9punkt - Die Debattenrundschau

Ein bisschen Kakophonie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2020. In France inter wundert sich Jean-Marc Four über das horizontale Machtgefüge in Deutschland, das die Coronakrise dennoch bewältigt, während Emmanuel Macron im französischen Fernsehen von oben herab die Schließung von Skistationen ansagt. PolitikerInnen (besonders, aber nicht nur grüne) wollen die Innenstädte grüner machen. Nein, ruft Claudius Seidl in der FAZ: Wir wollen Lärm, Chaos und Vereinzelung. Auch Europäer wurden versklavt, erinnert Beat Stauffer in der NZZ. In der FR warnt Wilhelm Heitmeyer vor den Zwiebelmustern des Rechtsextremismus. Und Klaus Heinrich ist gestorben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.11.2020 finden Sie hier

Europa

Viel retweetet wird ein Kommentar von Jean-Marc Four für France Inter, der über den Abgrund zwischen Emmanuel Macron und Angela Merkel in der Bekämpfung der Coronakrise staunt. Während Macron ab und zu im Fernsehen ansagt, was als nächstes ansteht (nein, die Ski-Stationen werden zu Weihnachten nicht geöffnet), trifft sich Merkel zu umständlichen Sitzungen mit 16 Länderchefs, die allerdings zur Konsequenz haben, dass die Krise hier besser gemanagt wird. "Das System ist horizontal", wundert sich Four. "Die Befugnisse und Verantwortung sind zwischen dem Zentralstaat und den Ländern geteilt. Ab und zu entsteht dadurch ein bisschen Kakophonie wie etwa in den letzten Monaten zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen. Aber das hat das Verdienst, dass man ein gemeinsames Terrain der Verständigung findet. In Frankreich steht der Kompromiss dagegen unter dem Verdacht von Kollaboration und Kompromittierung. Man bevorzugt die Streiterei. Also kein Kompromiss. Konsequenz: Es ist vertikal. Die Entscheidungen fallen vom Himmel."
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Ideen

Der Liberalismus, will er für die Massen attraktiv bleiben, "muss weg vom Egoismus und hin zu einem auf Persönlichkeitsentwicklung basierenden umfassenden Verständnis von Freiheit", fordert der Volkswirtschaftler Martin Kolmar in der NZZ und plädiert für einen Freiheitsbegriff , der sich Anleihen beim Buddhismus sucht. Dort nämlich gelte: "Unfrei ist man, weil man die Konstruiertheit der Wahrnehmung, die Strukturierung der Welt durch Sprache nicht erkennt und stattdessen blind lebt und handelt, als sei sie die Wirklichkeit. Daraus entsteht Leid. Erst ein so radikal gedachter Liberalismus offenbart das Potenzial dieser Weltsicht sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Das hinterfragte Leben schafft eine Freiheit, die so viel mehr ist als bloße Abwesenheit von äußerem Zwang. Sie schafft Spielräume für Kooperation, Solidarität und Mitgefühl, weil sie versteht, dass die Konflikte und Egoismen des Alltags Teil einer Illusion sind. Stellvertretend sei hier Aristoteles genannt, der in der Gerechtigkeit die erste Tugend sah, ohne die ein gutes Leben nicht möglich ist."

In einem ganzseitigen Interview mit der Welt sucht der Philosoph Lars Distelhorst nach Gründen für das schwindende Vertrauen in unserer Gesellschaft. Seiner Ansicht nach ist dafür hauptsächlich die Ökonomie verantwortlich, deren Denken sich heute über jeden gesellschaftlichen Bereich lege: "Ich denke, wir haben es gegenwärtig mit einer Leere zu tun, die daher rührt, dass sich unser Arbeiten und Leben von übergeordneten Sinnzusammenhängen entkoppelt hat. Es gibt keine Ideen mehr, für die wir kämpfen und sterben würden. ... Alain Ehrenberg hat einmal gesagt: Die Neurose kreist um Schuld, aber Depression ist anders. Sie bedarf keiner Übertretung einer Norm. Stattdessen schämen sich die Menschen, weil sie täglich an den gesellschaftlichen Idealvorstellungen scheitern, und fühlen sich deswegen innerlich leer. Eine Gesellschaft ohne Thema tendiert zur Müdigkeit, Stagnation, Kraftlosigkeit."

