikanische Brille sehen konnte, machte sie sich während der Karikaturenkrise einer unglaublichen Gewalt gegen Charlie Hebdo schuldig und ging so weit, unsere Zitate zu manipulieren, um die Vorstellung von Charlie als 'islamfeindlichem' Magazin zu nähren - obwohl Charlie seit langem militant antirassistisch war. Ich mache die New York Times mitverantwortlich für die vergifteten Missverständnisse, die unser Leben an unseren Arbeitsplätzen und auf unseren Straßen in Gefahr bringen."
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Kulturpolitik

In der SZ greift Catrin Lorch den Vorschlag der Bielefelder Kunsthallendirektorin Christina Végh auf, Schulunterricht auch in den coronasicheren Museen oder Theatern abzuhalten. Lorch erinnert das an Franklin D. Roosevelts Programm der "Works Progress Administration" in den Dreißigern, als die USA Arbeitslosen, aber auch Künstlern offizielle Aufträge erteilte. "Allein die Vorstellung, Schulklassen würden monatelang in musealer Ruhe dem Mathematikunterricht folgen, Gesellschaftskunde vor Joseph Beuys erhalten und verteilt im Parkett eines - leicht abgedunkelten - Theatersaals über Geschichte diskutieren - was für ein unerhörter Gewinn. Die solidarische Geste der Kulturinstitutionen würde diesem historisch einzigartigen Moment gerecht werden. Und von der Politik einfordern, dass sie mit der gleichen Souveränität, Großzügigkeit und Kreativität regiert."
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Ideen

Schon der Begriff "Afrika" ist irgendwie ein koloniales Konzept, schreibt die Zürcher Historikerin Gesine Krüger bei geschichtedergegenwart.ch: "Niemand würde behaupten, dass mit afrikanischer Politik, afrikanischer Musik oder afrikanischer Geschichte stets über den gesamten Kontinent hinweg einheitliche Phänomene beschrieben werden. Und doch erscheint 'Afrika', bei allem Wissen um historische, kulturelle und regionale Differenz, auch als eine Einheit. In gewisser Weise gilt das auch für Europa / europäisch, doch mit Europa sind entweder positive abstrakte Begriffe wie 'europäische Werte' oder 'Aufklärung' verbunden, oder eine, mitunter folkloristisch aber ebenso positiv gedachte Vielfalt der Nationen und Kulturen - von Sizilien bis zum Nordkap. Afrika hingegen wird auf das vermeintlich Typische reduziert und Differenz problematisiert."

In Krisenzeiten wie der Pest oder auch jetzt Corona durfte sich der Staat nicht hilflos zeigen, sonst verlor er seine Legitimation, meint der Historiker Volker Reinhardt in der NZZ mit Blick auf die Pest. Darum musste er auf Krisen so hektisch und oft übergriffig reagieren. Und heute? Kann ein demokratischer Staat nicht auch mal zugeben, "dass er seine Ressourcen ausgeschöpft hat, vielleicht sogar zu weit, und dass es jetzt auf die Verantwortung der Zivilgesellschaft und die Vernunft des Individuums ankommt. Das wird schon jetzt von allen Seiten der Öffentlichkeit mantramässig gepredigt, kommt aber bei den Adressaten offensichtlich nicht an. Vielleicht würde das ehrliche Eingeständnis der obersten Funktionsträger und der diversen Expertengruppen, mit ihrem Handeln ihre Spielräume ausgereizt zu haben, die Akzeptanz der unabdingbaren Sicherheitsregeln fördern."

In der SZ wünscht sich Sara Maria Behbehani Debatten, die weniger von Arroganz geprägt sind - auch auf Seiten der Linken: "Menschen mit anderen Ansichten werden als Faschisten, Fremdenfeinde oder Spinner abgekanzelt. Gewiss, die gibt es. Doch nicht jeder, der Donald Trump gewählt hat, ist Rassist. Nicht jeder, der gegen Corona-Auflagen demonstriert, ist Verschwörungsideologe. Nicht jeder, der den Genderstern ablehnt, diskriminiert Intersexuelle. Wer Menschen pauschal als Rassisten, Sexisten, Verschwörer oder Nazis bezeichnet, im besten Fall als Idioten, treibt die Spaltung der Gesellschaft voran. Das Ausgrenzen durch solche Begriffe ist ein billiges Mittel, um der Auseinandersetzung mit Argumenten auszuweichen."

