9punkt - Die Debattenrundschau

Der Pfad der Transformation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2020. In der SZ fordert Andrian Kreye eine Aussetzung des Datenschutzes für die Corona-App. Auch Karl Marx hat sich beim Thema Sklaverei keine Meriten erworben, konstatiert die Berliner Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann in der taz. taz, Guardian und Médiapart veröffentlichen einen Brief palästinensischer Intellektueller gegen die Antisemitismusdefinition der "International Holocaust Remembrance Alliance". Richard Herzinger fordert in seinem Blog, dass Deutschland den Holodomor als Genozid anerkennt. Würden in Thüringen nur die in den achtziger Jahren geborenen Ostdeutschen wählen, dann würde wohl Björn Höcke Ministerpräsident werden, fürchtet in der Welt die Autorin Anne Rabe.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.11.2020 finden Sie hier

Geschichte

Deutschland will bisher anders als Australien, Kanada und Portugal den Holodomor nicht als einen Genozid anerkennen - obwohl etwa Anne Applebaum in ihrem Buch "Roter Hunger" deutlich zeigt, dass Stalins Hungermord im größeren Kontext einer allgemeinen Hungersnot speziell auf die Ukraine zielte, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog. Er unsterstützt die Kritik Andrij Melnyks, Botschafter der Ukraine in Berlin, an der deutschen Haltung: "Vorgeschoben erscheint das in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument, Genozid sei ja erst seit der UN-Konvention von 1948 als solcher definiert und die Ereignisse von 1932/33 darunter rechtlich nicht zu fassen. Dann nämlich hätte der Bundestag 2016 seine Resolution nicht verabschieden dürfen, in der er die planmäßige Ermordung der Armenier durch das nationalistische Regime der Türkei 1915 als Völkermord verurteilte."
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Überwachung

Die deutsche Corona-App ist weitgehend nutzlos, weil zu wenige Bürger sie installiert haben und sie aus - vorbildlichen - Datenschutzgründen zu wenige Daten erhebt. Dabei könnte sie in der Pandemie wirklich helfen, Infektionswege zu erkennen, meint der Schriftsteller Thomas Brussig und plädiert im Tagesspiegel für eine Entfesselung der Corona-App: "Was wäre, wenn ich beim Einsteigen in den Bus nicht nur mein Ticket zeigen müsste, sondern auch die App. Sitze ich im Café und die Kellnerin bringt die Karten, bittet sie im typischen Dienstleister-Singsang 'Darf ich dann gleich auch die App sehen?' Auch beim Eintritt in Arztpraxen, öffentliche Gebäude oder an anderen Nadelöhren, bei denen Empfangspersonen beteiligt sind, kann das Vorhandensein der App und der Unbedenklichkeitsstatus kontrolliert werden. Wer seinen Unbedenklichkeitsstatus nicht nachweisen kann (sei es aus Vergesslichkeit, Nachlässigkeit oder Kooperationsverweigerung) wird abgewiesen. Wer hingegen positiv getestet wird, muss dies auch der App mitteilen - oder das Testergebnis wird gleich via App mitgeteilt und zeitgleich mit dem Kontaktnetz synchronisiert. Dank App blieben die Neuinfektionen faktisch in Quarantäne, denn mit Status Rot gibt's nirgends Zutritt. Momentan entzieht sich das Verhalten derjenigen, denen Quarantäne verordnet wurde, jeglicher Kontrolle."

In der SZ sieht Andrian Kreye zwar die Gefahren, die mit einer besser funktionierenden App verknüpft sind, aber: "Nur mit großen Datenmengen kann künstliche Intelligenz wichtige Analysen liefern. Der Datenschutz soll auch nicht abgeschafft werden. Wird er aber sinnvoll für die Seuchenbekämpfung ausgesetzt, wäre das nicht nur ein Schritt zur Rettung aller anderen Bürgerrechte. Es wäre die Gelegenheit, ihn für das pandemische Zeitalter und neue digitale Anwendungen zu aktualisieren. Bevor die Digitalkonzerne Tatsachen schaffen, hinter denen Gesellschaft und Gesetzgeber hinterherhinken. ... Erlaubt man der Exekutive, den Datenschutz für den Kampf gegen Corona auszusetzen, muss der Gesetzgeber dafür sorgen, dass diese Erlaubnis nur für kurze Zeit gilt und die Methoden genau beobachtet und von der Justiz auf Linie gebracht werden. Gleichzeitig muss Datenschutz für alle gelten. Auch für die privaten Unternehmen."

