9punkt - Die Debattenrundschau

Zahl oder Kopf, ich gewinne immer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2020. In der taz beschreibt Selim Nassib, wie der Islamismus mit Hilfe der Linken Europa unfreier macht. Die SZ geht in der Berliner Gropiusstadt in den Glücksunterricht. In der Welt ruft Paul Auster dazu auf, die Hakenkreuze aus den Südstaaten zu entfernen. Im Perlentaucher beschreibt Marina Scharlaj, wie der Sexismus der belarussischen Politik die Frauen dort auf die Straße trieb. Die NZZ erblickt die moderne Swissness in großen Rechenzentren in Appenzell. Und in der FR diagnostiziert Olivia Mitscherlich-Schönherr Corona-Fatigue.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.11.2020 finden Sie hier

Europa

In der taz versucht der Schriftsteller und frühere Libération-Korrespondent Selim Nassib herauszufinden, wie es der reaktionäre Islamismus schafft, einen Keil zwischen Europa und seine Muslime zu treiben und den Kontinent immer unfreier zu machen: "Das führt dazu, dass ein Teil der abgehängten französischen Muslime anfällig für einen Diskurs ist, der den Islam verherrlicht, weil dieser angeblich die Unterdrückten verteidigt. Für deren Misere ist das aktuelle 'System' verantwortlich. In diesem Punkt ähneln sich der islamistische Diskurs und der der Linken in den 1960er und 70er Jahren. Und deshalb ist die französische Linke der alten Schule heute auch so angefixt bei diesem Diskurs. Es wirkt, als ob ihre einstige Solidarität mit der 'Sache der Unterdrückten' unter dem Vorwand, gegen Islamophobie zu kämpfen, sie drängt, es nicht so streng zu nehmen mit 'soften' Ausformungen des Islamismus."

Die Schauspielerin und Autorin Raquel Erdtmann sieht in der Welt Europa im Kampf gegen den Islamismus auf einem falschen Weg: "Von rechter Seite wird seit Jahren ein islamisches Unterwandern Europas beschrien. Es gibt zu Recht einen Aufschrei gegen solche spaltende, aufwieglerischen Positionen, die Muslime pauschal diffamiert, aber wo wurde jahrzehntelang in Deutschland und in Frankreich eine harte Grenze gegenüber fundamentalistischen Strukturen gezogen, denen sich die Mehrheit der muslimischen Zuwanderer in Europa zu entziehen sucht? Der Feminismus feiert sich selbst, hier wie in Frankreich, und schaut mehrheitlich achselzuckend über die Zwangslage muslimischer Frauen hinweg,  die hier in Unfreiheit gehalten werden, keine Chance haben, aus ihren patriarchalischen Familienstrukturen auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen."

Sonja Zekri besucht für die SZ eine Schule in der Gropiusstadt, in der die Lehrerin Burçak Sevilgen die Seele ihrer Schüler aus Syrien, Libyen, Albanien oder Nigeria zu erreichen versucht: "Der Glücksunterricht - in Berlin gehört er zum Fach Ethik - sei die 'schönste und traurigste' Stunde der Woche, hat ein Mädchen gesagt. Als Sevilgen vor zwei Jahren begann und die Schüler fragte, wie es ihnen geht, herrschte Ratlosigkeit. Seit wann ist das wichtig? Hier nun könnte es um die Prävention durch Glücksstunden gehen, um den Nutzen schulischer Angebote als Alternative zu Insta-Muftis. Aber ein bitterer Gedanke drängt sich vor. Diesen verschlossenen Kindern, deren einsame Überlebenskämpfe im Strom der großen Stadt so unbeachtet untergehen, eine Schweigeminute für den ermordeten französischen Lehrer Samuel Paty abzunötigen, einen Menschen, den sie nicht kannten, in einem Land, das sie nie besucht haben - das ist nicht nur unfair. Es hat etwas Gewaltsames. Und doch geht es in Berlin gerade darum, denn Lehrer, Schulleiter und Verbände haben Schlimmes berichtet."

