9punkt - Die Debattenrundschau

Bedenkliche Diskurs-Koalition

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2020. Die ungarische Regierung will einen europäischen Rechtsstaatsmechanismus boykottieren. Macht nichts, meint die SZ: lange können die sich das nicht leisten. Der Tagesspiegel skizziert den Klassengegensatz von Fest und Frei in der deutschen Klassikmusikszene: Sollten die Festen die Freien nicht unterstützen? Im Guardian erklärt Kwame Anthony Appiah, warum die Formel von der "gelebten Erfahrung", auf die sich Politiker in den USA gern berufen, um ihre Authentizität zu unterstreichen, nichts aussagt. Der Spectator ist traurig, weil die Kolumnistin Suzanne Moore den Guardian verlässt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.11.2020 finden Sie hier

Europa

Die EU hat sich endlich zu einem Rechtsstaatsmechanismus aufgerafft: Wer etwa Richter unter Druck setzt und sich selbst über das Gesetz stellt, dem sollen künftig die EU-Fördermittel gekürzt werden können, darauf haben sich die EU-Botschafter geeinigt. Polen und Ungarn wollen aus Protest den EU-Etat und den Corona-Hilfstopf blockieren. Macht nichts, meint Björn Finke in der SZ. Lange können sie sich das nicht leisten. "Sich den beiden Erpressern zu beugen, um Verzögerungen beim Etat zu vermeiden, ist keine Option. Denn damit würde sich die EU vom Anspruch verabschieden, eine Wertegemeinschaft zu sein. Zugleich wäre es eine Zumutung für die Steuerzahler jener Staaten, aus denen die meisten Fördermilliarden stammen, zum Beispiel Deutschland oder die Niederlande. Es ist gut, dass reiche Staaten ärmere unterstützen - aber es muss verhindert werden, dass autoritäre Regierungen das Geld nutzen, um ihre Macht zu zementieren und Oligarchenfreunde zu päppeln."

In der Welt warnt dagegen Lucia Puttrich, Hessens Europaministerin und Mitglied im Bundesvorstand der CDU, vor einer "Strategie der politischen Brechstange", obwohl der europäische Verbund der konservativen Parteien den Orbans und Kaczyńskis auf einvernehmliche Weise bislang nicht die geringsten Grenzen setzen konnte: "Viktor Orbán liegt mit seiner vehementen Ablehnung des Rechtsstaatsmechanismus vielleicht falsch. Er erinnert mit seinem Verhalten aber auch daran, dass die EU gerade nicht die Europäischen Staaten von Europa ist, sondern ein Zusammenschluss souveräner Staaten. Eine Souveränität, die gerade in den Staaten Osteuropas nach jahrzehntelanger sowjetrussischer Dominanz leidenschaftlicher empfunden wird als in manch einem Gründungsmitglied der EU."

Die PKK ist in Deutschland verboten, die Grauen Wölfe sind es nicht, anders als in Frankreich. Im Gespräch mit Sabine am Orde erklärt der Grüne Cem Özdemir, warum er das ändern will: "Es gibt mehrere Dachverbände mit Hunderten lokalen Organisationen. Manche Quellen gehen von mindestens 18.500 Mitgliedern allein der größten drei Dachverbände aus, damit wären die Grauen Wölfe die stärkste rechtsextreme Organisation hierzulande. Auch in Deutschland kämpfen sie für die Idee des Panturkismus, also eines Reiches der Turkvölker vom westlichen China bis zum Balkan. Und dabei stören die anderen. Was stören bedeutet, konnte man 1915 am Schicksal der Armenier sehen."
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Ideen

Kwame Anthony Appiah greift im Guardian eine sprachlich klischeehafte Formulierung auf, die bei Politikern in den USA in Mode ist und tief blicken lässt, die Formel von der "gelebten Erfahrung", die unter anderem Kamala Harris (aber auch viele andere Politiker) im amerikanischen Wahlkampf benutzten, um ihre persönliche Authentizität und ihre Zugehörigkeit zu ihren Communities zu unterstreichen. Aber die "gelebte Erfahrung" ist nicht repräsentativ, sondern individuell, wie sich gerade bei Harris belegen lasse, die zwar schwarz sei, aber aus der gehobenen Mittelschicht stamme: "Der Punkt ist dabei nicht, dass Mittelschicht ausschließt, dass du eine 'authentische' schwarze Person bist. Er liegt darin, dass ihre Erfahrung eine besondere ist. Leute, die als Staatsanwälte dienten, wird man links, in der Mitte und rechts finden. Kinder indischer Immigranten mögen für Trump gestimmt haben. Es gibt keine schwarze Erfahrung, die von allen Schwarzen geteilt wird, oder eine Erfahrung indischer Migranten, die von allen Kindern dieser Migranten geteilt wird, oder auch nur eine geteilte Erfahrung aller Staatsanwälte."
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Medien