Weiteres: In der NZZ erzählt der Religionstheoretiker Hans Maier, wie der römische Soldat Martin zum populärsten Heiligen Europas wurde.
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Gesellschaft

Sexuelle Belästigung wird gar nicht immer als solche identifiziert. In ihrem dem Buch "Grauzonen gibt es nicht" hat Sara Hassan darum "Red Flags" entwickelt, also Kritierien, an denen man sexuelle Belästigung festmachen kann. Darüber spricht sie mit der taz-Autorin Carolina Schwarz: "Es wäre paternalistisch, jemandem einreden zu wollen, dass er oder sie gerade Belästigung erfährt. Doch wir müssen davon ausgehen, dass sexualisierte Momente in unserer Gesellschaft so normalisiert sind, dass viele bestimmte Handlungen gar nicht mehr problematisieren. Mit einer 'Das ist halt sein Humor'-Haltung reden sie sich ein, dass kein übergriffiges Verhalten stattgefunden hat."
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Stichwörter: Sexuelle Belästigung

Politik

Barbara Oertel ist in der taz zwar froh, dass "der wahnwitzige Krieg um Bergkarabach" durch den überraschenden, für die armenische Seite unvorteilhaften Friedensschluss ein Ende haben könnte. Aber "dass ausgerechnet Russlands Präsident Wladimir Putin das Übereinkommen als eine gerechte Grundlage bezeichnet, die im Interesse der beiden Kriegsparteien sei, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Schließlich hat sich der Kreml in den vergangenen Jahrzehnten nicht gerade als Friedensstifter hervorgetan und den Konflikt weiter am Köcheln gehalten - nicht zuletzt auch durch Waffenlieferungen an Aserbaidschan." Hier und hier die aktuellen Berichte der taz zum Stand in dem Konflikt.

Bergkarabach, das "Sehnsuchtsland der Armenier", ist nun zerstückelt, schreibt Alfred Hackensberger in der Welt: "Obendrein ist auch noch die legendäre Kulturstadt Schuschi mit ihren zahlreichen Kathedralen und Kirchen verloren. Es ist buchstäblich ein Stich in die armenische Seele, die bis heute unter dem Trauma des Völkermords durch die Türkei leidet." Auch SZ-Redakteur Thomas Avenarius konstatiert, dass Armenien alles verloren hat, aber die Nachricht vom Friedensschluss sei eine gute: Immerhin sind in dem Krieg in kurzer Zeit Tausende ums Leben gekommen. Nun können möglicherweise Hunderttausende von den Armeniern einst vertriebene Aseris zurückkehren. Und "so wie die Dinge nun liegen, entscheidet Putin weitgehend alleine, wie es weitergeht in Bergkarabach".

Eine ganz besonders gute Nachricht ist der Frieden für Aserbaidschan (und die verbündete Türkei), schreibt Philipp Eger in der NZZ: "Aserbaidschan generiert zwar als erdölfördernder Staat einen gewaltigen Reichtum - nicht zuletzt mit den Lieferungen an die Schweiz. Statt aber damit die eigene Volkswirtschaft und die Zivilgesellschaft zu entwickeln, versickert das Geld in den Taschen der Kleptokratie und wird in Waffen investiert, mit denen gegenwärtig Nagorni Karabach verwüstet wird. Wer in Aserbaidschan öffentlich Kritik übt, verschwindet im besten Fall hinter Gittern."

Haben die Demokraten in den USA nur deshalb so knapp gewonnen, weil sie nicht links genug waren? In der SZ kann Joachim Käppner vor solchen Diskussionen nur warnen: "Von einigen chancenlosen Außenseitern abgesehen war der anfangs überheblich verlachte alte Herr der einzige aus der vielköpfigen Bewerberschar der US-Demokraten, dem es überhaupt gelingen konnte, diese Wahl am alles entscheidenden Ort zu gewinnen: in der Mitte der Gesellschaft, bei den Angestellten, Stahlarbeitern, den sogenannten einfachen Leuten. Der demokratische Abgeordnete Brendan Boyle beschrieb das so: 'Unsere Partei ist nicht das, was Leute auf Twitter darüber denken. Sie ist im Herzen noch immer working class, ob weiß, afroamerikanisch oder Latino.'"

Und Daniele Dell'Agli beobachtet im Perlentaucher: "Joe Biden und Kamala Harris haben sich in ihren ersten, weltweit beachteten Reden große Mühe gegeben, mit einer Stimme zu sprechen, und doch hat Biden eine 'republikanische', Harris eine 'demokratische' Rede gehalten." Denn der eine sprach von "Opportunities", die andere von "Possibilities".
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