9punkt - Die Debattenrundschau

Dieses Heilsgeschehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2020. Klimawandel, Corona und islamistische Gewalt werden in Nordostnigeria zu einer einzigen Katastrophe, fürchtet die taz. Hat das iranische Regime erst die Bombe, ist der Schritt zur ersehnten Apokalypse nicht mehr weit, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog. Die FAZ blickt auf das Coronajahr aus der Perspektive der Buchbranche - und am Ende ist es gar nicht so schlecht gelaufen. Im Charlie-Hebdo-Prozess haben die Anwälte der Nebenkläger ihre Plädoyers gehalten, über die Yannick Haenel in seiner Charlie-Kolumne berichtet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.12.2020 finden Sie hier

Europa

Am 47. Verhandlungstag im Charlie-Hebdo-Prozess haben die Anwälte der Nebenkläger ihre Plädoyers gehalten, über die Yannick Haenel in seiner Charlie-Kolumne berichtet: "Es gab etwas sehr Gewaltsames in den Plädoyers gestern, als ob die Nebenkläger in ihrer Entmutigung durch die Lügen der Angeklagten, die sich ihrer Wahrheit in den Monates des Prozesses nicht zu konfrontieren vermochten, deren Schuld noch einmal neu benennen und ihre Frustration artikulieren mussten, die auch das Publikum des Prozesses ergriffen hatte. Es hatte etwas von einer neuen Anklage."
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Gesellschaft

Sind Waldorfschulen Corona-Hotspots? Paul Wrusch zitiert in der taz eine Menge Beispiele von Waldorfschulen in Deutschland, die sich nur widerwillig an die Regeln halten und von Lehrern, die überzeugt sind, dass das Virus einem gesunden Immunsystem nichts ausmacht. "Es gibt etwa 250 Waldorfschulen in Deutschland mit knapp 90.000 SchülerInnen. Jede von ihnen ist autonom, hat individuelle Konzepte und wird durch kollegiale Selbstverwaltung geleitet. Allgemeingültige Aussagen lassen sich deshalb kaum treffen. 'Erziehung zur Freiheit' lautet das Motto der Waldorfpädagogik. Da die Freiheit derzeit eingeschränkt ist, wundert es nicht, dass es im Waldorfumfeld heftige Auseinandersetzungen gibt. Auf Demos gegen die staatlichen Maßnahmen sind neben Rechtsextremen auch viele Esoteriker und Menschen aus der Anthroposophen- und Waldorfszene dabei."

Ein sehr ausführliches Gspräch über Anthroposophie und Antisemitismus führt Andreas Lichte bei hpd.de mit dem Religionsphilosophen und Anthroposophie-Experten Ansgar Martins.

Viel geklagt wird, dass Frauen in Unternehmen und Hierarchien oft nicht den gleichen Status erreichen wie Männer. Die ehemalige CDU-Familienministerin Kristina Schröder fragt in der Welt, ob das an den Frauen liegt, die sich "relativ hartnäckig so verhalten, als ob sie das gar nicht wollten. Marxistisch ausgedrückt haben sie das falsche Bewusstsein. Sie wählen immer noch sehr häufig das falsche Studienfach, den falschen Ehemann und die falsche Steuerklasse. Und nach der Geburt des ersten Kindes begehen sie dann die entscheidende Sünde: Sie scheiden eine Zeit lang ganz aus dem Beruf aus, länger als ihr Mann, und kehren danach oft mit weniger Arbeitszeit zurück. Natürlich nicht alle Frauen. Aber bei tausend zufällig ausgewählten Männern und tausend zufällig ausgewählten Frauen wird sich diese Tendenz sehr klar zeigen."
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Medien

Der Springer-Verleger und Vorsitzende des Verbandes der Zeitungsverleger Mathias Döpfner schimpft im Gespräch mit Michael Hanfeld in der FAZ auf den Entwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform. Sinnvoller Weise sollen kürzere Zitate nach diesem Entwurf schlicht erlaubt sein, was Richtern, die sonst in Streitfällen die künstlerische Relevanz dieser Zitate begutachten müssen, viel Arbeit ersparen würde. Aber Döpfner will das nicht zulassen, und ist sich sicher, dass die Politik pariert: "Ich gehe davon aus, dass es sehr schnell Klagen aus Brüssel geben würde, wenn das so umgesetzt würde. Ich glaube aber, dass die Bundesregierung die Kritik ernst nimmt." Döpfner erklärt, dass Springer anders als die FAZ (worüber sich Hanfeld sicher ärgert) kein Geld von der "Google News Initiative" und dem "Google News Showcase" nehmen wird. Von den geplanten 220 Millionen Euro Subventionen für deutsche Anzeigenblätter und andere Printprodukte, die die Bundesregierung im Jahr vor der Wahl in Aussicht stellt (unsere Resümees), ist in dem Gespräch nicht die Rede.
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Kulturmarkt