"Der Europäische Rat der EU-Staats- und Regierungschefs hält an seinen Plänen fest, Polizei und Geheimdiensten künftig Zugriff auf jede verschlüsselte Kommunikation von Messengerdiensten möglich zu machen. Das zeigen die aktuellen, im Vergleich zur bisher bekannten Version leicht veränderten Entwürfe der entsprechenden Dokumente des EU-Rates", berichtete Kai Biermann schon vor einigen Tagen auf Zeit online. Vor allem will man in der EU die end-to-end-Verschlüsselung unmöglich machen und die digitale Kommunikation auch den Geheimdiensten zugänglich machen. "Angesichts dessen sagte beispielsweise der Bundesbeauftragte für Datenschutz, Ulrich Kelber: 'Die Nachrichtendienste sollten keine solchen zusätzlichen, massiven Eingriffsmöglichkeiten in die Privatsphäre erhalten. Polizei- und Strafverfolgungsbehörden können verschlüsselte Messenger-Kommunikation bereits mitschneiden. Das Ausmaß der staatlichen Überwachung übersteigt mittlerweile das für eine Demokratie erträgliche Maß.' Fachleute forderten im Bundestag daher gar ein Recht auf Verschlüsselung, weil das Vertrauen in sichere Kommunikation so wichtig für eine Demokratie sei. Doch das sehen die 'zuständigen Behörden' anders. Der nun diskutierte EU-Entwurf zielt darauf ab, den sogenannten full take wieder zu ermöglichen, den vollständigen Zugriff auf jedwede Kommunikation zu jeder Zeit."

Zugleich arbeitet die Bundesregierung an einem neuen BND-Gesetz, das eine Ausweitung der Massenüberwachung vorsieht, berichtet Andre Meister auf netzpolitik: "In Deutschland kann der BND Kommunikations-Anbieter verpflichten, mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten. So müssen zum Beispiel Deutsche Telekom und der Internet-Knoten DE-CIX riesige Datenmengen an den BND leiten. In anderen Ländern kann der deutsche Geheimdienst Anbieter nicht zur Zusammenarbeit verpflichten, freiwillig tun das aber nur wenige. Also überwacht der Geheimdienst Kommunikations-Anbieter auch gegen deren Willen. In Zukunft soll der BND solche Anbieter einfach hacken und die Daten heimlich ausleiten. ... Als Edward Snowden nachwies, dass die Geheimdienste von USA und Großbritannien genau das tun, war das noch ein Skandal. Heute legalisiert die Bundesregierung so etwas einfach."

Die Schufa hätte auch gern mehr Daten von Ihnen: Ihre Kontoauszüge am liebsten, berichtet Serafin Dinges auf netzpolitik.
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Ideen

Auch Karl Marx hat sich beim Thema Sklaverei keine Meriten erworben, legt die Berliner Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann, Autorin des Buchs "Undienlichkeit - Gewaltgeschichte und politische Philosophie", im Gespräch mit Ambros Waibel von der taz dar: Marx sei zwar gut informiert gewesen, aber fand "offensichtlich, dass die Versklavten in den Südstaaten gegenüber den weißen LohnarbeiterInnen in ihrem Kampf um den Achtstunden-Tag zu viel Aufmerksamkeit erhalten. Im 'Kapital' entwickelt er daher Lektüreverfahren, um die Aufmerksamkeitsökonomie zu verschieben. Wenn er zeitgenössische Literatur zur Plantagenökonomie zitiert, fordert er seine LeserInnen auf: 'Lies statt Sklavenhandel Arbeitsmarkt', ersetze 'Sklave auf der Plantage' durch 'weißer Lohnarbeiter' in englischer Fabrik. Er hat das Leid der SklavInnen durch das Leid der ArbeiterInnen überschrieben. Maßgeblich war für Marx der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Davon versprach er sich eine 'totale Revolution', die die gesamte Menschheit befreien werde, während die SklavInnen durch Flucht und Aufstände nur sich selbst befreien würden."