Klaus Heinrich ist gestorben, einer jener Peripatetiker und Philosophen ohne (oder mit wenig) Werk, die die Freie Universität Berlin so charakterisierten. Jürgen Kaube schreibt in der FAZ: "Seine Wirkung entfaltete er dabei zunächst ganz durch den mündlichen Vortrag und das Seminargespräch. Wer seine Vorlesungen besuchte, folgte einem an keine Schule und keine disziplinäre Grenze gebundenen Gedankengang, der die Aufmerksamkeit des Publikums mehr als nur durch sein immenses Wissen band." Weitere Nachrufe auf Heinrich von Harry Nutt in der Berliner Zeitung und Caroline Neubaur im Tagesspiegel.
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Geschichte

Dass auch Europäer Opfer von Sklaverei geworden sind, scheint kaum jemanden zu interessieren, wundert sich Beat Stauffer in der NZZ mit Blick auf die "Raubzüge von Piraten aus den sogenannten Barbareskenstaaten, den osmanischen Regentschaften Algier, Tunis und Tripolis und dem Sultanat Marokko, die laut dem amerikanischen Historiker Robert C. Davis zwischen 1530 und 1780 gut eine Million Europäer versklavt haben sollen. "Das Thema der Versklavung von Europäern im Mittelmeerraum darf keinesfalls dazu verwendet werden, die zahlenmäßig weitaus bedeutendere transatlantische Sklaverei in irgendeiner Weise zu relativieren. Sie in Erinnerung zu rufen, ergibt aber Sinn, um einer ideologischen und voreingenommenen Sicht auf dieses überaus komplexe Phänomen etwas entgegenzusetzen. So weist die Versklavung von hellhäutigen und christlichen Bewohnern des Mittelmeerraums darauf hin, dass die Sklaverei in der frühen Neuzeit nicht von Anfang an das Resultat eines tief verwurzelten europäischen Rassismus gegen Menschen schwarzer Hautfarbe gewesen ist" und auch "kein Alleinstellungsmerkmal des europäischen Imperialismus". Dafür spreche auch der bislang kaum erforschte innerafrikanische Sklavenhandel.
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Urheberrecht

Um die Umsetzung der europäischen Urheberrechtsreform in deutsches Recht gibt es weiter Streit. In einem offenen Brief wehren sich 576 Musiker und Ensembles gegen eine von der Bundesregierung geplante Liberalisierung, die es erlauben würde, kleine Ausschnitte von Werken zu zitieren (was Musiker ja eigentlich selber auch die ganze Zeit tun). Das Papier scheint nirgends online zu stehen, aber bei heise.de berichtet Stefan Krempl und zitiert die Musiker: "Statt eines harmonisierten europäischen Marktes für Lizenzen bekommen wir einen deutschen Selbstbedienungsladen, in dem unsere Werke an jeden verschenkt werden, der 'Pastiche' sagt."
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Gesellschaft

Heute ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. "Gewalt gegen Frauen beginnt nicht erst, wenn einer zuschlägt", schreibt Patricia Hecht in der taz. "Was ihr vorausgeht, ist in einer Gesellschaft angelegt, in der die Frage, wer Macht hat und wer nicht, entlang von Geschlechtergrenzen beantwortet werden kann. Obwohl oder gerade weil das jahrhundertelang gewachsen ist, konnten sich erst die Delegierten der Pekinger Weltfrauenkonferenz 1995 darauf einigen, Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung zu verfolgen. Erst 2000 wurde sexualisierte Kriegsgewalt durch die Vereinten Nationen geächtet. Erst 2004 gab es in Deutschland die erste repräsentative Studie zu Gewalterfahrungen von Frauen. Erst 2014 wurde die erste und bisher einzige europaweite Studie dazu veröffentlicht."

Die taz bringt ein kleines Dossier zum Thema. Patricia Hecht beleuchtet die Lage in den Frauenhäusern in Corona-Zeiten. Besonders häufig sind Frauen in Flüchtlinslagern sexueller Gewalt ausgesetzt, erklärt Elizabeth Ngari von "Women in Exile" im Interview mit Gareth Joswig. Rainer Wandler schreibt über "Spanien und 'die andere Pandemie'". Und Carolina Schwarz schreibt über die Hölle der Vergewaltigungsprozesse - die oft nichts bringen: "Dass Vergewaltiger für ihre Taten verurteilt werden, kommt nur in den seltensten Fällen vor. Der Kriminologe Christian Pfeiffer, der seit Jahrzehnten zu diesem Thema forscht, kam bei einer Untersuchung zu einem dramatischen Ergebnis: Von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt nur etwa eine Betroffene die Verurteilung des Täters." Emma veröffentlicht aus Anlass des Tages einen Aufruf einiger religionskritischer Autorinnen, die insistieren, dass auch Frauenverachtung im Islam zur Kenntnis genommen wird: "Wie die rechtsextremen Attentäter, die der Incel-Szene zugerechnet werden, zeigen auch islamistische Attentäter ausgeprägten Hass auf Frauen. Deshalb fordern wir die Finanzierung von Forschung, die den Zusammenhang zwischen dem Hass auf Frauen und Extremismus analysieren, sowie die Einrichtung von Lehrstühlen, die insbesondere Formen des islamischen Extremismus untersuchen..." In der SZ insistiert Meredith Haaf: "Veränderung findet bei jedem Einzelnen an."

