9punkt - Die Debattenrundschau

Letztes Bollwerk gegen das Chaos

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2020. In der FR schlagen Claus Leggewie und Patrizia Nanz vor, aus der Paulskirche einen Ort "für aktuelle demokratiepolitische Experimente" zu machen. In der FAZ fordert Bernhard Schlink eine "europäische Dienstpflicht" für Jugendliche. In der Zeit erinnert Adam Krzeminski am Willy Brandts Kniefall vor fünfzig Jahren und erklärt, warum er in Polen zensiert wurde. Die Verhaftung Joshua Wongs steht für die Zerstörung Hongkongs, schreibt Lea Deuber in der SZ. Und laut Emma kann Nasrin Sotoudeh den heute verliehenen "Right Livelihood Award" nicht entgegennehmen: Ihr Hafturlaub läuft aus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.12.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

In Trier hat ein Mann mit seinem riesigen Landrover fünf Menschen gezielt überfahren. Gereon Amuth hat in der taz die richtige Eingebung, mal zu gucken, wie für diese Privatpanzer geworben wird (Video, Vorsicht vor der grauenhaften Musik): "'Jeder Land Rover fühlt sich auf Anhieb in jeder Umgebung zu Hause - auf felsigen Strecken ebenso wie auf eleganten Boulevards.' Es sind Marketingsätze wie dieser, die einem nach der Amokfahrt in Trier im Hals stecken bleiben. Erst recht, wenn im dazugehörigen Werbespot übermotorisierte SUVs eine gigantische Bodenwelle in einer Innenstadt überwinden. 'I'm unstoppable', ruft ein kleiner Junge. 'Ich bin nicht zu stoppen!' Es ist der einzige Satz in dem Video. Er lässt einen schaudern."

Die Journalistin Güner Balci hat die Seiten gewechselt und ist nun Integrationsbeauftragte in Neukölln. Auch ihre Ansichten habe sie geändert und spreche nicht mehr mit Islamkritikerinnen wie Necla Kelek, schreibt Mariam Lau in der Zeit. Stattdessen sage sie "heute Sätze wie: 'Der konservative Islam hat eine absolute Berechtigung, in Deutschland zu sein.' Auch das Wort 'Rassismus' hat man früher in den Reihen der Islamkritikerinnen nicht oft gehört - es war Teil eines 'Opferdiskurses' von Migrantenverbänden, den man sich auf keinen Fall zu eigen machen wollte. Heute ist Balci sicher: 'Der Rassismus ist inzwischen, vor allem durch die AfD, absolut salonfähig geworden.' Einen Film mit Thilo Sarrazin würde sie so heute nicht mehr machen, sagt sie. Stattdessen würde sie ihm sagen: 'Sie sind ein Vollidiot!'"

Die Zeit veröffentlicht einen Aufruf von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die Mohammed-Karikaturen in den Schulen zu thematisieren. "Konflikte der multikulturellen Gesellschaft können nur im zivilen Diskurs überwunden werden, der auf gegenseitiger Achtung und Anerkennung basiert. Dies findet im Lichte des friedlichen Miteinanders als ein hohes Gut einer humanen Gesellschaft statt." Initiiert wurde der Aufruf von Tarek Badawia (Professor für Islam. Religionspädagogik/Religionslehre, Erlangen-Nürnberg) und Markus Tiedemann (Professur für Didaktik der Philosophie und für Ethik, Dresden). Dagegen argumentiert in der Zeit der evangelische Theologe Wolfgang Huber, der allenfalls Kurt Westergaards Karikatur thematisieren will, die zwischen Islam und Islamismus trennt.

Außerdem: Die Wissenschaft weiß, dass es kein Exponentialwachstum bei Pandemien gibt, verschweigt das aber, weil es "politisch nicht passe", behauptet der studierte Physiker und Philosoph Jörg Phil Friedrich in der Welt.
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Vor genau fünfzig Jahren kniete Willy Brandt bei einem Staatsbesuch spontan oder zumindest unangekündigt vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau nieder. Adam Krzeminski erinnert sich daran, wie das Bild davon in Polen manipuliert und zensiert wurde. Man habe gefürchtet, dass Brandt auf die Polen zu sympathisch wirke. "Für die Nationalkommunisten, die 1968 mit einer antisemitischen Kampagne Zigtausende polnische Juden ins Ausland getrieben haben, kniet Willy Brandt zudem an der falschen Stelle. Wenn schon, fauchen die 'Partisanen' um den Innenminister, General Mieczyslaw Moczar, dann hätte er seinen Kopf dem Schwert der Warschauer Nike darbieten müssen, also vor dem Denkmal für die Helden Warschaus im Zweiten Weltkrieg auf die Knie gehen sollen."

