9punkt - Die Debattenrundschau

Geradezu groteske Interessenkonflikte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2020. Wie genau wird eine Stadt zur "Europäischen Kulturhauptstadt" erklärt? Durch ein "internationales Friends-and-Family-Netzwerk", das ähnlich wie die Fifa agiert, hat die SZ herausgefunden. Charlie Hebdo setzt seine Berichte über den Prozess zu den Massakern von 2015 fort: Warum starb die Polizistin Clarissa Jean-Philippe? Auch im Walter-Lübcke-Prozess wird um die Wahrheit gerungen, berichtet die taz. Die FAZ fragt im Wirtschaftsteil: Wie ungemütlich wird ein möglicher Boykott der Olympischen Winterspiele in China 2022 für die deutsche Wirtschaft? Viel diskutiert wird nach dem Debakel in Sachsen-Anhalt um Rundfunkpolitik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.12.2020 finden Sie hier

Europa

Der Charlie-Hebdo-Prozess ist nach der Unterbrechung wegen der Corona-Erkrankung eines Angeklagten wieder aufgenommen worden. Yannick Haenel schreibt über die Polizistin Clarissa Jean-Philippe, die von Amedy Coulibaly in der Banlieue durch einen Schuss in den Rücken ermordet wurde. Diesem Mord fehlte der Zusammenhang mit dem Charlie-Hebdo-Massaker einerseits und den Morden in einem jüdischen Supermarkt andererseits. Haenel folgt der Argumentation des Anwalts Victor Zagury, dass Coulibaly in Montrouge eigentlich ein jüdisches Gemeindezentrum und eine jüdische Schule angreifen wollte - durch die Präsenz der Polizistin wurde er gehindert, und er attackierte am nächsten Tag den jüdischen Supermarkt. "Dass es einen Plan gab, eine jüdische Schule anzugreifen ist also keine 'Hypothese', er wurde von den Ordnungskräften und der Regierung versteckt, vielleicht weil man einen Aufstand in der Gemeinde fürchtete, und übrigens ist es auch möglich, dass die Ermittler gar nicht auf die Idee gekommen sind. In diesem Prozess festzuhalten, dass Coulibaly in Montrouge Juden ermorden wollte, gibt dem Tod Clarissa Jean-Philippes, der Polizistin aus Martinique einen Sinn, stellt ihn in den Kontext einer 'kollektiven Geschichte', stellt ihre Würde wieder her. Dieser Prozess hat sehr wohl einen Sinn."

Auch im Prozess um den Mord an Walter Lübcke geht es um die Wahrheit - nämlich um die Frage, ob Stephan E. den Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke allein erschossen hatte, oder ob der mögliche Mittäter Markus H. dabei war. Das Gericht hat Markus H. aus der Untersuchungshaft entlassen, schreibt Konrad Litschko in der taz. "Die Familie Lübcke aber sieht das genau anders. Für sie waren beide Männer am Tatort, der Mord eine gemeinschaftliche Tat. Irmgard Braun-Lübcke hatte Stephan E. deshalb vor zwei Wochen erneut gebeten, 'die volle Wahrheit' zu sagen. Und sie attackierte über ihren Anwalt Holger Matt das Gericht. Matt warf diesem via Spiegel 'auffallende Freundlichkeit' gegenüber Markus H. vor. Weitere Aufklärung sei offenbar 'nicht gewünscht'. Richter Thomas Sagebiel sprach von einem 'ungeheuerlichen Vorgang'. Die Nebenklage versuche den Senat unter Druck zu setzen."

So groß ist die Not in der Türkei, dass von Tayyip Erdogan plötzlich EU-freundliche Worte zu hören waren: "Wir sehen uns nicht andernorts, sondern in Europa, wir stellen uns vor, unsere Zukunft mit Europa zu bauen." Bülent Mumay zeigt sich in seiner FAZ-Kolumne nicht überrascht: "Touristen wie ausländische Investitionen kamen zum größten Teil aus dem Westen. Die Hinwendung zu Russland und China hatte in wirtschaftlicher Hinsicht keinen nennenswerten Nutzen. Der neue Vorstoß nun sollte Europa wieder betören, da sich die Wirtschaftskrise verschärft. Dabei hatte Erdogan Europa noch vor wenigen Jahren als 'Kreuzritter' verdammt."

