9punkt - Die Debattenrundschau

Frauenrechte zum Beispiel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2020. Die SZ ermittelt weiter zu Rechtsextremismus in der Polizei. Die Anwältin Seda Basay-Yildiz, die von der Gruppe "NSU 2.0" bedroht worden war, wohnt inzwischen an einem unbekannten Ort, und diese gesperrte Adresse wurde von den Tätern neu aufgespürt. Falls die rechtsextremen "Grauen Wölfe" verboten werden sollten, könnte der "Zentralrat der Muslime" ein Problem bekommen, so die Ruhrbarone. In der Welt erklärt Caroline Fourest, warum die identitäre Linke in falschen Mustern denkt. In der taz erklärt die Sozialwissenschaftlerin Edit Schlaffer, wie Terrorprävention funktionieren müsste. Im Spiegel fragt Swetlana Alexijewitsch, warum die Welt angesichts der Gewalt des Lukaschenko-Regimes schweigt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.11.2020 finden Sie hier

Europa

Jahrelang ist die Anwältin Seda Basay-Yildiz von einer Gruppe "NSU 2.0" bedroht worden, und zwar sehr konkret, so dass sie an einen unbekannten Ort umziehen musste, schreibt Annette Ramelsberger in der SZ. Die Täter kommen ganz offensichtlich aus Polizeikreisen. Trotzdem gibt es keine richtigen Ermittlungen. "Und jetzt ist vor ihrer neuen Wohnung ein Mann aufgetaucht, der Fotos von dem Haus machte. Von allen Seiten. An einer Adresse, die gesperrt ist. Von der nur ein ganz kleiner Kreis weiß. Sie kann das nicht für Zufall halten. 'Ich bin jetzt zwei Jahre ruhig geblieben. Aber ich kann doch nicht Däumchen drehen und warten, bis uns jemand abknallt.'"

Swetlana Alexijewitsch hat sich wegen einer medizinischen Behandlung nach Berlin begeben, wo sie angesichts der Gewalt des Lukaschenko-Regimes im Moment bleiben möchte. Den Spiegel-Redakteuren Tobias Rapp und Volker Weidermann hat sie ihr erstes Interview gegeben. Sie habe sich in ihr Volk neu verliebt, sagt sie. Aber sie hat Sorge: "Ich habe das Gefühl, dass man im Westen nicht versteht, was in Belarus passiert. Was wir erleben, ist brutale Gewalt gegen Unschuldige. Gefängnisse, die überfüllt sind mit Leuten, deren einziges Verbrechen darin besteht, demonstriert zu haben. Die Menschen werden systematisch erniedrigt. Es gibt oft kein Wasser in den Toiletten; Zellen, die für fünf Menschen ausgelegt sind, werden mit 35 Menschen vollgepackt, die Häftlinge müssen im Stehen schlafen, tagelang, manchmal wochenlang. Das sind Geschichten, wie ich sie nur aus der Stalinzeit kannte. Es wird versucht, Menschen systematisch zu brechen. Ich habe in meinem Leben eine Menge schlimmer Dinge gesehen und bin trotzdem fassungslos über die Vorgänge in Belarus. Ein kleines stolzes Land kämpft gegen einen verrückt gewordenen Mörder, mitten in Europa! Und die Welt schweigt."

Der Bundestag berät über die Frage, ob die rechtsextremen "Grauen Wölfe", die einen aggressiven türkischen Nationalismus vertreten und zur Zeit mit Erdogan verbündet sind, verboten werden sollen. In Deutschland sind sie in "Kulturvereinen" organisiert, die offiziell der Verständigung gewidmet sind, schreibt Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. Einer davon ist die "ATIB - Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V." Ein Problem dabei: "Die ATIB ist Mitglied im 'Zentralrat der Muslime' und sie ist nicht irgendein Mitglied: Sie ist das größte Mitglied in dem Verband, dessen Vorsitzender Aiman Mazyek sich große Mühe gibt, den Zentralrat als Teil der demokratischen Zivilgesellschaft erscheinen zu lassen. Sollte nun die ATIB verboten werden, wäre das ein schwerer Schlag für  Mazyeks Verband. Nicht nur wegen des Images des Zentralrats. Politik und Medien tolerieren zwar religiös begründeten Rechtsradikalismus in einem hohen Maße, aber ein Verband, in dem eine vom Innenministerium verbotene Organisation Mitglied war, hätte schon ein Problem." Mehr zu den "Grauen Wölfen" bei hpd.de.
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Politik

Trumps Wähler als weiße Rassisten abzutun, ist eine bequeme Selbstbeweihräucherung der amerikanischen Linken, sagt Jonathan Franzen im Gespräch mit Wieland Freund in der Welt: "Trump spricht ökonomische Ängste an, den Unmut über die Eliten an den Küsten, die nachvollziehbare Angst vor Einwanderung und ein Misstrauen gegenüber der Regierung, und die Progressiven täten gut daran, all dem ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Trump-Wähler einfach als Rassisten abzutun ist politisch selbstzerstörerisch."
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Ideen

Christopher Clark, Autor der "Schlafwandler", einer Studie darüber, wie nach langem Frieden die Welt im Chaos des Ersten Weltkriegs versinken konnte, fühlt sich im Moment an genau jene Epochenschwelle versetzt: "Wir leben in einer Zeit, die stark an jene von 1914 erinnert", sagt er im Gespräch mit Michael Hesse von der FR. "Die Welt ist wieder multipolar. Neue Regionalmächte wie die Türkei und Iran treten auf, das östliche Mittelmeer ist zu meinem Erstaunen wieder ein Konfliktgebiet. Die Streitigkeiten um Libyen mit der Türkei im Westen des Landes und mit Ägypten und Russland im Osten, der Inselstreit zwischen der Türkei und Griechenland, bilden eigentlich das ab, was man früher die Orientfrage nannte. Heute gewinnt sie unerwarteterweise wieder an Bedeutung. Es ist wirklich eine starke Rückkehr der Muster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts."