"Für Polen, die Gesellschaft der Opfer, sind solche Gesten nach wie vor wichtig, weil sie Befürchtungen entgegenwirken, die Opfer-Täter-Relationen könnten verleugnet werden", schreiben Peter Oliver Loew und Agniezska Lada, Direktor und stellvertretende Direktorin des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt in der Welt. Aber sie betonen auch die Bedeutung des vom Bundestag beschlossenen "Ort des Erinnerns und der Begegnung" in Berlin: Hier "sollen zwei Impulse fruchtbar zusammentreffen: das deutsche Bestreben, vor dem Hintergrund der von Deutschen verschuldeten NS-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg die Versöhnung mit Polen zu untermauern, und das polnische Bestreben, dass Deutschland endlich und vorbehaltlos die immensen Ausmaße polnischen Leids in diesem Krieg anerkennen möge."

Ebenfalls in der Zeit verteidigt Thomas E. Schmidt den Hohenzollern-Prinzen Georg Friedrich, der bekanntlich Entschädigungen für Kunstschätze und andere Güter haben will, die er als seinen Privatbesitz ansieht: "Im Grunde ist der Fall zivil, wieso ist er seit einiger Zeit ein politischer? Man muss Preußen nicht mögen und staunt trotzdem über das Tempo der Feindbildaufrichtung. Vorbei die Zeiten, in denen man sich des Preußischen wohlwollend versicherte, weil es für Aufklärung oder die Herrschaft des Rechtes stand. Nichts davon blieb, nicht mal ein kritisches Preußenbild. Nur noch Empörung, die in einer Art antiborussischer Echokammer tobt."
Archiv: Geschichte

Politik

Der Hongkonger Aktivist Joshua Wong ist zu dreizehneinhalb Monaten Haft verurteilt worden, meldet unter anderem Zeit Online mit dpa und AFP. "Die Behörden haben an Wong ein Exempel statuiert. Er steht aber für Tausende Festgenommene, er steht für die Zerstörung einer Stadt", schreibt Lea Deuber in der SZ: "Das Sicherheitsgesetz bedeutet nicht nur das Ende der Wirtschaftsmetropole, in der Bürger und Unternehmen einst sicher waren vor den Zugriffen und der Willkür des chinesischen Systems, wie es bisher nur in Festlandchina existierte. Sondern das Gesetz ist auch ein Novum, das weit über das chinesische Strafgesetzbuch hinausgeht. So erlaubt es, auch Handlungen außerhalb der Sonderverwaltungszone strafrechtlich zu verfolgen. Bestraft werden können auch Menschen, die keinen Wohnsitz in Hongkong haben. Womöglich nie da waren. Also auch Journalisten, die außerhalb Hongkongs über die Stadt schreiben."

Heute erhält Nasrin Sotoudeh eigentlich den "Right Livelihood Award". Aber sie kann nicht kommen, meldet emma.de. "Aus drei Gründen: Erstens, weil sie von ihrem Hungerstreik geschwächt und an Corona erkrankt ist. Zweitens, weil der Iran die mutige Kämpferin niemals ausreisen lassen würde. Und drittens, weil Nasrin, die zurzeit auf Hafturlaub bei ihrer Familie war, heute wieder ins Gefängnis muss!" Die Preisverleihung ist heute ab 18 Uhr digital zu verfolgen, vor allem aber kann man hier bis zum 11. Dezember gegen 4,50 Euro einen Dokumentarfilm über Sotoudeh sehen.

Amed Sherwan, im irakischen Kurdistan geboren, hat im Alter von 15 Jahren seine Heimat verlassen, nachdem er inhaftiert und gefoltert wurde, weil er nicht an Allah glaubt. Heute kämpft er in Deutschland mit Mohammed-Karikaturen und "Allah-is-gay"-Shirts gegen Islamismus und für Religionsfreiheit, schreibt auf Seite 3 der SZ Christoph Koopmann, dem Sherwan auch erzählt, was ihm widerfuhr, nachdem er seinen Eltern mitteilte, er sei Atheist: "Um 23 Uhr sieht er seine Eltern wegfahren, als sie zurückkommen, haben sie drei Polizisten dabei, der Vater hat sie geholt. Sie nehmen den Jungen mit, im Schlafanzug. Du hast den Propheten beleidigt, sagt einer. (…) Um 23.40 Uhr bringen ihn die Polizisten auf eine Wache, schließen die Tür hinter sich ab. Sie binden seine Beine an den Lauf einer Kalaschnikow, heben ihn in die Luft, und beginnen, mit einem Gummischlauch auf seine Füße und seinen Rücken einzuschlagen. Sie verpassen ihm Elektroschocks. Du glaubst, dass wir vom Affen abstammen, sagen sie, dann tanz für uns, kleines Äffchen. Um zwei Uhr bringen sie Amed Sherwan ins Jugendgefängnis von Erbil. Auch dort prügeln die Wärter auf ihn ein, mit Gürteln und Fäusten. Einer hält ihm eine Pistole an den Kopf."
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Europa