Der die PiS-Partei im europäischen Parlament vertretende polnische Soziologe Zdzisław Krasnodębski schrieb kürzlich in der Welt, die polnische Regierung seien die "Konservativen, die nicht kapituliert haben", während die Europäische Kommission wie eine "zentrale Plankommission" handele. Einen "Generalangriff gegen das Konzept der europäischen Demokratie" nennt Sergey Lagodinsky, deutscher Abgeordneter der Grünen im Europäischen Parlament Krasnodebskis Vorwurf nun und antwortet ebenfalls in der Welt: "Grotesk" sei, dass die polnische Regierungspartei sich als die letzten Konservativen Europas geriert. Diese Unterstellung ist brandgefährlich, denn sie unterminiert den wichtigsten demokratischen Konsens: Grundrechte und Rechtsstaat sind weder links noch rechts. Bei der Verteidigung demokratischer Strukturen geht es nicht um bestimmte politische Inhalte, sondern um Strukturen und Rechtspositionen, die auch glühenden Konservativen wichtig sind. Diese Strukturen versucht die regierende Partei in Polen abzubauen und insbesondere die Gewaltenteilung aufzuheben."
Archiv: Europa

Gesellschaft

In der SZ liebäugelt der Medizinethiker Wolfram Henn, Mitglied des Ethikrats, mit einer berufsspezifischen Impfpflicht und Zugangsbeschränkungen für Nicht-Geimpfte, etwa in Flugzeugen: "Darf oder soll es eine arbeitsvertraglich festgelegte Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen mit hohem Expositions- und Weiterverbreitungsrisiko geben, namentlich für medizinisches Personal etwa in der Intensivmedizin oder in Pflegeeinrichtungen? Ethisch hielte ich es für gut begründbar, wenn Ärztinnen oder Krankenpflegern, die im Rahmen ihrer eigenen freien Berufswahl besondere Verantwortung für Kranke und Schwache übernommen haben, von ihrem Klinikträger abverlangt würde, die ihnen anvertrauten Menschen mit dem geringen Aufwand einer Impfung bestmöglich vor einer Einschleppung des Virus zu schützen. Allerdings könnte eine Ausweitung solcher Risiko-Berufsgruppen, etwa auch auf Personal in Bildungseinrichtungen oder im Verkehrswesen, dann doch zu einer Aushöhlung des 'Rechtes auf Nicht-Geimpftwerden' führen."

Im Dlf-Interview mit Lennart Pyritz fordert die Infektiologin Marylyn Addo vor allem transparente Kommunikation: "Was sind die Ergebnisse der Studien, die jetzt durchgeführt wurden. Auf welcher Datenlage beruht die Zulassung. Was für Nebenwirkungen sind zu erwarten. Wie wird sichergestellt, dass auch im weiteren Verlauf die sicherheitsrelevanten Daten erhoben werden, auch nach einer Notfall- oder konditionalen Zulassung."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Die in Venezuela stattfindenden Parlamentswahlen sind eine Farce. Die Opposition tritt nicht an und ist zerstört, die Bürger denken nur noch daran, wo sie Essen oder Benzin besorgen sollen, Nicolas Maduro sitzt fest im Sattel. Der Journalist Andrés Cañizalez erklärt im Interview mit Hildegard Willer von der taz, welche Bedeutung die Wahlen so überhaupt noch haben: "Ich denke, die Regierung möchte das Parlament kontrollieren, auch wenn es nur eine hohle Schale sein wird. Sie vernichtet damit die letzte Bastion der Opposition. Wahrscheinlich gibt es auch einen praktischen Grund: Die befreundeten Länder China, Russland und Türkei können Venezuela dann wieder Kredite geben. Denn laut venezolanischer Verfassung muss jede Staatsverschuldung vom Parlament abgesegnet werden." Über Depression und Korruption in Peru schreibt ebenfalls in der taz Knut Henkel.