Dass Boris Johnsons Strippenzieher Dominic Cummings Downing Street verlassen muss, ist ein gefundenes Fressen für Guardian-Kolumnistin Marina Hyde: "Cummings war ein großartiger Kampagnen-Mann, aber eine Katastrophe im Regierungsgeschäft, was schlimm ist angesichts der Tatsache, dass es ihm genau darauf ankam. Und dass er im Großen und Ganzen die Regierung war." Im Editorial zeigt der Guardian ernstere Verärgerung über Cummings: "Er geht und lässt Britannien mit dem Schaden zurück, den er angerichtet hat. Das Brexit-Referendum hat er gewonnen, indem er Lügen verbreitete und sich nicht darum scherte, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu zerstören. Er machte das Parlament verächtlich, schürte populistische Ressentiments gegen staatliche Institutionen und spielte mit der Verfassung Katz und Maus."

Die Edition Foto.Tapeta bringt demnächst einen Band zu Belarus heraus, der "das weibliche Gesicht der Revolution" thematisiert, in einem Land, das bisher eher für seinen Sexismus bekannt war. Der Perlentaucher druckt einen Essay der Kulturwissenschaftlerin Marina Scharlaj vorab: "Ironischerweise war es wohl gerade dieser unentwegt vorgebrachte Sexismus, der die Frauen in der Politik nicht ernst nahm, sie unterschätzte, aber sie letztlich bestärkte und zu einem mächtigen Gegner werden ließ. Die Frauen, die im Sommer 2020 unverhofft die politische Bühne und später die Straßen und Plätze von Belarus betraten, sind in mehrfacher Hinsicht symbolhaft."
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Politik

Die Welt hätte früher nach Armenien blicken müssen, notiert Christiane Schlötzer in der SZ, dann hätten Erdogan und Putin nicht die aserbadischanischen Truppen nach Karabach preschen lassen: "Für Armenien ist der Waffenstillstand bitter. Er bringt Premier Nikol Paschinjan in höchste Not. Eine samtene Revolution hat ihn erst 2018 ins Amt getragen. Die alte Machtclique war eng mit politischen Hardlinern aus Karabach verbunden. Sie spielte die nationale Karte, dahinter blühte die Korruption, die Paschinjan bekämpft. Er fördert die IT-Branche, und Frauen im konservativen Armenien. Das gefällt der jungen Generation. Mehr Unabhängigkeit von Moskau will er. Putin hätte wohl nichts gegen dessen Sturz."

Der Kieler Politikwissenschaftler Torben Lütjen ist sich gar nicht so sicher, ob die vielbeschworene Versöhnung der politischen Lager in den USA so erstrebenswert ist. Dort, weiß er, haben sich schon weite Teile der Linken von diesem " blasierten Zentristentraum" verabschiedet: "So werden innerhalb der amerikanischen Linken schon lange Strategien diskutiert, die natürlich nicht auf Versöhnung, sondern auf zukünftige Mehrheitsfähigkeit zielen: die Aufstockung der Anzahl der Richter am Supreme Court, die Ausrufung von Washington, D.C. und Puerto Rico als Bundesstaaten, um sowohl im Kongress als auch im Electoral College neue Mehrheitsverhältnisse zu schaffen, und einiges andere mehr. Das Buch von David Faris, 'It's time to fight dirty', zu Deutsch: 'Ab jetzt wird mit unsauberen Mitteln gekämpft' Untertitel: 'Wie Demokraten eine dauerhafte Mehrheit in der amerikanischen Politik erreichen können', erfreut sich unter linken Demokraten derzeit großer Beliebtheit."

Im Welt-Interview mit Thomas David wagt es Paul Auster noch nicht, sich über einen Wahlsieg von Joe Biden zu freuen. Der Schriftsteller sieht aber die große Aufgaben, vor denen der künftige Präsident steht: "Solang wir uns als Nation nicht zu dem Horror einer Institution bekennen, die Millionen von Menschen versklavt hat, dazu, dass wir das ganze Land auf dem Rücken der Sklaverei errichtet haben, solang wir für unsere Sünden keine Abbitte leisten, wird dieses Land niemals geeint werden. Wir täuschen uns selbst mit dem Mythos unserer eigenen Güte. Dem Mythos unserer Überlegenheit. Aber wenn ich die Kriegsflagge der Konföderierten sehe, die heute in einigen Bundesstaaten vor den Parlamenten weht, ist es für mich, als würde ich auf Hakenkreuze blicken."