Jan Wiele blickt in der FAZ auf das Corona-Jahr aus der Perspektive der Buchbranche zurück und hat mit einigen Verlegern gesprochen. Der erste Lockdown sei eine Katastrophe gewesen, sagt etwa Wolfgang Hörner von Galiani: "Allerdings erwartet Hörner für das gesamte, 'wirklich anstrengende Jahr' überraschenderweise ein ähnliches Ergebnis wie im Vorjahr, denn der Verlag habe 'gerade eine ziemliche Aufholjagd' hingelegt. Anderen Häusern ging es ähnlich. Andreas Rötzer, Verleger bei Matthes & Seitz, sagt: 'Wir fielen im März und April in ein Loch mit knapp unter sechzig Prozent unseres normalen Umsatzes. Aber davon haben wir uns sehr schnell wieder erholt.' Wichtig war die Zeit nach dem ersten Shutdown, denn im Sommer habe der Verlag eine Art Weihnachtsgeschäft gemacht, so dass er schnell wieder auf dem Niveau des Vorjahres angekommen sei."
Archiv: Kulturmarkt

Politik

Boko Haram hat in Nordostnigeria vor einigen Tagen das blutigste Massaker seit Jahren begangen (unser Resümee). Katrin Gänsler und Dominic Johnson bilanzieren in der taz: "76 Tote, vielleicht 110 oder noch mehr Vermisste. 'Einige Opfer waren geköpft und ihre Köpfe standen auf ihren Körpern', berichtete ein Überlebender." In der Region in der Nähe des Tschadsees verdichten sich Klimawandel, Corona und islamistische Gewalt zu einer einzigen Katastrophe, so die Autoren; "Die Reisfelder von Jere sind ein Prestigeprojekt, das beweisen soll, dass Maiduguris Umland wieder sicher ist und dass es genug zu essen gibt. Aus über tausend Kilometer Entfernung kommen Bauern, um hier zu arbeiten. Dieses Jahr war das besonders wichtig: Seit dem fünfwöchigen Coronalockdown im Frühjahr sind in Nigeria Lebensmittel knapp und teuer. Im September gab es schwere Regenfälle und Überschwemmungen, viele Bauern haben die bevorstehende Ernte verloren. Die Reisbauern in Jere fielen nun Boko Haram zum Opfer, deren Führung sich zu dem Massaker bekannte."

Dass iranische Regime arbeitet nach wie vor an einer Atombombe, insistiert Richard Herzinger in seinem Blog. Das es sich von Abschreckung disziplinieren lässt, wenn es erst mal in ihrem Besitz ist, hält er dagegen für nicht so sicher: "Denn die Führung der Islamischen Republik lebt in einer apokalyptischen Wahnwelt, derzufolge wir unmittelbar vor der großen endzeitlichen Schlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen stehen. Inmitten von Krieg und Chaos soll dann der verschollene 12. Imam, der Mahdi, als Messias zurückkehren, um Allahs ewiges Reich des Friedens auf Erden zu errichten. Man muss also davon ausgehen, dass das Mullah-Regime bereit sein würde, diesem Heilsgeschehen durch die Auslösung eines Nuklearkriegs ein wenig nachzuhelfen, wäre es im Besitz der Mittel dafür."
Archiv: Politik

Ideen

Der große tschechische Publizist und Intellektuelle Antonin Liehm, einer der Urheber der "Mitteleuropa"-Debatte kurz vor dem Mauerfall,  ist im Alter von 96 Jahren gestorben, meldet lidovky.cz. Liehm war der Gründer der Lettre Internationale, deren deutscher und einzig überlebender Ableger Lettre International heißt. Auf der Website der Lettre steht ein kleiner Nachruf: "Er hat unendlich viel dafür getan, die verdrängte politische und kulturelle Wirklichkeit östlich des Eisernen Vorhangs in Westeuropa erneut ins Licht zu rücken, und wesentlich dazu beigetragen, die Wahrnehmung und Verständigung zwischen dem Osten und dem Westen Europas zu verlebendigen und zu vertiefen."
Archiv: Ideen