Vor fünf Jahren gründeten sich die Krautreporter als erstes deutsches von Lesern finanziertes Medium ganz ohne Werbung. Seitdem feiert das Online-Magazin mit weit über 10.000 Unterstützerinnen beträchtliche Erfolge - aber nicht ganz genug, wie der Geschäftsführer Leon Fryzer in einem bemerkenswert offenen Artikel schreibt: "2016, 2017, 2018, 2019 machte Krautreporter insgesamt mehr als 93.000 Euro Verlust. In jedem dieser Jahre verdienten wir mit Journalismus nicht genug, weil wir zu wenige Mitglieder hatten. Unsere Strategie: Durch Rücklagen aus dem Crowdfunding, dem Geld von unabhängigen Stiftungen, Sparmaßnahmen und Dank des Kredites unserer Genoss:innen überleben und Jahr für Jahr einem wirklich ausgeglichenen Budget entgegenwachsen." Das Ziel sind nun 15.000 Mitglieder.

Die bekannte Guardian-Kolumnistin Suzanne Moore hat die Zeitung verlassen (hier ihr Kündigungs-Tweet). Alex Massie bringt ihre Kündigung im Spectator in Zusammenhang mt einer Debatte im März, als Moore einige klassisch feministische Positionen gegenüber der Trans-Bewegung verfochten hatte. Daraufhin hatten über 300 Mitarbeiter des Guardian einen empörten offenen Brief an die Chefredaktion gesandt. Massie über das verschärfte Debattenklima unserer Tage: "'Ich lese etwas in einer Zeitung, mit dem ich nicht einverstanden bin' scheint heute als eine Art Anschlag auf die eigene Person wahrgenommen zu werden, statt als etwas, das man eigentlich erwarten sollte - und das erfreulich ist. Aber wenn das Persönliche politisch ist, und wenn Identität die Basis für Politik ist, dann ist es wenig überraschend, wenn eine bloße Meinungsverschiedenheit - oder vielleicht nur ein falscher Akzent - zu einem feindlichen Akt wird."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel skizziert Frederik Hanssen die Zwei-Klassen-Gesellschaft in Deutschland, die sich in Festangestellte und Freie aufteilt, am Beispiel von Musikern im Klassikbereich und stellt fest: "Mit wenig Fördergeld ließe sich im Bereich der Freien viel bewegen - doch die Sache hat einen Haken: Damit würde offiziell anerkannt, dass es ein Zwei-Klassen-System in der Klassik gibt. Auf der einen Seite die durchsubventionierten Staatsbetriebe, auf der anderen die auf eigenes Risiko wirtschaftenden Orchester. Erstere kosten viel Geld, weil die Mitglieder ordentlich nach Tarifvertrag bezahlt werden. Letztere sind für einen Bruchteil der Kosten zu haben, basieren aber auf dem Prinzip der Selbstausbeutung. Die Politik muss sich mit der Frage beschäftigen, ob die wünschenswerte, verbesserte Absicherung der freiberuflichen Klassik-Profis durch Kürzungen bei den festangestellten Musikerinnen und Musiker querfinanziert werden soll. Denn mehr Geld in den Kulturetats des Bundes, der Städte und Gemeinden wird es in den kommenden Jahren kaum geben."