Entgeistert legt Arno Widmann ebenfalls in der FR ein italienisches Bändchen mit den Corona-Kolumnen Giorgio Agambens zur Seite, die zeigen, dass auch einige Linke bei diesem Thema anfangen zu spinnen: "Agamben zählt zu den bedeutendsten lebenden Denkern. In den einschlägigen Rankinglisten besetzt er immer einen der vorderen Plätze. Aber manchmal scheint er das Denken aufgegeben zu haben zugunsten seines größten Widersachers, des Recht-behalten-Wollens."

Die Idee, den Islam zu reformieren, ist ziemlich gefährlich, findet der säkulare Autor Kacem El Ghazzali in der NZZ, denn sie führt nicht unbedingt dazu, den Islam zu säkularisieren, sondern die Politik zu spiritualisieren: "Das politische System wird so zur Geisel geistlicher Autoritäten, die jede Veränderung für illegitim halten, solange sie nicht religiös begründet werden kann. Frauenrechte zum Beispiel würden dann nicht als universelle und unteilbare Rechte betrachtet. Stattdessen würde man sich in hermeneutischen Diskursen verlieren, in denen immer wieder die fundamentalistische Auslegung triumphieren dürfte."

Eins der Probleme bei der auch in Europa immer stärker werdenden identitären Linken ist, dass sie amerikanische Muster übernimmt, sagt Caroline Fourest ("Generation Beleidigt") im Interview mit Ute Cohen in der Welt: "In Frankreich und Europa gibt es eine universalistische Linke, die sich mit Charlie Hebdo identifiziert, laizistisch denkt und die Freiheit der Meinungsäußerung hochhält. Es gibt aber auch eine identitäre, radikale Linke. Die imitiert amerikanische Fragestellungen und führt nur noch eine Debatte über Identitäten statt eine Debatte über Ideen. Das ist absurd, weil wir eine ganz andere Geschichte haben hier in Europa. In Amerika geht es um Segregation, hier um postkolonialen Rassismus und Genozide."

Die Sinologin und Journalistin Claudia Wirz nimmt in der NZZ "Abschied von China" - am Ende doch nicht so ganz, so leicht lässt sich Liebe nicht besiegen. Aber sie zeigt, dass die Volksrepublik China schon zu Beginn der Öffnung jedem, der mit ihr zu tun hat, einen Preis abverlangte, durch die Ein-China-Politik, "die sich zuallererst im Verhältnis zu Taiwan spiegelt. Taiwan kann so demokratisch und rechtsstaatlich sein, wie es will - wer mit der Volksrepublik diplomatische Beziehungen pflegt, darf die Insel nicht als souveränen Staat anerkennen. Das hat weitreichende Folgen über das Politische hinaus. Mit dieser Politik bestimmt die Partei über weite Strecken, was chinesisch ist und was folglich eine Einmischung in innere Angelegenheiten darstellt."
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Kulturpolitik

Komisch dass man aus Berlin noch nichts Entsprechendes gehört hat, aber in der Stadt München kommt die Krise in Gestalt von gravierenden Haushaltskürzungen auf die Politiker (und dann die Bürger) zu: 6,5 Prozent sollen alle Ressorts in München, also auch die Kultur sparen, und das womöglich über mehrere Jahre, berichtet Alex Rühkle in der SZ und gibt zu bedenken, "dass der Großteil des Budgets gebunden ist für den Apparat. Sparen kann man nur an der eigentlichen Kunstproduktion: weniger Premieren und Vorstellungen, schlechtere Gagen, kürzere Probenzeiten, kleineres Ensemble, kleinere Bühnenbildetats, weniger Vermittlungsarbeit, weniger preisreduzierte Karten, stärkere Kommerzorientierung, um höhere Kartenerlöse zu erzielen."
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Stichwörter: Coronakrise

Gesellschaft

Gegen die Terrorrekrutierer helfen langfristig weder Polizei noch Geheimdienste, schreibt die österreichische Sozialwissenschaftlerin Edit Schlaffer in der taz, die mit ihrer Organisation "Frauen ohne Grenzen" versucht, Netzwerke mit den Familien junger Terroristen aufzubauen und vor allem die Mütter zu sensibilisieren. Dafür, dass ein Junge Terrorist wird, sind oft familiäre Gründe ausschlaggebend, so Schlaffer: "Häusliche Gewalt ist bislang ein übersehener Faktor in diesem Szenarium. Machistische Herrschaftsstrukturen sind oft der letzte Kick, die Familie hinter sich zu lassen. Eine Mutter, die von ihrem Sohn erfahren wollte, warum er sein altes Leben, seine Freunde hinter sich gelassen hatte, nachdem er an der türkischen Grenze aufgegriffen worden war, bekam von ihm diese Antwort aus dem Gefängnis: 'Mama, ich habe erkannt, dass ich dich nicht retten kann. Papa hat dich so oft geschlagen, jetzt kann dir nur mehr Allah helfen. Ich gehe voraus.'"
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