Laut dem Globalen Terrorismus-Index nimmt die Zahl terroristischer Anschläge weltweit ab, mit einer Ausnahme: die Zahl rechtsextremistischer Taten steigt, meldet Zeit online. Im Interview mit der FR warnt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer vor "rechten Bedrohungsallianzen", die für die Gesellschaft noch gefährlicher seien als einzelne Gewaltakte von Rechten: "Man kann sich das als Zwiebelmuster vorstellen mit den verschiedenen Schichtungen in einem Eskalationsprozess. Das beginnt bei den Einstellungsmustern in der Bevölkerung zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, geht über zum autoritären Nationalradikalismus der AfD, dann zum systemfeindlichen Milieu, in dem Rechtsextreme und Neonazis agieren, zu den klandestinen rechtsterroristischen Unterstützungsmilieus bis hin zu den Vernichtungstätern. Zwischen diesen Milieus bestehen Legitimationsbrücken. Das Ganze wird zusammengehalten durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit und Gewaltakzeptanz", die mit der Abwertung von Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit (Juden, Migranten, Homosexuelle) einhergehe. "Für diesen Zusammenhang ist nun wichtig, dass jene Teile der Bevölkerung, die solche Einstellungen vertreten, mit dafür verantwortlich sind, dass rechte Bedrohungsallianzen entstehen, denn sie liefern Legitimationen für extremes politisches Verhalten. Auch die rohe Bürgerlichkeit."

Claudius Seidl graut's in der FAZ vor pater- und maternalistischen Tendenzen der Politik im Blick auf Innenstädte. Die veröden wegen des Abzugs des Einzelhandels (in der Coronakrise um so mehr). Grün und Kultur sollen es richten. "Und dann wird die Straße verkehrsberuhigt, begrünt, bepflanzt. Dann wird weniger Lärm sein in der Stadt, weniger Gestank, und allen wird es besser gehen. Und genau das ist der Moment, da man, als Städter, darauf bestehen möchte, dass man nicht wegen der Ruhe und der guten Luft in die Stadt gekommen ist. Und auch nicht wegen der Gemeinschaft. Dass man, im Gegenteil, am städtischen Leben die Freiheit schätzt, keiner Gemeinschaft beitreten zu müssen und sich seine Gesellschaft selbst aussuchen zu können." Besonders arg treibt es übrigens die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, die die Stadt zur Pralinenschachtel für Touristen und die wenigen verbliebenen Bobos umbaut - für Seidl ist das auch kein Weg.

Der umstrittene Psychologe Jordan Peterson ist nach längerer Krankheit genesen und will bei Randomhouse Canada einen Nachfolger seines Bestselllers "12 Rules for Life" unter dem originellen Titel "12 More Rules for Life" vorlegen. Aber Angestellte des Verlags haben so heftig dagegen protestiert, dass sich die Leitung des Hauses genötigt sah, ein großes Meeting zu dem Thema anzusetzen. Manisha Krishnan zitiert bei Vice.com Stimmen von empörten Angestellten: "'Er ist eine Ikone der Hassrede und der Transphobie, und die Tatsache, dass er eine Ikone von 'White Supremacy' ist, macht mich unabhängig vom Inhalt seines Buchs nicht stolz für eine Firma zu arbeiten, die ihn veröffentlicht', sagt ein junger Angestellter, der ein Mitglied der Mitglied der LGBTQ-Community ist und dem Hearing beiwohnte."

Außerdem: In der NZZ amüsiert sich der Kunsthistoriker Jörg Scheller über die Umkehrung der Rollen von Alt und Jung: Heute seien die Jungen vernünftig und glaubten an die Wissenschaft (zum Beispiel in Sachen Klimaschutz), während die Alten die Wissenschaften heute als "Herrschaftsapparate" kritisierten und auch sonst "auf der Klaviatur der Gegenkultur" spielten.
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Kulturpolitik

Das ist mal wieder so eine typische Berliner Lösung: Udo Kittelmann als Leiter der Nationalgalerie sollen gleich drei Nachfolger ersetzen, berichtet Nicola Kuhn im Tagesspiegel. "Fortan sollen eigenständige Direktorinnen und Direktoren für die Alte Nationalgalerie (mit Friedrichswerderscher Kirche), für die Neue Nationalgalerie (mit dem künftigen Museum des 20. Jahrhunderts, dem Museum Berggruen und der Sammlung Scharf-Gerstenberg) und für den Hamburger Bahnhof und damit jeweils für die Kunst des 19., 20. und 21. Jahrhunderts zuständig sein. ... Die Dreiteilung der Spitze ist nun die Lösung, auch auf dem Weg, die Doppelstrukturen bei den Staatlichen Museen abzubauen, wie in der Evaluierung durch den Wissenschaftsrat gefordert." Aha. Außerdem, erfahren wir, tritt Michael Eissenhauer die Direktion von Gemäldegalerie sowie Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst ab, die er neben seinem Job als Generaldirektor der der Staatlichen Museen innehatte.
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