Die französische Polizei ist notorisch überfordert. Emmanuel Macrons neue Pressegesetze, die das Phänomen brutaler Polizisten einfach unter den Tisch kehren sollen, ändern daran auch nichts, meint Michaela Wiegel im Leitartikel der FAZ. Die Polizei ist aber auch ein Prallbock für immer schärfere Differenzen: "Innenminister Gérald Darmanin und andere Law-and-Order-Politiker haben die Polizisten immer wieder ermuntert, sich als letztes Bollwerk gegen das Chaos aufzuführen. Deshalb setzen die Beamten schon bei Personenkontrollen Techniken wie den Würgegriff ein, der früher vielleicht bei Schwerverbrechern angewandt wurde. Auch die jüngste, von einer Überwachungskamera aufgezeichnete Prügelattacke auf den schwarzen Musikproduzenten Michel Zecler in Paris begann mit einer banalen Kontrolle der Maskenpflicht. Umgekehrt sind die Polizisten immer häufiger Opfer von Anfeindungen und tätlichen Übergriffen."

Es gibt einen "Mangel an Disziplin" bei der französischen Polizei, aber auch Beamte, die gegen die Brutalität eintreten, sagt der Politikwissenschaftler Fabien Jobard im SZ-Interview mit Nadia Pantel: "In den Achtzigerjahren gab es eine Polizeigewerkschaft, die sich für Reformen eingesetzt hat. Die Beamten haben sich selbst einen Verhaltenskodex gegeben. Sie haben 1986 schriftlich festgehalten, dass 'jeder Polizist in jeder Situation respektvoll handeln' soll. Heute haben wir zwei konkurrierende Polizeigewerkschaften. Keine dieser beiden Organisationen kann sich erlauben, einen mäßigenden Ton anzuschlagen. Weil ihr dann sofort von der anderen Gewerkschaft vorgeworfen wird, sie unterstütze die Beamten nicht. Das führt zu einer immer weiteren Eskalation der Sprache und der Forderungen. Es gibt von den Gewerkschaften nur noch Vorschläge dazu, wie man die Polizei schützen kann, keine zur Verbesserung ihrer Arbeit. Die Gewerkschaften haben 2017 zum Beispiel durchgesetzt, dass Beamte auch außer Dienst und ohne Uniform ihre Waffe tragen dürfen."

Statt der Wiedereinführung einer Wehrpflicht plädiert Bernhard Schlink in der FAZ für eine "europäische Dienstpflicht", ein Jahr, das Jugendliche abzuleisten hätten: "Ein europäisches Dienstjahr lässt die Dienstleistenden Europa tiefer erleben, ob es im irischen Altenheim, im französischen Museum, an der Roma-Volkshochschule im österreichischen Burgenland, am katholischen Krankenhaus in Italien oder in der griechischen Marine geleistet wird. Manche Dienstpflichtigen werden im Land bleiben und nicht ins Ausland gehen wollen. Aber die hohe Auslandsmobilität deutscher Studenten und Studentinnen lässt eine ähnliche Mobilität jedenfalls der deutschen Dienstleistenden erwarten."
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Urheberrecht

Die Bundesregierung setzt die europäische Urheberrechtsreform in deutsches Recht um - die Lobbys der Verwerterindustrien hatten sich ja  dort weitgehend durchgesetzt. Nun protestieren trotzdem einige Musiker, die darauf beharren, dass auch winzigsten Fünkchen ihres Genies unter Schutz zu stellen seien. Jens Jessen tritt ihnen in der Zeit zur Seite: "Entscheidend für die Bestürzung ist eine scheinbare Bagatellklausel, die geringfügige Zitate - bis zu tausend Zeichen Text, bis zu zwanzig Sekunden Ton - vom Urheberrecht ausnimmt."
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Kulturpolitik

Die Pläne, neben die Paulskirche ein Bürgerforum als "Ort der Demokratie" zu erbauen (Unsere Resümees), nehmen Claus Leggewie und die Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz in der FR zum Anlass, einen Ort für "für aktuelle demokratiepolitische Experimente" zu fordern. Dort sollen sich "zufällig gewählte Bürgerräte treffen, um Zukunftsfragen der Republik zu debattieren". Diese bilden "eine Art vierter Gewalt, eine Konsultative, die einer interessierten politischen Öffentlichkeit zwischen Exekutive, Legislative und Judikative eine ebenso kräftige wie reflexive Stimme verleiht. Sie unterstützt das Beteiligungsbedürfnis vieler Bürgerinnen und Bürger, die hitzigen Bürgerversammlungen nichts abgewinnen können und an Entscheidungen von lokaler, regionaler und auch nationaler und internationaler Reichweite gründlicher mitwirken möchten. ... Ihr Ziel ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Vertiefung und Untermauerung der Demokratie durch den Bürgerverstand, den man erfahrungsgemäß nicht als so laienhaft abtun kann, wie dies betriebsblinde Vertreter der drei etablierten Gewalten gelegentlich tun."
Archiv: Kulturpolitik