Außerdem: In der FAZ fordert der Philosoph Otfried Höffe in einem Text, der zur philosophiehistorischen Abhandlung gerät, eine neue Ethik des Verzichts.
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Politik

Die äthiopische Journalistin Tsedale Lemma kritisiert in der taz im Gespräch mit Benjamin Breitegger den äthiopischen Regierungschef und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed, der für sie durch seine antiföderalistische Politk den aktuellen Konflikt um Tigray heraufbeschworen hat: "Äthiopien hat eine multinationale, föderale Verfassung. Aber Abiys Buch 'Medemer', in dem er seine Zukunftsvision entwirft, ist das Gegenteil. Der Ministerpräsident bekennt sich immer wieder zur multinationalen Föderation Äthiopien, aber seine Vision des Staatsaufbaus steht dem entgegen. Es gibt keine autonome Region, deren Regionalpräsident nicht von Abiy berufen wurde - außer Tigray. Stellen Sie sich vor, Angela Merkel bestellt den bayerischen Ministerpräsidenten ins Kanzleramt und sagt ihm: Dein Kabinett muss sofort zurücktreten. Es sieht danach aus, dass Abiy eine zentralisierte Regierung will, in der sein Einfluss unbeschränkt ist, und das widerspricht dem äthiopischen Staatswesen, wie es in der Verfassung von 1995 festgelegt wurde."

Jannis Hagmann zitiert in der taz aus einem offenen Brief palästinensischer und arabischer Intellektueller zum Thema Antisemitismus: "Kritisch sehen die Unterzeichnenden vor allem die verbreitete Definition von Antisemitismus der 'International Holocaust Remembrance Alliance' (IHRA). Diese hat sich 2016 eine Arbeitsdefinition zu eigen gemacht, die auch von der Bundesregierung übernommen worden ist. So arbeitet etwa der Verfassungsschutz mit der IHRA-Definition, um Antisemitismus klar zu erkennen. Dafür sei sie jedoch ungenügend, ziele sie doch stark auf israelbezogenen Antisemitismus ab, ohne zu berücksichtigen, dass Israel laut internationalem Recht Besatzungsmacht sei. Kritik an der Besatzung werde damit erschwert und unter Antisemitismusverdacht gestellt."

Ob der Brief auch einen Adressaten hat, erwähnt Hagmann nicht. Der Brief ist in der taz auszugsweise unter obigem Link zu lesen und findet sich auf französisch bei Médiapart und auf englisch im Guardian.
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Europa

Michaela Wiegel, Paris-Korrespondentin der FAZ, kritisiert in der FAS "Macrons Doppelmoral" So sehr sie Macrons internationalen Einsatz für die Meinungsfreiheit nach dem Mord an Samuel Paty begrüßt, so problematisch sei sein neues Pressegesetz nach innen: "Artikel 24 verbietet es, Polizisten bei der Arbeit zu filmen, wenn man ihnen damit 'schaden' will. Das bedeutet, dass Sicherheitskräfte Kameraleute und Fotografen künftig an ihrer Arbeit hindern können, wenn sie der Überzeugung sind, dass ihnen durch die Aufnahmen Schaden entstehen könnte. Entgleisungen von Polizisten könnten auf diese Weise nicht mehr dokumentiert und geahndet werden. Frankreich hat seit langem ein Problem mit gewalttätigen und teils auch rassistischen Übergriffen einzelner Polizisten."
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Gesellschaft

Mit großer Skepsis untersucht Birgit Gärtner in ihrem Blog Frauenstandpunkt all jene Organisationen, die nun von der Bundesregierung in den nächsten Jahren mit über eine Milliarde Euro ausgestattet werden, um ihren Kampf gegen den Rassismus zu unterstützen. Der Begriff des Rassismus schließe etwa den Rechtsextremismus der Grauen Wölfe aus, die wiederum im Zentralrat der Muslime eine wichtige Rolle spielen: "ATIB gilt als mitgliederstärkster Mitgliedsverband des ZMD. (...) Laut Einschätzung der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) ist ATIB einer der drei Dachverbände, die den faschistischen türkischen 'Grauen Wölfen' zugeordnet werden. Diese unterhalten demnach 'gemeinsam ungefähr 300 lokale Vereine und Zweigstellen und lassen mit geschätzt mehr als 18.000 Mitgliedern beispielsweise die NPD weit hinter sich', wobei 'Rassismus einen zentralen Pfeiler der MHP-Ideologie' bildet und dieser 'sich vor allem gegen Armenier, Kurden und Juden' richtet."