Weiteres: Leider nicht online zu lesen ist ein Artikel des Wall Street Journals, demzufolge der ultralibertär-reaktionäre Milliardär Charles Koch es bedauert, so zur Polarsierung des Landes beigetragen zu haben. Er möchte jetzt Brücken. Die Verstörung auf Twitter ist immens. Am nächsten Dienstag erscheint Barack Obamas Autobiografie "A Promised Land", im Tagesspiegel schürt Gerrit Bartels Erwartungen. In der New York Times legt ihm Chimamanda Adichie mit einer epischen Besprechung den Teppich aus.
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Gesellschaft

Eine Corona-Fatigue konstatiert die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr in der FR, niemand stellt mehr sich oder sein gewohntes Leben in Frage, wie noch im ersten Lockdown: "Aus den aufregenden Augenblicken der Ausnahme im ersten wurde die Leere im zweiten Lockdown. Jetzt scheint uns die Gegenwart in ihrer Fraglichkeit nichts mehr zu sagen. Sie scheint sich vielmehr ins Diffuse, Unklare, in Sinnlosigkeit aufzulösen. Orientierung scheinen wir jetzt nur noch von den Lebensmustern erwarten dürfen, die wir vor all dem Spuk der letzten Monate ausgebildet haben... Die jetzige Leere speist sich aus der Missachtung unserer selbst. Da wir uns selbst und unser frühjährliches Aufgefordert-Werden zu grundlegenden Neuanfängen nicht ernst genommen haben, ist es jetzt kein Wunder, dass wir in Depression und Verzweiflung verfallen. Orientierung scheinen uns jetzt nur mehr die alten 'Normalitäten' zu bieten, die wir zumindest im Frühjahr guten Mutes meinten abschütteln zu wollen."
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Internet

Josef Joffe wütet in der NZZ gegen Facebook und Twitter, die sich als Soziale Netzwerke Freiheiten herausnehmen dürfen, wie sie keinem Verlag zustehen und sich dabei auch noch wohltätig gerieren: "Die Herren des Contents sind fein raus. Was wollt ihr? Ich decke doch bloß den Tisch; aufgetragen wird von anderen. Verklagt doch die Köche, wenn die Suppe euch den Magen umdreht. Und wenn ich die Brühe vorauseilend ins Klo kippe, kommt mir nicht mit sakrosankten Verfassungsrechten wie der Redefreiheit. Was 'anstößig ist, bestimme ich! Zahl oder Kopf, ich gewinne immer. Just diese Taktik benutzte beispielsweise Mark Zuckerberg. Erst hat er Holocaust-Leugnern im Namen der Meinungsfreiheit einen Stuhl freigeräumt, dann hat er sie aus dem Speisesaal geworfen. Nur Neidhammel würden nörgeln, dass die weit offene Kantine Teil des Geschäftsmodells sei. Denn je abstruser und niederträchtiger die Posts, desto grösser der Kitzel und zahlreicher die Klicks, die Werbeeinnahmen treiben."

Die moderne Swissness gibt sich versöhnlich, bemerkt NZZ-Kritikerin Sabine von Fischer in der Ausstellung "Wired Nation" in der Zürcher Semper-Sternwarte: In Gais in Appenzell versorgen die gigantischen Rechenzentren die lokalen Sennereien mit ihrer Abwärme: "Nichts wirkt bedrohlich auf diesen Bildern im Eingangsraum der Ausstellung 'Wired Nation' in der Sternwarte im Zürcher Hochschulquartier. Die Schau hat sich vorgenommen, den materiellen Niederschlag der Datenströme zu dokumentieren: gekühlte Kellerräume, Kabel, Kontrolle. Nur die Geräusche eines Festplattenschredders in einer Videodokumentation sind hier unheimlich: Beim Zermalmen der Datenspeicher quietschen, kratzen und knirschen die Anlagen der Firma Reisswolf AG."
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