Andrian Kreye unterhält sich für die SZ mit Elizabeth Alexander, Leiterin der Andrew W. Mellon Foundation, der größten Kulturstiftung der USA, über amerikanische Erinnerungspolitik. Mit ihrem Monuments Project (das im Artikel leider nicht erklärt wird) versucht Alexander gerade, Denkmäler für den Südstaatengeneral Lee zu identifizieren: 53 sind es bisher. "Und es gibt Schulen, die nach ihm benannt wurden. Die meisten in Vierteln, in denen vor allem afroamerikanische Kinder leben. Was für eine Botschaft gibt man solchen Kindern mit, wenn man die Schule nach einem Mann benennt, der fand, dass sie Untermenschen sind? Viele dieser Konföderierten-Denkmäler wurden lange nach dem Bürgerkrieg errichtet, sie zementierten eine Ideologie weißer Überlegenheit, nachdem der Krieg für die Sklaverei verloren war."
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Wissenschaft

Wie beim Fall Guttenberg war es bei der Doktorarbeit von Franziska Giffey die "Vroniplag"-Community, die die Plagiate in Giffeys Doktorarbeit dingfest machte, schreibt Constanze Kurz bei Netzpolitik. Giffey hat nun verkündet, auf ihren Doktortitel verzichten zu wollen und dafür viel Schulterklopfen von der SPD bekommen, aber Kurz macht da nicht mit: "Dass sie ihr Amt mit so etwas wie Einsicht aufgibt, ist nicht mehr zu erwarten. Leider scheint damit der Fall zu Guttenberg doch das geworden zu sein, was viele im Jahr 2011 nicht wahrhaben wollten: ein negativer Präzedenzfall. Auch wenn sein 'Monsterplagiat' voller kopierter Textstellen aus Zeitungen und Büchern am Ende zu seinem Rücktritt führte, so hat doch die Diskussion darum die absichtliche Täuschung bei Doktorarbeiten stark bagatellisiert. So stark, dass sich eine Ministerin bisher im Amt halten kann, obwohl ihr die 'objektive Täuschung' unzweifelhaft nachgewiesen wurde."
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Gesellschaft

Hätte ein Rechtsextremer in Dresden einen Homosexuellen umgebracht (aber es war ein Islamist, mehr hier), hätte es in der Linken wohl Empörung gegeben, so entlockte der Mord den hiesigen Moralmonopolisten kaum eine Reaktion. Große Teile der Linken sind gegenüber Islamismus taub und fürchten, als "islamophob" zu gelten, sagt der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber im Gespräch mit Daniela Wakonigg von hpd.de: "Es gibt sehr wohl eine in der Gesellschaft kursierende hetzerische Muslimenfeindlichkeit. Es gibt aber auch eine menschenrechtliche Islamkritik. Beide Einstellungen setzen manche Linke mitunter objektiv gleich, womit eine aufklärerische Position diskreditiert wird. Das kann man übrigens ganz gut daran ablesen, dass Feministinnen als Rassistinnen gelten, wenn sie die Frauendiskriminierung in muslimischen Kontexten kritisieren. Auch Islamisten bedienen sich derartiger Vorwürfe. Hier gibt es also eine bedenkliche 'Diskurs-Koalition'."

Immerhin haben der SPD-Linke Kevin Kühnert (unser Resümee) und der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck das Defizit linker Parteien bei der Wahrnehmung von Islamismus inzwischen thematisiert, konstatiert Mona Jaeger im Leitartikel der FAZ: "Zunächst hatte der Mord an Samuel Paty auf ihrer Seite nämlich keine so eindrucksvollen Reaktionen hervorgerufen. Wieder einmal drängte sich der Eindruck auf, dass Herkunft und Hintergrund des Täters darüber entscheiden, wie laut der Aufschrei nach einer Tat ist."
Archiv: Gesellschaft

Überwachung

Die EU will Verschlüsselung von Messengern zumindest durch Hintertüren aufbrechen, und überhaupt will sie das Netz besser kontrollieren, berichtet Stefan Krempl unter Bezug auf einie EU-PolitikerInnen bei heise.de: "Für eine Radikalisierung dürfe das Internet nicht mehr genutzt werden. Es sei daher dringlich, die Verhandlungen über die umstrittene geplante Verordnung zum Löschen terroristischer Inhalte noch vor Weihnachten abzuschließen. Im Kampf gegen 'Hass-Gemeinschaften' im Netz müssten Facebook & Co. Inhalte unverzüglich herunternehmen. Entsprechende Löschanordnungen sollten die zuständigen Behörden grenzüberschreitend durchsetzen können."
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