Die Spiegel-online-Kolumnistin Ferda Ataman, die mit den "Neuen deutschen Medienmacher*innen" eine maßgebliche Rolle in der antirassistischen Szene spielt, hatte die Milliarde trotz einiger Einschränkungen letzte Woche begrüßt. Vor allem wünscht sie sich das "Demokratiefördergesetz": "Bisher konnten Vereine und Verbände nur kurzfristige 'Modellprojekte' beantragen. Auch wenn sie richtig gute Arbeit gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Homosexuellen- und Transfeindlichkeit und islamistischen Extremismus geleistet haben, liefen ihre Projekte irgendwann aus und konnten formal nicht weiter gefördert werden. Mit dem neuen Gesetz soll diese Arbeit langfristig gesichert werden."

Würden in Thüringen nur die in den 1980er Jahren geborenen Ostdeutschen wählen, dann würde wohl Björn Höcke Ministerpräsident werden, fürchtet in der Welt die Autorin Anne Rabe, selbst 1986 in Wismar geboren, die aus dieser Erkenntnis heraus angefangen hat, "mit Mitschülern und Freunden über unser Aufwachsen in der post-sozialistischen Landschaft der 1990er-und 2000er-Jahre zu sprechen". Immer wieder stößt sie dabei auf Gewalterfahrungen. "Die institutionelle Gewalt und ideologische Grundlage sind belegt. Jugendwerkhöfe, Kinderheime, Kinder- und Jugendsportschulen waren das Hellfeld der staatlichen Kindesmisshandlungen. Die Familien ihr dunkles Hinterland. Die gängige DDR-Erzählung heute aber trennt meist zwischen Alltag und Diktatur. Die Ideologie wird belächelt und ihr Einfluss auf die Bürger wegerzählt. Dabei hatte sich die Erziehung an dem Ziel, die Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten zu formen, auszurichten. Versagten die Eltern oder verweigerten sie sich dieser Aufgabe, griff der Staat ein. Schwer zu glauben, dass dieser Druck vor den Wohnungstüren und Kinderzimmern haltgemacht hätte. Als ich im Stadtarchiv meiner Geburtsstadt, einer mecklenburgischen Kleinstadt, nach den Akten der Jugendhilfe der 1980er-Jahre frage, bekomme ich eine bemerkenswerte Antwort. Man hätte 12.500 Akten in 1037 Kartons, die noch nicht verzeichnet wären. Ich könne im Jahr 2025 noch einmal anfragen."

Alle haben Angst, dass die Alten an Corona sterben, aber wie unwürdig sie oft in Pflegeheimen behandelt werden, interessiert niemanden, glaubt Susanne Gaschke (NZZ), die das als große Heuchelei empfindet: "Wenn es also nicht beim dröhnenden Corona-Pathos bleiben soll, müssen wir dringend darüber reden, wie menschenwürdige Formen des Lebensendes aussehen könnten. Dazu gehört, dass wir uns zu einer ehrlichen Betrachtung der Pflegeheime durchringen. Es ist kein Zufall, dass dort kaum jemand hinwill, der nicht unbedingt muss. ... Der Tod ist für uns eine derartige Zumutung, dass wir heute um jeden Preis verhindern wollen, dass auch nur irgendjemand an Corona stirbt, wenn wir schon das Sterben an sich nicht verhindern können. Das restliche, das fortwährende, das unausweichliche Sterben bleibt, wie Norbert Elias es formuliert hat, hinter den Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verborgen."

Jan Grossarth gehen die Angstpolitik der Fridays-for-Future-Generation und ihre " spätpubertären Steuerungsutopien" zunehmend auf die Nerven. Er empfiehlt ihr in der Welt die Lektüre von Luhmann: "Ohne politische Resonanzräume gibt es keine ökologische, sinnvolle Krisenkommunikation. Auch das sagte schon Luhmann. Gerade deswegen ist es aber nötig, dass auch der Mainstream der Fridays-For-Future-Proteste ihren Selbstanspruch des 'united behind science' reflektiert. Politische Entscheidungen, Industrieaktivität zu sanktionieren, müssen immer auf Folgeabschätzungen beruhen. Durch die Ignoranz dieses Umstandes erfährt ungewollt auch die Ethik, also mühsame Werteabwägung als Basis des demokratischen Ausgleichs, Geringschätzung. ... Im Sinne von Luhmann müsste die relevante Frage also nicht lauten: Wie kommen wir möglichst schnell weg vom CO2? Sondern: Was ist eigentlich die Alternative zu CO2- kurzfristig, mittelfristig, langfristig - technisch, kulturell, zivilisatorisch? Und wie lässt sich der Pfad der Transformation dafür in die Funktionslogik der einzelnen Teilsysteme von Gesellschaft integrieren?"
Archiv: Gesellschaft