Ziemlich interessant ist der Aufmacher im heutigen Wirtschaftsteil der FAZ. Es gibt immer stärkere Bestrebungen, die in Peking geplanten Olympischen Winterspiele 2022 wegen der Unterdrückung der Uiguren zu boykottieren, heißt es in dem (nicht gezeichneten) Artikel. Und diese Unterdrückung der Uiguren "ist von Forschern, Medien und Menschenrechtlern breit dokumentiert und könnte das Ansehen von 'Topsponsoren' wie dem Allianz-Konzern beschädigen, der für die Präsentation seines Logos bei den Spielen laut Schätzungen 50 Millionen Euro im Jahr zahlen könnte. Doch einflussreiche EU-Politiker wollen nichts mehr ausschließen. 'Ein Olympia-Boykott muss jetzt als mögliche Sanktion auf den Tisch', sagt die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Nicola Beer, im Gespräch mit der FAZ."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Die Freude der Chemnitzer über die Wahl zur Kulturhauptstadt 2025 kann Uwe Ritzer in der SZ nicht teilen, denn die Umstände der Wahl, die von einer international besetzten Jury entschieden wird, sind äußerst "fragwürdig", schreibt er: "Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung agiert dabei bis in die Jury hinein ein internationales Friends-and-Family-Netzwerk, dessen Machenschaften an Organisationen wie IOC oder Fifa erinnern. Auffallend oft sind dieselben Experten, Berater und Kulturmanager am Werk; in wechselnden Rollen, Funktionen und Konstellationen. Sie spielen sich geschickt die Bälle zu und verdienen gut daran. Was in sauber geführten Unternehmen compliancemäßig undenkbar wäre, praktiziert die Kulturhauptstadt-Szene schmerzfrei. Dabei kommt es zu geradezu grotesken Interessenkonflikten. So arbeiteten im Wettbewerb 2025 einige Berater gleich für mehrere konkurrierende deutsche Städte. Als würde ein Fußballtrainer mehrere Bundesligamannschaften gleichzeitig coachen."
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Die CDU in Sachsen-Anhalt droht gemeinsam mit der AfD gegen die Erhöhung der Rundfunkgebühren zu stimmen. (Unser Resümee) "Die Zukunft des Rundfunkbeitrags wird (…) nicht in Sachsen-Anhalt, sondern vom Bundesverfassungsgericht entschieden. Denn es ist klar, dass die Sendeanstalten bei einer Ablehnung der Erhöhung umgehend Klage einreichen werden. Die Karlsruher Richter haben den Beitrag bei früheren Klagen bisher immer bestätigt und damit ihre schützende Hand über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehalten", schreibt Christian Meier in der Welt.

"Die Rundfunkpolitik hat es wieder einmal nicht geschafft, Maß und Mitte für diesen Rundfunk zu definieren. Das teuerste Rundfunksystem der Welt soll wieder teurer werden", meint Joachim Huber im Tagesspiegel: "Rundfunkpolitik mit den Stimmen der AfD zu machen, ist ein Desaster. Weil es eben keine vorausschauende, zielführende Politik ist, dafür eine destruktive. Die 86 Cent zu verweigern, ist keine Heldentat von Asterix und Obelix, sondern das Versagen eigener Anstrengung, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk sparsam und effizient zu arbeiten hat." Auf Zeit Online sekundiert Daniel Bouhs: "Selbst wenn die Sender am Ende ihre Beitragserhöhung bekommen sollten: Der Widerstand der CDU in Sachsen-Anhalt dürfte die deutsche Medienpolitik prägen und den Reformdruck erhöhen."

Dass der Widerspruch aus Sachsen-Anhalt kommt, wundert Jens Schneider in der SZ nicht: Es "fehlen prominente Medien in und aus diesen Ländern. Manche Regionen sind im Grunde ohne bedeutende Regionalzeitungen, die Sender haben sich zu lange eher für Unterhaltung zuständig gefühlt und sind keine dominante Stimme geworden. Es gibt inzwischen respektable Bemühungen, aber gerade das überregionale Bild wird oft bestimmt von einem befremdeten Blick aus der Ferne."

Deutsche Zeitungen sollen in den nächsten Jahren 220 Millionen Euro bekommen, um die Digitalisierung zu bewältigen. Nun legt auch die EU einen Plan vor, um Medien zu unterstützen, meldet die FAZ. Auch hier scheint es um den SchutZ der traditionellen Player zu gehen: "Nach Einschätzung der EU-Kommission könnte die 'strategische Autonomie des audiovisuellen und Mediensektors der EU' gefährdet sein, weil 'Online-Plattformen von Betreibern außerhalb der EU große Marktanteile' gewönnen." Hier das Papier der EU-Kommission.
Archiv: Medien